Vergeltung


Jimmy zuckte zusammen und erwachte.

Jemand war vorübergegangen. Jimmy hatte wie die anderen tagsüber geschlafen, um die Nacht abzuwarten, bevor er sich in dem schwarzen Gebäude umsah.

Unwillkürlich schauderte er. Den ganzen Tag hatten ihn Träume verfolgt, Träume mit unerklärlichen, beunruhigenden Bildern. Aber es waren keine richtigen Alpträume gewesen, sondern eher Träume, die seltsame Sehnsüchte und Verlangen geweckt hatten. Ihm schien, als habe er die Träume eines anderen geträumt.

Er schüttelte dieses merkwürdige Gefühl ab und warf einen Blick auf die anderen, die schliefen, außer Baru, der zu meditieren schien.

Er saß mit verschränkten Beinen aufrecht, die Hände auf den Schenkeln ruhend, die Augen geschlossen, und atmete gleichmäßig.

Aus einiger Entfernung hörte er plötzlich: ».. .irgendwo hier sein.«

»Wenn er so dumm war, daß er hineingegangen ist, ist es seine eigene Schuld«, sagte eine zweite Stimme mit seltsamem Klang.

»Ich suche nach ihm jedenfalls nicht im Haus«, sagte nun eine weitere Stimme. »Nicht, nachdem man uns warnte, es ja nicht zu betreten!«

»Reitz befahl aber, Jaccon zu suchen. Und du weißt, wie er über Fahnenflucht denkt! Wenn wir Jaccon nicht finden, läßt er seine Wut bestimmt an uns aus!« gab der zu bedenken, den Jimmy als ersten gehört hatte.

»Reitz hat nichts zu sagen!« erklärte der Moredhel. »Murad hat das Betreten des schwarzen Gebäudes verboten. Wollt ihr euch lieber seinen Grimm zuziehen und es mit den Schwarzen Kämpfern zu tun kriegen?«

»Nein«, entgegnete die Stimme des ersten. »Aber laß dir lieber was einfallen, was wir Reitz sagen können. Ich weiß…«

Die Stimmen wurden leiser. Jimmy wartete, bis sie nicht mehr zu hören waren, dann wagte er einen schnellen Blick aus dem Spalt.

Zwei Menschen und ein Moredhel gingen auf die Brücke zu, einer der Menschen gestikulierte wild. An der Brücke blieben sie stehen, sprachen dort mit Murad und deuteten auf das Haus. Auf der anderen Seite der Brücke wartete eine ganze Kompanie Reiter auf die vier, die nun die Brücke überquerten.

Jimmy ließ sich in die Höhle hinab. Er weckte Arutha. »Wir haben oben Besuch«, flüsterte er. Dann senkte er seine Stimme noch mehr, damit Baru ihn nicht hören konnte, und fuhr fort: »Euer alter, narbengesichtiger Freund ist dabei.«

»Wie lange noch bis Sonnenuntergang?«

»Nicht ganz eine Stunde, vielleicht noch zwei, bis es völlig dunkel ist.«

Arutha nickte und machte es sich wieder bequem, um weiter zu warten. Jimmy wühlte in seinem Beutel nach Dörrfleisch. Sein knurrender Magen erinnerte ihn, daß er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, und er sagte sich, wenn er in der Nacht sterben mußte, dann konnte er es genausogut mit vollem Magen.

Die Zeit verging unendlich langsam, und Jimmy fiel auf, daß die düstere Stimmung eines jeden der Gefährten über die Anspannung hinausging, die in ihrer Lage natürlich gewesen wäre. Martin und Laurie saßen in tiefem, grübelndem Schweigen; Aruthas Nerven schienen zum Zerreißen gespannt zu sein; Baru murmelte in sich versunken Gebete; und Roald stierte auf eine Wand. Jimmy selbst glaubte verschwommene Bilder seltsamer, eigenartig gewandeter Menschen zu sehen, die merkwürdigen Geschäften nachgingen.

Kopfschüttelnd verdrängte er sie.

Gerade laut und fest genug, um alle auf sich aufmerksam zu machen, sagte er: »He! Ihr seht alle irgendwie – verloren aus!«

Blinzelnd blickte Martin zu ihm hoch. »Ich – ich dachte an Vater.«

»Es muß an diesem Ort hier liegen«, sagte Arutha leise. »Ich hatte alle Hoffnung fast aufgegeben.«

Roald schüttelte sich. »Ich war wieder im Schnitterpaß, nur daß diesmal die Verstärkung von Hohenburg nicht rechtzeitig einschritt.«

»Ich sang – meine Todesklage«, gestand Baru.

Heftig stand Laurie auf und trat neben Jimmy. »Ja, es ist dieser verfluchte Ort. Ich bildete mir ein, Carline hätte sich während meiner Abwesenheit in einen anderen verliebt.« Fragend schaute er den Jungen an. »Und du?«

»Mich traf es auf andere Weise, vielleicht liegt das an meinem Alter. Ich sah fremdartige Leute in verrückter Kleidung. Und irgendwie reizte mich das, weckte Wut in mir.«

Martin erinnerte sich: »Die Elben sagten, die Moredhel kämen hierher, um sich Träumen der Macht hinzugeben.«

»Na ja, ich kann nur sagen, ihr saht alle wie diese wandelnden Toten aus.« Jimmy schüttelte sich und ging zum Spalt. »Es ist dunkel. Ich werde mich mal umschauen, und wenn alles still ist, können wir alle hinausklettern.«

Arutha stand auf. »Ich glaube, ich sollte dich begleiten.«

»Nein«, widersprach der Junge. »Versteht es bitte nicht falsch, aber wenn ich schon mein Leben aufs Spiel setze, indem ich etwas tue, wozu mich lange Erfahrung befähigt, dann möchte ich mich nicht durch einen Neuling in Gefahr bringen.«

»Aber es ist sehr gefährlich!« gab Arutha zu bedenken.

»Eben deshalb«, entgegnete Jimmy. »Diesen Drachenherrenschrein zu knacken, dazu gehört ganz besondere Geschicklichkeit und, wie schon gesagt, Erfahrung. Seid vernünftig und laßt mich allein gehen, sonst seid Ihr am Ende tot, ehe ich auch bloß sagen kann: ›Steigt nicht auf diese Fliese, Hoheit!‹ Dann hätten wir die ganze Mühe nämlich überhaupt nicht auf uns zu nehmen brauchen, sondern in Krondor bleiben und Euch von den Nachtgreifern aufspießen lassen können; und ich hätte viel angenehmere Nächte in Eurer Stadt verbracht.«

»Er hat recht«, warf Martin ein.

Arutha gestand: »Es gefällt mir zwar nicht, aber ich muß auch zugeben, daß du recht hast, Jimmy.« Als der Junge sich zum Gehen wandte, fügte der Fürst hinzu: »Habe ich schon einmal gesagt, daß du mich manchmal an diesen Piraten Amos Trask erinnerst?«

Im Dunkeln ahnten sie des Jungen Grinsen mehr, als daß sie es sahen.

Jimmy kletterte den Spalt hoch und spähte um sich. Niemand war zu sehen, so lief er zu dem Gebäude hinüber. Dicht an die Wand gepreßt, bog er um die Ecke zur Tür. Dort blieb er stehen und überlegte, wie sich das Problem am besten angehen ließ. Wieder betrachtete er die Tür, dann kletterte er neben ihr hoch, wo er in der Wand Halt für Finger und Zehen fand. Auch diesmal schaute er eingehend durch das Fenster auf den Vorraum hinunter. Die Flügeltür stand offen und führte in Dunkelheit, ansonsten war der Raum leer. Jimmy schaute nach oben zur glatten Decke.

Was erwartete ihn im Innern? So sicher, wie ein Hund Flöhe hatte, erwartete ihn eine Falle im Haus. Doch welcher Art war sie? Und wie konnte er ihr entgehen? Wieder verspürte er dieses Kribbeln, das ihm sagte, etwas an diesem Gebäude sei nicht geheuer.

Er ließ sich die Wand wieder hinunter und atmete tief ein. Er hob den Riegel, schob die Tür auf und sprang nach links, damit die aufschwingende Tür, die ihre Angeln rechts hatte, ihn zunächst vor etwas, das hinter ihr sein mochte, schützte. Nichts geschah.

Vorsichtig spähte er ins Haus und strengte die Sinne an, um Unstimmigkeiten im Bodenmuster, der Raumeinteilung oder sonstige Hinweise auf eine mögliche Falle zu entdecken. Er fand nichts. Nun lehnte er sich an die Tür. Was sollte er tun, wenn die Falle magischer Art war? Er hatte keinen Schutz gegen Zauber, der dazu bestimmt war, Menschen zu töten oder Moredhel, oder jemanden, der Grün trug, oder was immer es sein mochte. Er streckte die Hand durch die Türöffnung, bereit, sie sofort wieder zurückzuziehen. Wieder geschah nichts.

Jimmy legte sich auf den Boden nieder, und er hoffte, ihm würde jetzt etwas auffallen. Aber erst, als er wieder aufstand, bemerkte er etwas. Der – Boden bestand aus Marmorfliesen gleicher Größe und Beschaffenheit, durch schmale Fugen voneinander getrennt.

Behutsam setzte er einen Fuß auf die Fliese direkt vor der Tür, dann drückte er allmählich fester auf, bis sein ganzes Gewicht auf ihr ruhte. Nichts geschah.

Jetzt erst wagte er einzutreten und wandte sich der Flügeltür am hinteren Ende der Vorhalle zu. Er untersuchte jede Fliese, bevor er darauf trat, studierte die Wände und Decke. Doch da war nichts, was ihm hätte weiterhelfen können. Aber da war dieses alte vertraute Kribbeln, daß etwas hier nicht stimmte.

Seufzend trat er durch die offene Flügeltür und begab sich tiefer in das Gebäude.

 

In seinem früheren Gewerbe hatte Jimmy schon viele schlimme Burschen erlebt. Jaccon hätte großartig zu ihnen gepaßt! Jimmy kauerte sich auf den Boden und drehte die Leiche auf den Rücken.

Als ihr Gewicht sich dabei auf die Fliese vor der Tür verlagerte, war ein leises Schnappen zu hören, und etwas schoß herab. Er untersuchte den Toten und fand einen Bolzen, der in der Brust steckte. Jimmy berührte ihn nicht, er wußte auch so, daß er in ein schnell wirkendes Gift getaucht worden war. Aber da war noch etwas anderes an Jaccon, was ihn interessierte, ein geschmiedeter Dolch mit edelsteinbesetztem Griff. Er zog ihn aus des Mannes Gürtel und schob ihn unter seinen Kittel.

Dann richtete sich Jimmy wieder auf. Er war durch einen langen Gang in ein Untergeschoß gelangt. Er schätzte, daß er sich jetzt knapp dreihundert Fuß von den Höhlen befand, in denen Arutha und die anderen warteten. Auf die Leiche war er an der einzigen Tür am Ende des Korridors gestoßen. Die Fliese unmittelbar dahinter war eine winzige Spur tiefer als die übrigen.

Er ging vorsichtig auf die Fliese neben der Tür zu. Die Falle war so offensichtlich, daß sie nach Vorsicht geradezu schrie. Nur dieser Dummkopf in seiner Gier, hier an sagenhafte Schätze zu gelangen, hatte sie nicht beachtet – und den Preis bezahlt.

Wieder spürte Jimmy dieses Kribbeln. Ja, die Falle, war zu offensichtlich! Als beabsichtige derjenige, der sie aufgestellt hatte, daß man sich sicher fühlte, nachdem man sie erkannt und umgangen hatte! Jimmy schüttelte den Kopf. Nun war er ganz der erfahrene Einbrecher, der sehr wohl wußte, daß jeder falsche Schritt auch sein letzter sein konnte.

Er wünschte, er hätte etwas mehr Licht als das schwache der Fackel, die er mitgenommen hatte. Er betrachtete den Boden vor Jaccon und entdeckte eine weitere, etwas tiefere Fliese. Vorsichtig tastete er am Türrahmen entlang, fand jedoch keinerlei Auslöser.

Nun erst stieg er über die Schwelle, vermied dabei jedoch die Fliesen vor der Tür. An dem Toten vorbei machte er sich weiter auf den Weg ins Innere.

 

Vor ihm öffnete sich ein runder Raum. In seiner Mitte erhob sich ein schlanker Sockel, und darauf ruhte eine Kristallkugel, die von einer unsichtbaren Lichtquelle beleuchtet wurde. So war ganz deutlich zu erkennen, was sie enthielt: einen Zweig mit silbergrünen Blättern, roten Beeren und silbrigen Dornen!

Wachsam betrat Jimmy den Raum. Er schaute sich überall um, nur auf den Ständer achtete er nicht, und untersuchte jeden Zoll, den er zu erreichen vermochte, ohne dem Licht um die Kugel zu nahe zu kommen. Nirgends fand er etwas, was ein Auslöser für eine weitere Falle sein mochte. Doch noch immer warnte ihn das Kribbeln, für ihn ein sicheres Zeichen dafür, daß irgend etwas nicht stimmte. Seit er auf die Leiche von Jaccon gestoßen war, hatte er drei Fallen ausfindig gemacht, die einem erfahrenen Einbrecher auffallen mußten. Doch hier, wo er die letzte Falle erwartete, fand er keine.

Er ließ sich auf den Boden nieder und überlegte.

 

Arutha und die anderen blickten ihm entgegen. Jimmy kletterte durch den Spalt zurück und ließ sich vom letzten Absatz in die Höhle fallen. »Was hast du erkundet?« fragte Arutha atemlos.

»Das Gebäude ist riesig und hat eine Menge leere Räume, die alle so angelegt sind, daß man von der Tür aus nur in eine Richtung gehen kann, und zwar zur Mitte des Gebäudes und auf demselben Weg wieder hinaus. Abgesehen von einer Art Schrein n der Mitte gibt es dort überhaupt nichts, wenn man von den paar Fallen absieht – aber ganz einfache, die man mit Leichtigkeit umgehen kann. Doch das Ganze ist zu auffallend! Etwas stimmt nicht! Das Gebäude ist nicht ›echt‹!«

»Was meinst du damit?« fragte Arutha.

»Angenommen, Ihr wolltet jemanden erwischen, von dem Ihr glaubt, daß er sehr klug ist. Würdet Ihr dann nicht eine letzte, tanz besondere Falle einrichten, falls all die tüchtigen Burschen, die Ihr zum Fangen Eures Opfers ausgeschickt habt, versagen?«

»Du glaubst, das Gebäude ist eine Falle?« fragte Martin.

»Ja, eine ausgeklügelte Falle. Hört zu, gesetzt den Fall, ihr habt diesen mystischen See, und euer ganzer Stamm kommt hierher, um Zauber zu wirken oder Macht von den Toten zu gewinnen, oder was immer es ist, das die düsteren Brüder hier tun. Dann wollt ihr, weil ihr überlegt, wie ein Mensch denken würde, diesen letzten Schutz errichten. Vielleicht bauen Drachenherren keine Häuser, aber Menschen tun es. Also errichtet ihr dieses Gebäude, dieses riesige Gebäude mit nichts in seinem Inneren. Dann stellt ihr einen Zweig Silberdorn irgendwo auf, auf etwas, das wie ein Schrein aussieht, und dann stellt ihr die Falle. Nun, jemand entdeckt die Schutzvorrichtungen, die ihr auf dem Weg dorthin errichtet habt, weicht ihnen aus, hä lt sich für unheimlich klug, dringt weiter vor und findet das gesuchte Silberdorn, greift danach und…«

»Und die Falle schnappt zu!« unterbrach ihn Laurie mit unüberhörbarer Bewunderung für Jimmys Scharfsinn.

»Und die Falle schnappt zu«, bestätigte der Junge. »Ich weiß nicht wie, aber ich könnte wetten, daß diese letzte Falle magischer Natur ist. Die anderen waren zu leicht zu finden, und dann am Ende – nichts. Vielleicht schlagen alle Türen zu, wenn man die Kugel mit dem Silberdorn berührt, und dann kommen hundert dieser untoten Krieger aus den Wänden, oder das Gebäude bricht einfach über einem zusammen.«

»Ich weiß nicht so recht«, murmelte Arutha zweifelnd.

»Hört zu. Da ist eine habsüchtige Meute Banditen. Die meisten sind nicht sehr klug, denn sonst wären sie keine Gesetzlosen, die in den Bergen hausen müssen, sondern stolze Diebe in einer Stadt.

Abgesehen davon, daß sie dumm sind, sind sie scharf auf Reichtum.

Also kommen sie hierher, um sich ein bißchen Gold damit zu verdienen, daß sie nach dem Fürsten Ausschau halten. Man sagt ihnen: ›Betretet dieses Gebäude nicht, denn das ist gefährlich.‹ Jetzt glaubt natürlich jeder dieser Burschen, die Moredhel würden lügen, weil er weiß, daß jeder andere so dumm und habsüchtig ist wie er selber. Einer dieser so von sich überzeugten Kerle sieht sich also in dem Gebäude um und bekommt dafür einen Giftbolzen in die Brust.«

Jimmy machte eine Verschnaufpause, ehe er fortfuhr: »Nachdem ich die Kugel auf dem Ständer entdeckt hatte, kehrte ich um und schaute mich eingehend um. Das Gebäude ist neu, die Moredhel müssen es erbaut haben, vor kurzem erst. Es ist hauptsächlich aus Holz errichtet, mit äußerer Steinverkleidung. Ich kenne alte Gebäude, das jedenfalls ist keines. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht haben.

Vielleicht mit Hilfe von Zauberei. Wie auch immer, älter als ein paar Monate ist es nicht.«

»Aber Galain sagte, dies sei ein Ort der Valheru«, zweifelte Arutha auch jetzt noch.

»Damit hat er wahrscheinlich recht, aber ich glaube, daß auch Jimmy recht hat. Erinnere dich doch, was du mir von Tomas’ Rettung aus dem unterirdischen Valherugewölbe durch Dolgan, kurz vor dem Krieg, erzählt hast«, sagte Martin. Arutha versicherte ihm, daß er sich erinnerte. »Das hier könnte so etwas Ähnliches sein«, meinte Martin nun.

»Zündet eine Fackel an«, bat Arutha. Roald tat es, und sie entfernten sich von dem Spalt.

»Ist jemandem aufgefallen, daß der Boden ziemlich glatt ist?« fragte Laurie.

»Und die Wände sind gerade«, warf Roald ein.

Baru schaute sich um. »In unserer Hast haben wir uns hier überhaupt nicht richtig umgesehen. Die Höhlen sind nicht natürlichen Ursprungs. Ich glaube auch, daß der Junge recht hat: Das Gebäude ist eine Falle!«

»Dieses Höhlennetz hatte zweitausend Jahre oder mehr, um zu verwittern. Durch diesen Spalt über uns dringt der Regen ein und Hochwasser vom See. Dadurch ist auch kaum noch etwas von den Wandmustern erkennbar«, erklärte Martin. Er strich mit den Fingerspitzen über etwas, was auf den ersten Blick natürliche Vertiefungen im Gestein zu sein schienen. »Aber ein wenig doch noch.« Er deutete auf ein Relief, das jedoch kaum noch als solches zu erkennen war.

»Und so träumen wir uralte Träume der Hoffnungslosigkeit!« sagte Baru.

»Hier sind auch noch einige Gänge, die wir nicht durchforscht haben«, erinnerte Jimmy. »Sehen wir sie uns doch an!«

Arutha blickte fragend auf seine Gefährten, dann entschied er: »Also gut, Jimmy, du übernimmst die Führung. Wenden wir uns zunächst der Höhle mit den vielen Abzweigungen zu, dann wählst du eine aus, und wir werden sehen, wohin sie führt.«

 

Im dritten Gang fanden sie eine Treppe in die Tiefe. Ihr folgend, kamen sie zu einem langen, breiten Korridor. Nach den Ablagerungen auf dem Boden zu schließen, sehr alt. Baru prüfte sie und stellte fest: »Hier war seit Ewigkeiten niemand mehr.«

Jimmy führte sie unter gewaltigen Säulengewölben hindurch, von denen staubbeladene Fackelhalter hingen, so verrostet, daß sie keiner Berührung mehr standhielten. Roald begutachtete riesige Eisenangeln, die zu seltsam verdrehten Rostklumpen verformt kaum noch erkennbar waren. Die Tür, die sie gehalten hatten, war nicht mehr da. »Wer immer hier durch die Tür wollte, schien nicht gewartet zu haben, bis man sie öffnete.«

Sie traten durch die Öffnung hindurch. Jimmy blieb stehen und brach in Staunen aus. »Seht euch das an!«

Vor ihnen lag ein großer Saal, dem noch ein Hauch ehemaliger Pracht anhaftete. Entlang den Wänden hingen die verblichenen Reste ehemaliger Teppiche. Als der Fackelschein darauf fiel, war es, als erwachten uralte Erinnerungen aus äonenlangem Schlaf. Die Überreste vieler, in ihrem Urzustand vielleicht bekannter Dinge lagen zerfallen auf dem Boden verstreut. Holzsplitter, Eisenstücke, die fast nur noch Rost waren, eine vergoldete Scherbe, alles wies auf Gewesenes hin, ohne den Ursprung zu verraten. Das einzige noch erhaltene Stück im ganzen Saal war ein steinerner Thron auf einem Steinpodest an der rechten Wand, etwa in der Mitte. Martin strich sanft über den uralten Stein. »Einst saß ein Valheru hier auf seinem Thron.« Plötzlich wurde allen bewußt, wie fremdartig dieser Ort doch war. Obgleich Jahrtausende vergangen waren, schien die Macht der Drachenherren immer noch wie ein Hauch gegenwärtig zu sein.

Es gab kaum einen Zweifel, daß sie hier inmitten des Vermächtnisses einer alten Rasse standen. Dies war die Quelle der Moredhelträume: Einer der Orte der Macht entlang dem Düsteren Pfad.

»Viel ist nicht übriggeblieben«, stellte Roald fest. »Wer ist daran schuld? Plünderer? Die Düstere Bruderschaft?«

Martin schaute sich um, als erkenne er die Zeitalter der Geschichte im Staub an den Wänden. »Das glaube ich nicht. Alten Sagen zufolge könnte alles hier schon während der Chaoskriege vernichtet worden sein. Sie kämpften auf Drachen reitend. Sie forderten die Götter heraus, so zumindest berichten die Sagen.

Wenig, was Zeuge des gewaltigen Krieges war, blieb erhalten. Wir werden die Wahrheit vermutlich nie erfahren.«

Jimmy hatte da und dort den Saal genauer untersucht. Schließlich kehrte er zurück. »Hier wächst gar nichts.«

»Wo nur können wir Silberdorn dann finden?« fragte Arutha bitter. »Wir haben überall gesucht.«

Nach einem langen Schweigen sagte Jimmy: »Nicht überall. Um den See herum, ja, und…« Er deutete sich drehend auf den Saal, »…unter dem See. Aber nicht im See.«

»Im See?« Martin blickte ihn erstaunt an.

»Ja«, antwortete Jimmy. »Calin und Galain meinten, es wüchse am Ufer. Hat jemand daran gedacht, die Elben zu fragen, ob es in diesem Jahr stark geregnet hat?«

Martins Augen weiteten sich. »Der See ist über seine Ufer getreten!«

»Möchte jemand schwimmen gehen?« lachte Jimmy.

 

Jimmy zog den Fuß zurück. »Puh, ist das Wasser kalt!«

Kopfschüttelnd wandte Martin sich an Baru. »Verzärtelter Städter! Er ist siebentausend Fuß hoch im Gebirge und wundert sich, daß der See kalt ist.«

Martin watete ins Wasser, vorsichtig, um keinen Wellenschlag zu verursachen. Baru folgte ihm. Jimmy atmete tief, dann tat er es ihnen nach, schüttelte sich jedoch bei jedem Schritt. Als er in ein Wasserloch trat und bis zur Hüfte versank, öffnete er den Mund wie zu einem lautlosen Entsetzensschrei. Arutha und Roald beobachteten die Brücke, um sicherzugehen, daß sie nicht unverhofft entdeckt wurden. Alle drei kauerten hinter einem sanften Hügel, der sich zum Wasser hinabneigte. Die Nacht war ruhig, und die meisten Moredhel und menschlichen Überläufer schliefen auf der anderen Brückenseite. Die Gefährten hatten beschlossen zu warten, bis das Morgengrauen nur noch etwa eine Stunde entfernt war, denn die Wächter, falls sie Menschen waren, würden um diese Zeit halb schlafend ihren Dienst versehen, und selbst die Moredhel würden annehmen, daß so kurz vor Sonnenaufgang nichts mehr zu erwarten war.

Leisen Bewegungen im Wasser folgte ein Japsen, als Jimmy nach einem ersten Untertauchen rasch wieder auftauchte. Er schnappte nach Luft, ehe er erneut tauchte. Wie die anderen tastete er auf gut Glück. Plötzlich stach er sich an etwas zwischen den moosüberwachsenen Steinen. Er streckte den Kopf aus dem Wasser und keuchte tosend laut, wie ihm schien. Doch nichts auf der Brücke deutete an, daß er gehört worden war. Vorsichtig tauchte er an derselben Stelle und tastete über die glitschigen Steine. Die dornige Pflanze fand er, indem er sich erneut an ihr stach. Noch zweimal stach er sich, ehe er die Pflanze fest in der Hand hatte. Er zog an ihr, und sie gab schnell nach. An der Oberfläche angelangt, flüsterte er:

»Ich habe etwas!«

Lachend hielt er die Pflanze hoch, die im Licht des kleinen Mondes fast weiß schimmerte. Es sah aus, als wären rote Beeren an einen Rosenzweig mit silbernen Dornen gesteckt. Erfreut bewunderte er die Pflanze.

Baru und Martin wateten zu ihm und betrachteten den dornigen Zweig. »Wird das genügen?« fragte Baru.

Arutha zischte vom Ufer her: »Die Elben sagten nicht, wieviel wir brauchen würden. Holt noch ein paar Stengel, wenn es möglich ist, aber wir können nur noch ein paar Minuten warten.« Behutsam wickelte er die Pflanze in ein Tuch und verstaute sie in seinem Beutel.

Innerhalb weniger Minuten hatten sie drei weitere Pflanzen gefunden. Arutha hoffte, daß das genügen würde und winkte die drei ans Ufer zurück. Triefnaß kehrten Jimmy, Martin und Baru mit den ändern zum Spalt und in die Höhle zurück.

Arutha schien ein neuer Mensch zu werden, als er die Pflanzen im Schein eines brennenden Astes betrachtete, den Roald für ihn hielt.

Jimmy klapperten die Zähne, aber er nickte Martin stolz zu.

Arutha konnte den Blick nicht vom Silberdorn nehmen. Er war verwundert über das seltsame Gefühl, das ihn durchrann. Während er die Stengel mit ihren silbrigen Dornen, den roten Beeren und grünen Blättern betrachtete, sah er, nur er allein, einen vertrauten Ort, an dem vielleicht schon bald wieder ein fröhliches Lachen zu hören sein würde, während eine sanfte Hand über sein Antlitz strich. Die Frau, die sein ganzes Glück bedeutete, würde ihm hoffentlich bald wiedergegeben werden!

Jimmy schaute Laurie an. »Jetzt glaube ich selbst, daß wir es schaffen!«

Der Sänger warf Jimmy seinen Kittel zu. »Nun müssen wir bloß noch zusehen, daß wir wieder von hier wegkommen.«

Arutha hob den Kopf. »Macht euch bereit. Wir brechen sofort auf.«

 

Als Aruthas Oberkörper über dem Schluchtrand auftauchte, sagte Galain: »Ich wollte gerade das Seil hochziehen. Ihr habt es genau berechnet, Fürst Arutha.«

»Ich hielt es für besser, so schnell wie möglich den Berg hinter uns zu bringen, statt einen weiteren Tag zu warten.«

»Da möchte ich Euch nicht widersprechen. Gestern abend gab es Streit zwischen dem Führer der Überläufer und den Moredhelführern. Ich konnte dabei nicht nah genug heranschleichen, um etwas zu verstehen, aber da die Düsteren und die Menschen nicht gut miteinander auskommen, dürfte die Verbindung bald enden. Und wenn es soweit ist, könnte Murad es sich überlegen und nicht mehr länger hier warten, sondern wieder nach Euch suchen.«

»Dann wollen wir uns beeilen, um so weit wie möglich zu sein, bevor es hell wird.«

Schon jetzt zeichnete sich das erste Grau des kommenden Morgens über den Bergen ab. Doch das Glück war ihnen hold, denn auf dieser Gebirgsseite würden die Schatten, die sie verbergen konnten, länger anhalten als auf der der Sonne zugewandten. Es war nicht viel Schutz, aber sie begrüßten selbst den geringsten.

Martin, Baru und Roald hangelten das Seil schnell hoch, nur Laurie hatte Schwierigkeiten, denn er besaß keine Erfahrung im Klettern, was er jedoch zuvor nicht erwähnt hatte. Mit Hilfe seiner Kameraden schaffte er es schließlich. Jimmy, der Flinkste und Erfahrenste, machte den Abschluß. Der Himmel wurde allmählich heller, und der Junge befürchtete, von der Brücke aus gesehen werden zu können. In seiner Hast wurde er unvorsichtig. Sein Fuß rutschte von einem Felsvorsprung ab. Seine Hände umklammerten das Seil, während er ein paar Fuß fiel, und er schlug aufstöhnend gegen die Schluchtwand. Da stach etwas mit brennendem Schmerz in seine Seite. Nur mit Mühe konnte er einen Schrei unterdrücken.

Lautlos nach Atem keuchend, wandte er den Rücken der Wand zu.

Er wickelte hastig das Seil um den linken Arm und hielt es fest.

Vorsichtig tastete er unter seinen Umhang und fühlte das Messer, das er dem Toten abgenommen hatte. Beim Anziehen nach der Suche im See hatte er es hastig wieder in den Umhang geschoben, statt es in seinem Beutel zu verstauen, wie er es hätte tun sollen. Nun steckten zwei Zoll der Stahlklinge in seiner Seite. Sich um eine feste Stimme bemühend, flüsterte er: »Zieht mich hoch!«

Fast hätte Jimmy das Seil losgelassen, als ihn beim Hochziehen heftige Schmerzen überfielen. Er rutschte ein Stück ab, biß die Zähne zusammen, dann erreichte er den Rand der Schlucht.

»Was ist passiert?« erkundigte sich der Fürst.

»Ich war unvorsichtig«, antwortete der Junge. »Hebt meinen Kittel hoch.«

Laurie tat es und fluchte unwillkürlich. Martin blickte Jimmy fragend an, und der Junge nickte, doch als der Ältere dann das Messer herauszog, wären ihm fast die Sinne geschwunden. Martin schnitt ein größeres Stück aus seinem Umhang, damit verband er die Wunde. Dann winkte er Laurie und Roald, die Jimmy stützten, als sie eilig den Schluchtrand verließen. Während sie durch die Morgendämmerung hasteten, brummte Laurie: »Was Dümmeres ist dir wohl nicht eingefallen?«

 

Es war ihnen gelungen, ihrer Entdeckung zu entgehen, während sie Jimmy den größten Teil des Vormittags trugen. Die Moredhel wußten noch immer nicht, daß sie bereits am Moraelin gewesen waren, sondern hielten in die entgegengesetzte Richtung Ausschau nach ihnen, die nun unbemerkt zu entkommen suchten. Doch nun tauchte ein Moredhelwächter vor ihnen auf. Er kauerte hinter einem Felsblock auf einem Wandvorsprung. Aber sie mußten den Weg unterhalb von ihm nehmen. Es war inzwischen kurz nach Mittag. Sie duckten sich in eine Mulde, die kaum Sichtschutz bot. Martin gab Galain durch Zeichen die Reihenfolge an. Der Elb setzte sich in Bewegung und bedeutete Martin, ihm zu folgen. Es war ein ruhiger Nachmittag, und es bedurfte aller Geschicklichkeit des Elben und Martins, knappe zwanzig Fuß zurückzulegen, ohne den Wächter auf sich aufmerksam zu machen.

Martin legte einen Pfeil an und zielte über Galains Schulter. Der Elb zog sein Jagdmesser, richtete sich neben dem Moredhel auf und tupfte ihn auf die Schulter. Der Wächter wirbelte bei dieser unerwarteten Berührung herum, und Galain zog ihm das Messer über die Kehle. Der Moredhel bäumte sich auf, da traf Martins Pfeil ihn in die Brust. Der Elb faßte ihn um die Knie und setzte ihn wieder auf seinen Platz zurück. Dann drehte er Martins Pfeil und brach ihn ab, statt die Spitze mit dem Widerhaken herauszureißen. In wenigen Augenblicken hatte der düstere Bruder sein Ende gefunden und schien für Beobachter doch noch auf seinem Posten zu sein. Martin und Galain schlichen zu den anderen zurück. »In wenigen Stunden wird sein Tod entdeckt werden. Vermutlich wird man annehmen, daß wir auf dem Herweg sind, und wird zunächst weiter oben mit der Suche nach uns beginnen, doch schließlich werden sie auch auf den unteren Hängen Ausschau halten. Wir müssen uns beeilen. Bis zum Rand der Elbenwälder brauchen wir zwei Tage, selbst wenn wir keine Rast einlegen. Also kommt!«

Sie hasteten den Pfad hinunter. Laurie trug Jimmy mehr als daß er ihn stützte, und die Schmerzen ließen den Jungen immer wieder zusammenzucken. »Ich hoffe, die Pferde sind noch da«, brummte Roald.

»Wenn nicht«, sagte Jimmy schwach, »geht es zumindest die ganze Strecke abwärts.«

 

Sie machten eine kurze Rast, um den Pferden ein wenig Ruhe zu gönnen. Vermutlich würden sie die Tiere zuschanden reiten, doch daran ließ sich bedauerlicherweise nichts ändern. Arutha trieb sie zur Eile an, nun, da er ein Mittel für Anitas Heilung hatte. Zuvor hatte er sich am Rand der Verzweiflung bewegt, jetzt brannte eine Flamme in ihm, und nichts sollte sie auslöschen. So ritten sie durch die Nacht dahin.

 

Erschöpfte Reiter lenkten ihre schaumbedeckten Pferde den Waldweg hinab. Sie hatten den dichten Wald erreicht, der sich zwar noch im Vorgebirge befand, jedoch nicht mehr weit von der Grenze der Elbenwälder entfernt. Jimmy war durch den erlittenen Blutverlust, die Erschöpfung und Schmerzen nur halb bei Bewußtsein. Während der Nacht hatte seine Wunde sich wieder geöffnet, und er hatte nicht mehr tun können, als die Hand darauf zu drücken. Plötzlich verdrehte er die Augen, und er fiel mit dem Gesicht voraus auf den Waldboden.

Als er wieder zu sich kam, saß er von Laurie und Baru gehalten aufrecht, während Martin und Roald die Wunde mit einem aus Martins Umhang geschnittenen Stoffstreifen verbanden. »Das dürfte genügen, bis wir Elbenheim erreichen«, meinte Martin.

Rügend sagte Arutha: »Wenn deine Wunde wieder aufgeht, dann mach den Mund auf! Galain, reitet neben ihm und paßt bitte auf, daß er nicht wieder vom Pferd fällt.«

Sie schwangen sich in die Sättel und setzten den Ritt fort.

 

Gegen Sonnenuntergang des zweiten Tages brach das erste Pferd zusammen, und Martin erlöste es rasch. »Ich werde eine Weile laufen!« erklärte er.

Fast drei Meilen rannte der Herzog neben dem Trupp her.

Obgleich die erschöpften Tiere langsamer als üblich galoppierten, war es eine erstaunliche Leistung. Dann löste Baru ihn ab, und danach Galain. Die Pferde wurden immer langsamer, und schließlich trotteten sie nur noch dahin.

Stumm ritten sie so durch die Nacht und zählten die Minuten, die sie der Sicherheit näher brachten. Sie wußten, daß der zungenlose Moredhel sie mit seinen Schwarzen Kämpfern verfolgte, wenn auch nicht, wie weit er noch von ihnen entfernt war. Gegen Morgen überquerten sie einen Pfad. »Hier müssen sie sich aufteilen«, meinte Martin. »Denn sie können nicht wissen, ob wir nicht ostwärts nach Bergenstein abgebogen sind.«

»Alle absteigen!« wies Arutha an, dann bat der Fürst: »Martin, führ die Pferde ein Stück in Richtung von Bergenstein, und dann laß sie laufen. Wir legen den Rest des Weges besser zu Fuß zurück.«

Martin tat wie geheißen, und Baru verwischte die Spuren hinter den anderen. Eine Stunde später holte Martin sie ein. Während er auf einem schmalen Waldpfad auf sie zurannte, rief er gedämpft: »Ich glaube, ich habe etwas hinter uns gehört. Aber sicher bin ich nicht. Der Wind wird stärker, und das Geräusch war schwach.«

»Wir setzen auf jeden Fall unseren Weg nach Elbenheim fort«, bestimmte Arutha, »halten jedoch Ausschau nach einer gut zu verteidigenden Stellung.« Er eilte in schon schwerer werdendem Gang weiter, gefolgt von den anderen. Martin stützte Jimmy.

Etwa eine Stunde liefen sie häufig stolpernd dahin, als sie die Verfolger im Wald hinter sich vernahmen. Die Furcht verlieh ihnen neue Kraft, und ihre Schritte wurden schneller. Da deutete Arutha auf eine halbkreisförmige Felsanordnung, die eine natürliche Brustwehr bildete. Er fragte Galain: »Wie weit ist es noch, bis wir Hilfe erwarten können?«

Der Elb betrachtete die Gegend im frühe n Morgenlicht. »Wir sind dem Rand unseres Waldes schon nahe. Meine Leute dürften eine, vielleicht auch zwei Stunden entfernt sein.«

Da gab Arutha dem Elben das Bündel mit Silberdorn und bat: »Nehmt Jimmy mit. Wir halten die Moredhel hier in Schach, bis Ihr mit Verstärkung zurückkehrt.« Alle wußten, er gab das Silberdorn mit, in der Befürchtung, daß nicht rechtzeitig Entsatz kam. So konnte zumindest Anita gerettet werden.

Jimmy ließ sich auf einen Felsblock sinken. »Das ist doch Unsinn! Mit mir würde er doppelt so lange brauchen, bis er Hilfe findet. Ich kann besser verletzt kämpfen als davonlaufen.« Ohne ein weiteres Wort kroch er über die Brustwehr und zog seinen Dolch hoch.

Arutha blickte den Jungen an, dessen Wunde wieder blutete und der vor Erschöpfung und Blutverlust fast wieder zusammenbrach, ihn jedoch angrinste, während er den Dolch mit der Hand umklammert hielt. So nickte der Fürst dem Elben zu, der sich sogleich auf den Weg machte. Die anderen verschanzten sich hinter dem Felswall, zogen ihre Waffen und warteten.

 

Sie kauerten kampfbereit hinter der natürlichen Brustwehr, und mit jeder Minute, die verging, erhöhte sich ihre Überlebenschance.

Mit jedem Atemzug spürten sie geradezu, wie Rettung und Tod gewissermaßen um sie stritten. Ihr Schicksal hing vielleicht vom Zufall ab. Wenn Calin und seine Krieger am Waldrand warteten und Galain sie schnell fand, bestand Hoffnung. Wenn nicht, waren sie verloren.

Aus der Ferne war bereits Hufschlag zu hören und wurde allmählich lauter. Die Zeit verstrich unendlich langsam, und die Qual des Wartens wurde unerträglich. Es erschien ihnen fast als Erleichterung, als sie Lärmen hörten und die Moredhel auftauchten.

Martin richtete sich auf und hatte schon einen Pfeil an der Sehne, als sich ihm ein Ziel bot. Den ersten Moredhel, der sie entdeckte, warf die Wucht des Pfeiles, der in seine Brust drang, aus dem Sattel.

Arutha und die anderen waren ebenfalls gerüstet. Ein Dutzend Gegner sahen sich verwirrt dem überraschenden Angriff gegenüber.

Bevor sie zur Gegenwehr bereit waren, schwirrte ein Hagel Pfeile auf sie zu. Ein paar wendeten ihre Pferde und ergriffen die Flucht, doch die anderen stürmten herbei.

Der Felswall ragte vor ihnen auf und verhinderte zunächst, daß die Moredhel die Menschen überrannten. Doch sie kamen unaufhaltsam näher, und die Hufe ihrer Pferde donnerten dumpf auf dem morgenfeuchten Boden. Obgleich sie sich an den Hals ihrer Pferde preßten, traf Martin zwei weitere, bevor sie das Schanzwerk erreichten. Dann waren sie heran. Baru sprang auf den Felswall, und sein Langschwert sauste durch die Luft. Ein Moredhel stürzte enthauptet vom Pferd.

Arutha sprang vom Wall und zerrte einen düsteren Bruder aus dem Sattel. Der Moredhel starb unter seinem Messer. Dann wirbelte der Fürst herum und zog den Degen, als ein weiterer Reiter angriff.

Bis zum letzten Augenblick wich Arutha nicht von der Stelle, dann sprang er vor und holte den Reiter mit einem Hieb aus dem Sattel, der den Moredhel tötete.

Roald zog einen anderen vom Pferd, und beide stolperten hinter die Brustwehr. Jimmy wartete, während sie heftig miteinander kämpften, dann, als er sicher war, den Feind nicht verfehlen zu können, stieß er mit seinem Dolch zu, und ein weiterer düsterer Bruder starb.

Zwei weitere Moredhel erkannten, daß Laurie und Martin nur auf sie warteten, und zogen es vor, sich zurückzuziehen. Beide starben, als Martins Pfeile durch das Morgenlicht sirrten und sie trafen. Kaum waren sie aus den Sätteln gestürzt, schwang Martin sich über den Felswall und bemächtigte sich ihrer Pfeile und eines Kurzbogens.

»Ich habe kaum noch welche«, keuchte er und deutete auf seinen fast leeren Köcher.

Arutha schaute sich um. »Bald dürften weitere hier sein.«

»Laufen wir los?« fragte Jimmy.

»Nein, wir würden nicht sehr weit kommen und bestimmt keine so günstige Stellung mehr finden. Wir warten ab.«

Minuten vergingen, während aller Augen sich dem Pfad zugewandt hatten, auf dem die Moredhel kommen mußten. Laurie flüsterte: »Lauf, Galain, lauf!«

Eine Ewigkeit, wie es ihnen schien, lag Stille über dem Wald.

Dann stieg unter donnernden Hufen Staub auf, und Reiter kamen in Sicht.

Murad, der riesenhafte Stumme, ritt an der Spitze, mit einem Dutzend Schwarzer Kämpfer im Gefolge. Weitere Moredhel und menschliche Überläufer folgten. Murad zügelte sein Pferd und bedeutete seinen Leuten anzuhalten.

Jimmy stöhnte: »Das sind bestimmt hundert!«

»Wohl eher an dreißig«, widersprach Roald.

»Das genügt auch«, brummte Laurie.

Arutha blickte über die Brustwehr. »Vielleicht können wir sie eine Zeitlang aufhalten.« Aber alle wußten, wie wenig Hoffnung bestand.

Da sprang Baru auf, noch bevor jemand ihn daran hindern konnte. Er rief in einer Jimmy, dem Fürsten und Martin unbekannten Sprache den Moredhel etwas zu. Laurie und Roald schüttelten verwundert den Kopf.

Arutha wollte den Hadati hinter den deckenden Wall ziehen, doch Laurie hielt ihn zurück. »Er fordert Murad zu einem Zweikampf heraus. Es ist eine Sache der Ehre.«

»Wird der Moredhel annehmen?«

Roald zuckte mit den Schultern. »Sie sind seltsame Wesen. Ich habe schon früher gegen die düsteren Brüder gekämpft. Einige sind Abtrünnige, doch die meisten halten an ihrem Ehrenkodex fest. Kommt darauf an, wo man auf sie trifft. Wenn diese Mooskrieger aus Nordyabon sind, werden sie angreifen. Aber wenn Murad sich an die Sitten gebunden fühlende Tiefwaldbrüder bei sich hat, werden sie es ihm übelnehmen, wenn er den Zweikampf nicht annimmt. Wenn er von sich behauptet, daß magische Mächte ihn unterstützen, kann er nicht ablehnen, ohne den Glauben seiner Leute an ihn zu verlieren. Es hängt also hauptsächlich davon ab, wie Murad über Ehre denkt.«

»Wie immer es auch ausgeht, Baru hat sie zumindest verwirrt«, stellte Martin fest.

Arutha erkannte, daß die Moredhel unschlüssig waren, während der Zungenlose Baru ausdruckslos ansah. Dann deutete Murad auf den Hadati und seine Gefährten. Ein Moredhel in wallendem Umhang ritt vor. Er wandte sein Pferd so, daß er Murad ins Gesicht blicken konnte und sagte etwas in fragendem Ton.

Der Stumme gab Zeichen, und der Moredhel, der vor ihm stand, winkte den, der Murads Befehl ausführen sollte, zur Seite. Die Moredhelreiter, mit Ausnahme jener in schwarzer Rüstung, zogen sich ein Stück zurück. Einer der Menschen ritt heran, und auch er wandte sein Pferd so, daß er Murad gegenüberstand. Er redete gestikulierend auf den Moredhelführer ein, und einige stimmten in seinen Ton ein.

»Martin«, erkundigte sich Arutha, »kannst du irgend etwas verstehen?«

»Nein. Aber was immer es ist, schmeichelhaft für den Anführer ist es bestimmt nicht.«

Plötzlich zog Murad sein Schwert und schlug nach dem Menschen vor sich. Ein anderer Mensch rief etwas und schien vorwärtsreiten zu wollen, doch zwei Moredhel hielten ihn zurück.

Erneut deutete Murad auf den Hadati und dessen Gefährten, und gab seinem Pferd die Sporen.

Baru sprang vom Felswall und na hm eine günstige Position ein.

Entschlossen stand er da, das Schwert kampfbereit gezogen. Als Murads Pferd ihn fast erreicht hatte, schlug er zu, während er gleichzeitig auswich. Das verwundete Tier stürzte zu Boden. Murad rollte sich ab und kam geschmeidig auf die Füße, das Schwert in der Hand. Er machte eine Wendung, um sich Baru zu stellen, und sogleich klirrte Schwert gegen Schwert.

Arutha schaute sich um. Das Dutzend Schwarze Kämpfer wartete unbewegt, doch wie lange, wußte er nicht zu sagen. Da es für Murad um die Ehre ging, würden sie vielleicht abwarten, bis der Kampf entschieden war. Das zumindest hoffte der Fürst.

Alle folgten gebannt dem Kampf. Martin mahnte: »Bleibt wachsam! Sobald der Streit entschieden ist, gleichgültig wer gewinnt, werden sie heranstürmen!«

Zwanzig weitere Moredhel kamen den Pfad heraufgeritten. Baru verschaffte ihnen lediglich etwas Zeit.

Murad schlug zu und wurde seinerseits getroffen. So folgte Hieb auf Stich, Abwehr dem Angriff, und der Kampf tobte weiter. Der Hadati stand dem Moredhel in Größe nicht nach, war jedoch nicht so kräftig. Mit einer Reihe schneller Hiebe begann Murad Baru zurückzudrängen.

Martin hielt seinen Bogen bereit. »Baru ermüdet. Es wird bald vorbei sein.«

Doch wie ein Tänzer wich Baru der Klinge Murads immer wieder aus. Doch plötzlich, als Murad wieder zum Hieb ausholte, wich Baru nicht mehr zurück, sondern tat einen Schritt vor. Seine Schwertspitze traf Murads Brust. Die Wunde war tief, und ein Blutstrom quoll hervor.

»Das ist überraschend!« staunte Martin.

»Verdammt geschickter Zug!« lobte Roald.

Aber Murad ließ sich von dem unerwarteten Hieb nicht unterkriegen. Er drehte sich auf der Stelle und packte des Hadatis Schwertarm. Er verlor zwar das Gleichgewicht, zog jedoch Baru mit sich zu Boden. Sie rangen miteinander und rollten den Hang abwärts auf den Felswall zu, wo Arutha stand. Ihre Waffen entglitten den blutverschmierten Fingern, und so schlugen sie mit den Fäusten aufeinander ein.

Und dann kamen sie wieder auf die Füße, doch Murad hatte die Arme um Barus Hüften geschlungen. Er hob den Hadati in die Luft, legte plötzlich die ineinander verschlungenen Hände um dessen Nacken und versuchte ihm das Rückgrat zu brechen. Baru warf den Kopf zurück, als er vor Schmerzen aufschrie. Dann schlug er die Hände in einem donnernden Klatschen über des Moredhels Ohren zusammen, daß dessen Trommelfell barst.

Ein Gurgeln des Schmerzes entrang sich Murad, und er gab Baru frei, um die Hände an die Ohren zu pressen, einen Moment durch den Schmerz völlig verwirrt. Baru bäumte sich zurück und schlug dem Moredhel die Faust so heftig ins Gesicht, daß Murads Kopf zurückflog, und dann noch einmal. Es sah ganz so aus, als würde der Hadati den Moredhel zu Tode prügeln. Doch Murad gelang es, Barus Handgelenk zu fassen und ihn niederzuziehen. Und wieder wälzten beide sich über den Boden.

Dann lag Murad auf Baru, und jeder hatte die Hände um des anderen Hals. Ächzend vor Schmerzen und Anstrengung würgten sie einander.

Jimmy bückte sich und nahm der Leiche des Moredhels zu seinen Füßen den Dolch ab. »Warte noch«, murmelte Martin.

Murad setzte seine ganze Kraft ein, und sein Gesicht lief allmählich blau an, genau wie Barus. Keiner bekam mehr Luft, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Kampf beendet war. Der Moredhel war durch die tiefe Wunde in der Seite schwer verletzt, die ihn immer mehr schwächte.

Da sank plötzlich mit einem Aufstöhnen Murads Kopf auf Barus Brust. Ein langes Schweigen setzte ein. Der Hadati erhob sich schleppend. Er nahm ein Messer aus des Moredhels Gürtel und durchschnitt damit Murads Kehle. Dann kauerte er sich schweratmend nieder, ehe er ohne Rücksicht auf die Gefahr für sich den Dolch in des Zungenlosen Brust stieß.

»Was macht er denn?« fragte Roald bestürzt.

»Erinnert Ihr Euch, was Tathar über die Schwarzen Kämp fer sagte?« fragte Martin. »Er schneidet Murads Herz heraus, damit er sich nicht wieder als Untoter erheben kann.« Der Hadati riß mit einem Ruck das Herz aus Murads Brust und hielt es hoch, damit es die versammelten Moredhel und Menschen sehen konnten, daß Murads Herz nicht mehr schlug. Schließlich warf er es von sich und stand schwankend auf.

Taumelnd suchte er den kaum dreißig Fuß entfernten Felswall zu erreichen. Ein Moredhelreiter stürzte heran, um von der Seite nach Baru zu schlagen. Jimmy warf einen Dolch und traf den düsteren Bruder in die Stirn, daß er aufschreiend vom Pferd stürzte. Doch ein weiterer ritt heran, und sein Schwert schnitt dem Hadati in die Seite.

Baru stürzte zu Boden.

»Verdammt!« schrie Jimmy den Tränen nahe. »Er hat gewonnen! Ihr hättet ihn wenigstens zu uns zurückkommen lassen müssen!« Er warf einen zweiten, den eigenen Dolch, doch der Reiter wich aus.

Plötzlich aber erstarrte er, und als er sich mit dem Pferd umdrehte, sahen Arutha und seine Gefährten, daß ein Pfeil aus seinem Rücken ragte. Ein anderer Moredhel brüllte etwas, während er seinen Bogen wegsteckte. Die wütenden Rufe eines düsteren Bruders und eines Menschen antworteten ihm.

»Was ist eigentlich los?« erkundigte sich Arutha.

Roald erklärte: »Der Moredhel, der Baru getötet hat, ist ein Ehrloser. Der Schütze war derselben Meinung wie Jimmy: Der Hadati hatte gewonnen, und man hätte ihn zu uns zurückkehren lassen müssen. Er wäre mit seinen Kameraden noch früh genug gestorben. Nun geraten der Schütze, ein zweiter Ehrloser und die menschlichen Überläufer miteinander in Streit. Vielleicht gewinnen wir dadurch ein bißchen Zeit, ja möglicherweise ziehen sich sogar einige zurück, nun, da ihr Anführer tot ist.«

Da griffen die Schwarzen Kämpfer an.

Martin richtete sich auf und spannte den Bogen. Seine Flinkheit war bewundernswert, drei Reiter stürzten von den Pferden, bevor sie den steinigen Schutzwall erreichen konnten.

Stahl klirrte auf Stahl, und die Schlacht entbrannte. Roald sprang auf den Felswall, und er hieb mit seinem Schwert nach allem, was in seine Reichweite kam. Kein Moredhel konnte nah genug herankommen, um ihn mit dem Kurzschwert zu treffen, während sein Breitschwert jedem, der sich heranwagte, den Todesstoß versetzte.

Arutha parierte einen Hieb, der Laurie gegolten hatte, und schlug aus seiner Kauerstellung von unten schwingend einen Reiter vom Pferd. Roald sprang vor und zerrte einen aus dem Sattel.

Sieben Moredhel starben, bevor die anderen sich zurückzogen.

»Sie haben gar nicht alle angegriffen«, stellte Arutha fest.

Nun merkten auch die anderen, daß sich einige Moredhel zurückgehalten hatten, und andere, unter ihnen zwei Menschen, sich immer noch stritten. Ein paar Schwarze Kämpfer waren noch beritten. Sie achteten jedoch nicht auf die Auseinandersetzung zwischen ihren Kameraden, sondern machten sich zu einem zweiten Sturm bereit.

Jimmy nahm von einer Leiche am Rand des Walls den Dolch an sich, als er etwas bemerkte. Er zupfte an Martins Ärmel: »Seht Ihr diesen häßlichen Kerl mit dem roten Harnisch und den protzigen Goldringen und -reifen?«

Martin sah einen, auf den die Beschreibung paßte, im Sattel an der Spitze der menschlichen Reiter.

»Könnt Ihr ihn treffen und töten?«

»Das dürfte ein schwieriger Schuß werden. Warum?«

»So sicher wie Elben im Wald sind, ist das Reitz. Er ist der Anführer dieser Bande Gesetzloser. Wenn Ihr ihn erschießt, werden die ändern vermutlich flüchten oder zumindest nichts unternehmen, bis ein neuer Anführer gewählt ist.«

Martin richtete sich auf, zielte und schoß. Der Pfeil zischte zwischen den Bäumen hindurch und traf Reitz in den Hals. Sein Kopf schnellte zurück, und er stürzte sich überschlagend aus dem Sattel.

»Unglaublich!« staunte Jimmy.

Laurie dagegen sagte trocken: »Nicht die feine Art, jemanden ohne Warnung zu erschießen.«

»Du kannst ja meine Entschuldigung übermitteln, wenn du möchtest.« Martin grinste. »Ich habe vergessen, daß ihr Minnesänger eure Helden immer so handeln laßt.«

»Wenn wir die Helden wären, würden die Banditen jetzt verschwinden«, meinte Jimmy.

Als hätten sie es gehört, flüsterten die menschlichen Überläufer miteinander und ritten dann plötzlich davon. Ein Moredhel brüllte ihnen wütend nach, dann forderte er durch eine gebieterische Geste zu einem weiteren Sturm auf des Fürsten Trupp auf. Ein anderer düsterer Bruder spuckte vor ihm auf den Boden, wendete sein Pferd und winkte anderen Moredhel zu. Zwanzig setzten sich in Bewegung, in die gleiche Richtung wie die Menschen.

Arutha zählte die Zurückgebliebenen. »Nicht ganz zwanzig und die Schwarzen Kämpfer.«

Die Reiter saßen ab, einschließlich jene, die sich beim ersten Angriff zurückgehalten hatten. Es war ihnen klargeworden, daß sie auf den Pferden nicht nahe genug an den Steinwall herankommen konnten. Die Bäume als Deckung benutzend, schwärmten sie aus, um Aruthas Stellung zu umzingeln.

»Das hätten sie gleich das erste Mal tun müssen«, meinte Roald.

»Sie sind zwar nicht die Klügsten, aber doch nicht völlig unbedarft«, bemerkte Laurie.

»Ich hätte es lieber, sie wären es«, brummte Jimmy. Er umklammerte den Dolch, als die düsteren Brüder angriffen.

Die Moredhel warfen sich von allen Seiten auf sie. Hastig wich Jimmy aus, als ein Schwert auf ihn herabsauste, gleichzeitig stach er mit dem Dolch zu und traf den Angreifer in den Bauch.

Roald und Laurie kämpften Rücken an Rücken, mit düsteren Brüdern ringsum. Martin schoß, bis seine langen Pfeile aufgebraucht waren, dann griff er nach dem Moredhelkurzbogen und den -pfeilen.

Seine Zielsicherheit und Schnelligkeit waren unvergleichlich. Ehe er sich seines Schwertes bedienen mußte, hatte er ein Dutzend weitere düstere Brüder tödlich getroffen. , Arutha kämpfte wie ein Besessener. Bei jedem schwungvollen Streich verwundete oder tötete sein Degen. Kein Moredhel blieb ungeschoren, wenn er sich zu nahe an ihn heranwagte. Doch der Fürst wußte sehr wohl, daß letztendlich die Zeit den Ausschlag geben würde. Je größer die Erschöpfung der Verteidiger wurde, desto langsamer würden sie werden und sich schließlich nicht mehr schützen können und sterben.

Bereits jetzt spürte er, wie ihm die Kraft aus den Armen schwand, nun, da er sich dem unausweichlichen Tod gegenübersah. Hoffnung gab es kaum mehr. Ihre Gegner zählten noch über zwanzig, und sie waren lediglich zu fünft.

Martin hieb und stach mit seinem Schwert und tötete, wer ihm zu nahe kam. Roald und Laurie parierten und griffen selbst an, doch auch sie ermüdeten. Ein Moredhel sprang über den Felswall und wirbelte zu Jimmy herum, der ohne Zögern handelte. Er stach zu, traf des Angreifers Hand, daß ihm das Schwert entglitt. Doch der Moredhel riß seinen Dolch aus dem Gürtel und sprang zurück, als der Junge wieder zuschlug. Aber dann warf er sich auf ihn. Jimmy stach wild um sich, verlor das Gleichgewicht und sein Messer, und der Moredhel war über ihm. Eine Messerklinge sauste zu des Jungen Gesicht hinab. Jimmy konnte ihr ausweichen, und die Dolchspitze prallte auf Stein. Er bekam das Handgelenk des düsteren Bruders zu fassen und drückte die Klinge zur Seite. Aber in seinem Zustand reichte Jimmys Kraft nicht mehr für den stärkeren Moredhel, und die Klinge näherte sich wieder seinem Gesicht.

Da sackte des düsteren Bruders Kopf nach hinten, und Jimmy sah, wie ein Messer über dessen Kehle gezogen wurde und eine blutige Spur zurückließ. Dann wurde der Moredhel zurückgerissen, und eine Hand streckte sich Jimmy entgegen.

Galain stand über dem Jungen und half ihm auf die Füße.

Benommen schaute Jimmy sich um. Pfeile schwirrten durch die Luft, Jagdhörner schmetterten im Wald, und die Moredhel zogen sich vor den angreifenden Elben zurück.

Martin und Arutha ließen erschöpft ihre Waffen sinken. Roald und Laurie brachen beinahe zusammen. Calin lief auf sie zu, während er gleichzeitig seine Elbenkrieger den fliehenden Moredhel nachschickte.

Arutha blickte auf. Die Erleichterung trieb ihm ungewollt Tränen in die Augen.

Seiner Stimme kaum mächtig, fragte er: »Ist es vorbei?«

»Ja, Arutha«, versicherte ihm Calin. »Für eine Weile zumindest. Sie werden zurückkehren, doch bis dahin sind wir in der Sicherheit unserer eigenen Wälder. Wenn sie nicht gerade eine Invasion planen, werden die düsteren Brüder unsere Grenzen nicht überschreiten. Unser Zauberbann ist dort sehr stark.«

Ein Elb beugte sich über Baru. »Calin! Der Mensch hier lebt noch!«

Martin lehnte sich gegen den Felsen zurück und keuchte: »Dieser Hadati ist zäh!«

Arutha lehnte Galains Hilfe beim Aufstehen ab. »Wie weit ist es noch?«

»Nicht ganz eine Meile. Wir müssen einen Bach überqueren, dann sind wir in unserem Wald.«

Bei Arutha und seinen Gefährten schwand die Verzweiflung, und neue Hoffnung machte sich breit, denn ihre Lage hatte sich gebessert. Mit den Elben als Begleitschutz war es unwahrscheinlich, daß die Moredhel stark genug waren, um sie zu überwältigen, selbst wenn sie einen neuen Angriff wagten. Und da Murad tot war, war es nicht unwahrscheinlich, daß ihre Gemeinschaft sich auflöste. Aus dem Verhalten vieler der düsteren Brüder zu schließen, war er es gewesen, der sie zusammengehalten hatte. Gewiß würde sein Tod Murmandamus einen Strich durch seine Pläne machen und ihn zumindest eine Weile schwächen.

Jimmy verschränkte die Arme vor der Brust. Er fröstelte und fühlte sich plötzlich in die Höhle am Moraelin zurückversetzt. Doch nicht nur dort hatte ihn diese Eiseskälte befallen, auch schon zweimal zuvor, einmal in Aruthas Schloß und einmal im Keller des Weidenhauses. Die Härchen am Nacken stellten sich ihm auf. Da zweifelte er nicht länger, daß etwas Unheimliches im Gange war. Er sprang von dem Felswall und blickte sich auf der Lichtung um. »Wir sollten zusehen, daß wir hier wegkommen!« schrie er warnend.

»Schaut!«

Die Leiche eines Schwarzen Kämpfers begann sich zu rühren.

»Sollen wir ihnen nicht die Herzen aus der Brust schneiden?« fragte Martin.

»Zu spät!« rief Laurie. »Wir hätten sofort daran denken müssen!«

Schwarze Kämpfer erhoben sich langsam und wandten sich, mit Waffen in der Hand, Aruthas Trupp zu. Mit schleppenden Schritten kamen sie näher. Calin erteilte brüllend Befehle, und die Elben kamen den erschöpften und verwundeten Menschen zu Hilfe. Zwei hoben Baru auf, und dann rannten sie alle los.

Die Untoten torkelten ihnen mit noch blutenden Wunden nach, doch schnell wurden ihre Bewegungen sicherer, als gewänne eine unsichtbare Kraft zusehends bessere Kontrolle über sie.

Immer schneller folgten die wandelnden Leichen. Elbenschützen rannten, blieben stehen, drehten sich um, schossen, doch erreichten sie damit nichts. Zwar trafen die Pfeile die Verfolger, warfen einige sogar zu Boden, doch sie standen wieder auf.

Jimmy schaute zurück. Irgendwie war der Anblick dieser Kreaturen, wie sie im strahlenden Morgenlicht durch den Wald rannten, viel schreckenerregender als alles, was er im Schloß oder der Kanalisation von Krondor gesehen hatte. Ihre Bewegungen wurden zusehends sicherer, wie sie nun, die Waffen kampfbereit, hinter ihnen herliefen.

Die Elben, die die verwundeten und erschöpften Menschen trugen, rannten weiter, während Calin den anderen befahl, die Untoten eine Weile aufzuhalten. Die Elbenkrieger zogen ihre Schwerter und stellten die Moredhel. Nach kurzem Kampfgetümmel zogen sich die Elben zurück. Der Nachhut gelang es zwar, das Vorankommen der Untoten zu verzögern, doch nicht, sie aufzuhalten.

Die Elben wendeten ihre erprobte Taktik an. Sie stellten sich dem Gegner, kämpften, zogen sich ein Stück zurück, stellten sich erneut und flohen dann. Doch da die Untoten nicht mehr getötet werden konnten, gewannen sie nur Zeit, ohne der Bedrohung Herr zu werden. Keuchend und nun ebenfalls erschöpft, kämpften die Elben heldenmütig gegen die Übermacht. Schließlich erreichten sie den Grenzbach.

»Wir sind nun in unserem Wald«, erklärte Calin. »Hier erwarten wir die Moredhel.«

Die Elben zogen ihre Schwerter. Arutha, Martin und Laurie folgten ihrem Beispiel. Schon watete der erste Moredhel mit gezogener Klinge durch das Wasser. Ein Elb machte sich zum Kampf gegen ihn bereit, doch in dem Augenblick, da der Untote den Fuß ans Ufer setzte, schien er etwas im Rücken der Verteidiger zu spüren. Der Elb schlug auf ihn ein, ohne ihm etwas anhaben zu können, trotzdem taumelte der Schwarze Kämpfer zurück und hob wie schutzsuchend die Hände.

Plötzlich preschte ein Reiter an den Verteidigern vorüber: eine Gestalt in Weiß und Gold gekleidet. Auf dem Rücken eines Elbenschimmels, einem der sagenumwobenen Rosse von Elbenheim, stürmte Tomas auf den Moredhel zu. Das Elbenpferd bäumte sich auf, da sprang Tomas vom Sattel, und mit seiner blitzenden Klinge hieb er auf den Untoten ein.

Einer züngelnden Flamme gleich kämpfte sich Tomas am Ufer entlang und wütete unter den Schwarzen Kämpfern, die den Bach überqueren wollten. Trotz ihrer zauberwirkenden Wiederbelebung waren sie hilflos gegenüber der vereinten Kraft seines Armes und der Valheru-Magie. Manchen gelang ein Hieb, den er jedoch mühelos abwehrte und mit unbeschreiblicher Gewandtheit erwiderte. Sein goldenes Schwert schlug zu, und schwarze Rüstungen zersplitterten unter seinen Hieben, als wären sie aus morschem Leder. Aber keiner der Untoten versuchte zu fliehen. Unerschrocken kamen sie heran und wurden niedergemacht.

Von allen Gefährten Aruthas hatte nur Martin Tomas einmal im Kampf gesehen, doch damals war er nicht so beeindruckt wie jetzt gewesen. Bald war der Kampf vorüber, und Tomas stand allein am Ufer des Baches.

Da wurde neuer Hufschlag laut. Arutha drehte sich um und sah weitere Elbenpferde herbeigaloppieren, geritten von Tathar und den anderen Zauberwirkern.

»Seid gegrüßt, Fürst von Krondor«, rief Tathar.

Mit einem schwachen Lächeln blickte Arutha zu ihm auf. »Dank euch allen!«

Tomas steckte sein Schwert in die Scheide. »Ich konnte euch nicht früher beistehen, doch zumindest einschreiten, nachdem diese Moredhel es wagten, die Grenze zu unserem Wald zu überschreiten.

Es ist meine Aufgabe, Elbenheim zu beschützen und zu erhalten.

Jeder, der die Kühnheit hat, einzudringen, bekommt meine Klinge zu spüren.« Er wandte sich an Calin und bat: »Laß einen Scheiterhaufen errichten. Diese schwarzen Dämonen sollen nie wieder auferstehen.«

Dann sagte er zu den Menschen: »Wenn sie eingeäschert sind, kehren wir nach Elbenheim zurück.«

Jimmy legte sich am Ende seiner Kräfte ins hohe Gras am Ufer.

Nach wenigen Augenblicken übermannte ihn der Schlaf.

 

Am nächsten Abend gaben Königin Aglaranna und Prinzgemahl Tomas ein Festmahl für Arutha und seine Gefährten. Galain näherte sich Arutha und Martin. »Baru wird genesen«, erklärte er. »Unser Heiler meint, er sei der zäheste Mensch, der ihm je begegnet ist.«

»Wann wird er wieder auf den Beinen sein?« erkundigte sich Arutha.

»So schnell nicht«, entgegnete Galain. »Ihr werdet ihn bei uns zurücklassen müssen. Er hat sehr viel Blut verloren, und einige der Wunden sind ernst. Murad hat ihm das Rückgrat verletzt.«

»Aber ansonsten wird er so gut wie neu sein«, rief Roald über den Tisch. Laurie murmelte: »Wenn ich zu Carline heimkomme, verspreche ich, nie wieder fortzugehen!«

Jimmy saß neben dem Fürsten. »Für einen, der das Unmögliche geschafft hat, seht Ihr mir recht nachdenklich aus. Ich dachte, Ihr wärt jetzt glücklich.« Arutha bemühte sich um ein Lächeln. »Das kann ich erst sein, wenn Anita gesund ist.«

»Wann reiten wir heim?«

»Morgen früh werden die Elben uns nach Crydee begleiten. Von dort nehmen wir ein Schiff nach Krondor. Bis zum Banapisfest müßten wir zu Hause sein. Wenn Murmandamus mich mit seiner Magie nicht finden kann, dürften wir auf einem Schiff sicher sein. Oder möchtest du lieber den Weg nehmen, den wir gekommen sind?«

»Nicht unbedingt«, antwortete der Junge. »Wer weiß, ob sich licht noch mehr Schwarze Kämpfer herumtreiben. Ich ziehe Jedenfalls Ertrinken einem nochmaligen Zusammenstoß mit ihnen vor.«

»Es wird schön sein, Crydee wiederzusehen!« freute sich Martin.

»Zweifellos werde ich mich um so manches persönlich kümmern müssen. Der alte Samuel hat bestimmt längst genug mit der Verwaltung, obwohl ich überzeugt bin, daß Baron Bellamy mich während meiner Abwesenheit würdig vertreten hat. Trotzdem gibt es gewiß eine Menge zu tun, ehe wir Weiterreisen.«

»Wir? Wohin?« fragte Arutha.

Mit unschuldiger Miene antwortete Martin: »Nach Krondor natürlich.« Aber seine Augen blickten nordwärts, und seine Gedanken ähnelten Aruthas. Dort oben war Murmandamus und eine unausweichliche Schlacht. Sie hatten zwar jetzt eine gewonnen, doch sie war nicht die entscheidende gewesen und nicht viel mehr als ein Scharmützel. Mit dem Tod Murads hatten die Mächte der Finsternis zwar einen Hauptmann verloren, waren zurückgedrängt, ja in die Flucht geschlagen worden, doch vernichtet waren sie nicht. Sie würden wiederkommen, vielleicht nicht morgen, aber eines Tages sicher.

Arutha wandte sich an Jimmy. »Du hast Mut, Klugheit und Geistesgegenwart bewiesen, wie sie über das von einem Junker zu erwartende Maß hinausgehen. Was hättest du gern als Belohnung?«

An einer Elchrippe knabbernd, antwortete der Junge: »Nun, Ihr braucht noch immer einen Herzog von Krondor.«