Unbewusste Umwege
Später lese ich auf einem Straßenschild: Santiago 70 km. Es ist das erste Mal, dass ich den Namen des ersehnten Ziels lese, auf das ich seit einem Monat zusteuere und das nun so nahe ist. Die Erfahrung von wenigen Minuten davor klingt noch nach, und obwohl dauernd Autos an mir vorbeibrausen, erinnere ich mich an einen Song von Faithless: »Your thoughts cease, a pleasure grows in your soul.«
Das Quartier in Cea ist laut offizieller Informationsbroschüre der Provinz Galicien mit einem rollstuhlgerechten Zimmer ausgestattet. Einfach nur ankommen und ausruhen. Die Straße in den Ort hinein ist steil. Aus einem Haus stürmt eine rüstige Spanierin auf mich zu und schiebt mich kurzerhand ungefragt hinauf. Ich wehre mich nicht, im Gegenteil, es ist ungefragte Hilfe zur perfekten Zeit in der richtigen Dosierung! Die Wunder des Jakobswegs sind manchmal groß und manchmal klein.
Der Herbergsbetreuer, Orlando Torres, macht seinem Namen alle Ehre, groß und stämmig steht er wie ein Fels in der Brandung und begrüßt einen mit brachialem Händedruck. Das Schwarze unter den Fingernägeln passt perfekt zu seinem Hut, den er auch in geschlossenen Räumen selten absetzt.
Er hat den tatsächlich vorhandenen großen rollstuhlgerechten Raum mangels Nachfrage zur Abstellkammer umfunktioniert. Wir lachen beide, als wir das mit Gerümpel voll gestellte Zimmer gemeinsam betrachten. Es bräuchte ziemlich lange, um das ganze Zeug wegzuräumen.
Ihm ist die Sache sichtlich unangenehm, also wirft er mir ein Bier aus dem Kühlschrank zu und fordert mich auf, mich nach Belieben weiter zu bedienen.
Wären wir jetzt in einem Film, würde ich anfangen, hysterisch zu lachen, und dann vor Erschöpfung kollabieren. Die Lektion, die ich lerne, ist immer wieder die gleiche. Erwartungen sind der Killer, lautet sie schlicht und einfach.
Die Abstellkammer von Orlando Torres. Ein Mann wie sein Name
Notdürftig bauen wir im Erdgeschoss ein Nachtlager für mich und entrümpeln zumindest den Weg zum Bad. Der Abfluss ist, wie könnte es bei dieser Glückssträhne anders sein, verstopft. Bin ich wirklich der Erste, der hier duscht?
Abends, die Esskastanien, die ich unterwegs aufgelesen hatte, liegen geröstet vor mir auf dem Teller, kommt eine Gruppe von sieben Pilgern. Sie laden mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit ihr Auto aus. Später frage ich Orlando, der nicht permanent im Haus anwesend ist, sondern als städtischer Beamter das Anwesen extern verwaltet, wie er mit Touristen, die mit dem Auto unterwegs sind, verfährt. »Was soll ich machen? Ich sehe das Auto, aber sie haben Pilgerausweise.«
Jeder pilgert anders.
Orlando weckt mich morgens mit einem Café con leche und Biskuits aus der benachbarten Bar und erklärt mir die Route. Jetzt fokussiert sich meine gesamte Energie auf das Erreichen des Ziels, auch wenn ich Santiago schon kenne.
Vor drei Jahren habe ich es, von Pamplona kommend, mit Lydia zusammen nach 24 Tagen erreicht. Die damaligen 750 Kilometer empfand ich als deutlich mühsamer. Die Ausrüstung war noch nicht erprobt, und jedes einzelne Teil gab sukzessive den Geist auf und musste repariert oder ersetzt werden. Zu der Strapaze des Pilgerns kam die permanente Unsicherheit, was wohl als Nächstes kaputtgeht, eine Speiche, ein Bolzen am Rollstuhl, die Reisetasche? Einmal musste sogar ein Ersatz-Blasensteuergerät aus Deutschland eingeflogen werden, meins war defekt und zwang uns, die Etappen anders zu planen.
Santiago also, das alte und neue Ziel, da will ich hin! Und dann weiter zu Roberto, abschließen, wozu mir vor drei Jahren die Kraft und der Wille fehlten. Über den druidischen Pilgerweg werde ich nach Finisterre an den westlichsten Punkt Spaniens weitermarschieren. Wörtlich übersetzt bedeutet Finisterre »Ende der Welt«, auch ich habe es lange Zeit fälschlicherweise für das westlichste Ende von Europa gehalten.
Mit dem ersehnten Ziel vor Augen, zieht sich jeder Anstieg besonders lang. Eine Geduldsprobe, denn in Gedanken bin ich schon da und diese Meter sind einfach nur lästig. Dabei ist es das Ende, das ganz besonders in Erinnerung bleibt, es ist daher wichtig, wie ich mich von dem Camino verabschiede.
Seit Beginn der Reise suchen meine Augen den Wegrand immer nach grasigen Stellen ab, in der Hoffnung, vierblättrige Kleeblätter zu finden. Völlig unerwartet entdecke ich plötzlich Dutzende. Selig wie als kleiner Junge, der damals ständig vierblättrige Kleeblätter fand, pflücke ich sie und lege sie in meinen Wanderführer. Es ist kein Zufall, dass ich so viele finde, beschließe ich. Felix, der Glückliche.
Wenn es ein inneres Kind gibt, so kann meines oft während der vier Wochen lustig sein und spielen. Nicht nur heute. Es konnte lachen und sich Dinge ausdenken, für die im normalen Arbeitsalltag kein Platz ist. Wie wäre es, die Kuh, die am Seeufer grast, ins Wasser hineinzuschubsen, um zu sehen, ob sie schwimmen kann?
Die untergehende Sonne jeden Tag hautnah mitzuerleben, bereitet einen erfüllten Tagesabschluss vor. Die Luft wird kühler und das Gefühl kommt auf, jetzt nach Hause gehen zu wollen.
Was selten möglich war unterwegs, ist nach Herzenslust einzukaufen. Hier ist es anders: ein riesiges Einkaufszentrum steht von weitem sichtbar in der Landschaft. Ein neuzeitliches Mekka. Gierig packe ich so viel Lebensmittel in eine Kiste, wie noch nie auf der gesamten Reise. Immer wieder muss ich Dinge weglegen, weil ich etwas anderes finde, natürlich einschließlich einem kleinen Biervorrat. Gewicht spielt jetzt überhaupt keine Rolle mehr, irgendwie muss alles in meinem Rucksack oder auf meinem Schoß Platz finden, um die letzte Übernachtung vor Santiago zu feiern. Wird es wirklich die letzte sein?
Die denkmalgeschützte, vollständig renovierte Herberge in Laxe ist kalt und hat gewaltige Ausmaße. Hier könnte problemlos eine Hochzeitsfeier in gepflegtem Rahmen mit 500 Personen veranstaltet werden. Zweimal verlaufe ich mich auf meinem Weg zurück in mein Zimmer. Unnötig zu sagen, dass ich wieder allein bin. Zum wievielten Mal inzwischen?
Ich liege schon im Bett, als ich Geräusche höre. Erschrocken fahre ich zusammen. Mein Bauch krampft und ich stelle mir vor, wie ich hier unbemerkt ermordet werde — als Pilger wenige Kilometer vor dem Ziel eiskalt niedergestreckt! Würde mich das nicht zu einem richtigen Märtyrer machen? Nachdem ich einmal schon in Santiago als Pilger angekommen bin, würde auf meinem Grabstein PILGER stehen.
Ich steige aus dem Bett und treffe das Mitternachtspärchen, das vor zwei Tagen in Ourense an die Klostertür gehämmert hatte. Deborah kommt aus San Diego, und ihr 40-jähriger Begleiter irgendwo aus Spanien. Er behauptet, evangelisch und katholisch zugleich zu sein, irgendwie verebbt die merkwürdig undifferenzierte religiöse Unterhaltung bald. Deborah findet es cool, »to do the camino«. Meinetwegen, heute Nacht ist mir alles egal, wir rösten die Esskastanien, die ich unterwegs aufgelesen habe, und trinken den Rest meines Biervorrates.
Als örtliche Besonderheit schließt hier die Feuerwehr die Herberge auf und zu. Wie gut, dass sie mich an diesem Morgen vergessen hat. Ein Lager am Vorderrad ist defekt, es blockiert und bremst den Stuhl.
Eigenartig, so kurz vor dem Ziel noch eine letzte Reparatur durchzuführen, oder will etwa auch der Rollstuhl noch gar nicht ankommen? Na na, rede ich ihm zu, wir sind jetzt schon seit 2500 Kilometern auf irgendwelchen Jakobswegen in Deutschland, Frankreich und Spanien unterwegs, wer wird denn da jetzt klammern!
Also noch einmal Herumschrauben, was mir ein echter Graus ist. Immer fällt irgendein Kleinteil auf den Boden und kullert zielgenau in den äußersten Winkel des Raumes. Das zwingt mich, im dreirädrigen Rollstuhl, das abmontierte Rad liegt neben mir, wacklig hinüberzufahren, um das Teil zu suchen. Diesmal ist es eine Unterlegscheibe, sie ist natürlich unters Bett gerollt. Mit einem Besen bekomme ich sie zu fassen. Das muss wohl noch einmal sein zum Schluss.
Warum ich Galicien nicht mochte: Schlammige unausgebaute Pfade
Anstatt zügig voranzuschreiten, trödele ich lustlos. Die Reise wird bald zu Ende sein, und irgendwie auch nicht. Was heute auch passiert, sage ich mir, du wirst in Santiago ankommen, und wenn du für die letzten Kilometer ein Taxi nimmst. Muss ich ja niemandem erzählen...
Warum beschließe ich dreizehn Kilometer vor dem Ziel, einen unbekannten Umweg zu nehmen? Vordergründig, weil die Stunden an dieser lauten Straße ganz und gar nicht der ruhige Abschluss sind, wie ich ihn mir vorstelle. Ich möchte die letzten Kilometer in Ruhe in mich aufnehmen und mich darauf freuen, es bald geschafft zu haben. Oder suche ich unbewusst nach einem Trick, die Reise doch noch zu verlängern?