Felix, der Glückliche?

 

Mein Vater bemühte sich, nach dem Tod meiner Mutter ein halbwegs intaktes Familienleben aufrechtzuerhalten. Mittags hetzte er aus seinem Büro nach Hause, wärmte etwas auf, das unsere Haushälterin oder seine Freundin vorgekocht hatte. Ich nörgelte so gut wie immer herum und meckerte über das Essen. Mitten in der Pubertät steckend fand ich alles blöd und beschloss, zu Hause gar nichts mehr zu erzählen von den Dingen, die mich bewegten. Mit meinen Brüdern überwarf ich mich vollkommen, sie wurden für mich zu regelrechten Feindbildern.

Ein Jahr später stellte uns mein Vater offiziell seine Freundin vor, Jutta. Sie war in seinem Alter, hatte selbst drei Kinder und es war offenkundig: Beide empfanden ihr gemeinsames Glück größer als sechs Richtige im Lotto. Mein Vater erklärte uns frei heraus, dass es ihm gleichgültig sei, ob wir seine Freundin sympathisch finden oder nicht. »Endlich lebe ich mein Leben. Ich liebe diese Frau von ganzem Herzen. Das sind jetzt meine goldenen Jahre.«

Leicht widerstrebend musste ich ihm recht geben: Er sah so gut aus wie selten zuvor. Plötzlich trug er modische Kleidung, ging permanent ins Theater, in ein Restaurant oder sie waren zusammen auf Reisen. Vielleicht war das auch ein Grund dafür, warum wir beide bald übereinkamen, dass ich als Austauschschüler ein Jahr in die USA gehen sollte.

 

Leider geriet ich dabei vom Regen in die Traufe. Ich landete bei einem fundamentalistischen Pfarrer in einem 1320 Einwohner zählenden Dorf in Nebraska, eine Autostunde von der nächst größeren Stadt entfernt. Der reinste Horror. Die ersten drei Monate hatte ich einen Aktionsradius von einem Kilometer. Die Highschool befand sich direkt gegenüber der Kirche, wir wohnten in dem Pfarrhaus gleich nebenan.

Mit dem Mut der Verzweiflung beschloss ich, durchzuhalten und das Beste daraus zu machen. Neben dem Highschool-Abschluss würde ich hier sogar noch einen amerikanischen Führerschein machen können, mit dem ich in Deutschland auch schon als 17-Jähriger Auto fahren durfte.

Ein Versuch, die Gastfamilie zu wechseln, scheiterte, und so stürzte ich mich in sämtliche Aktivitäten, die die Highschool zu bieten hatte: Chor, Football, Track & Field, Wrestling usw., und natürlich alle Arten von Kirchenveranstaltungen, die der Pfarrer organisierte. Dazu gehörten glücklicherweise auch Wochenendreisen, sodass ich das Land und seine Menschen wenigstens ein bisschen kennenlernen konnte.

Über Weihnachten fuhr ich mit dem Greyhoundbus für ein paar Tage nach Florida, um einfach in der Sonne zu liegen und mir vielleicht mal etwas anderes zu essen zu kaufen als Toastbrot und Scheiblettenkäse mit einer Coke.

Ich war mir nicht sicher, auf welcher Seite des großen Teiches es besser war. Between a rock and a hard place.

Ich war noch keine vierundzwanzig Stunden wieder in Deutschland zurück, da hielt ich den ersten Joint meines Lebens in der Hand. In meinem abgelegenen Bauernstaat hatte ich die Entwicklung meiner Kumpels gar nicht mitbekommen und hielt die Tüte für eine selbst gedrehte Zigarette. Auch die Haarlänge der anderen übertraf meine um geschätzte zwölf Monate Nichtschneiden. In Nebraska wäre ein solcher Hippieauftritt gar nicht gut angekommen. Mein Freund Frank war nun nicht mehr John Rambo, sondern Slash, der Gitarrist von Guns ’n Roses. Stilecht rannte er mit gefärbten schwarzen Haaren und Zylinder herum. Ich führte mich als Rocker auf, war aber vor allem auf der Suche nach Halt. Die gab mir die Rockmusik, inklusive cooles Gehabe, abgefahrene Klamotten und viel Alkohol.

Wibke kam das erste Mal nach einer Party bei einem Klassenkameraden mit zu mir. Ich hatte zwei Zimmer für mich in unserem Haus, ein helles unterm Dach, das so genannte Turmzimmer, und eins im Keller. Zusammen hörten wir John Lennon und tanzten eng umschlungen bei Kerzenlicht im Kellerraum. Dazu tranken wir Wein, den ich im Anschluss an eine Wanderung durch die Pyrenäen in Spanien gekauft hatte. Er schmeckte sehr gut, unser erster Kuss war aber unvergleichlich besser. Erst früh morgens ging Wibke nach Hause.

Wir verbrachten die nächsten Wochen mehr oder weniger pausenlos miteinander. Wir hörten Musik, gingen viel spazieren, küssten uns, aber niemals mehr. Dass wir vielleicht noch mehr voneinander wollten, trauten wir uns nicht einzugestehen. Ich war wahrscheinlich zu sehr Raufbold, der lieber einen Freund verliert als einen Spruch verschenkt, und sie mir zu sehr das Mauerblümchen, das zwar schön, aber doch ziemlich still vor sich hinblüht.

Das letzte Mal sahen wir uns vor meinem Unfall an der Essener U-Bahn-Haltestelle Rüttenscheider Stern. Sie war mit ihrer Freundin auf dem Weg in die eine Richtung und ich mit Frank in die andere. Wahrscheinlich wollte ich ihm beweisen, was für ein flotter Kerl ich war, und gab nur einen Spruch nach dem anderen von mir. Wie ich erst viel später erfuhr, hatte sie sich vorgenommen gehabt, mir bei der Abiturfeier etwas zu sagen, das sie mir schon länger sagen wollte. Den Abend der Feier verbrachte ich dann allerdings auf der Intensivstation des Krankenhauses Berlin-Steglitz, und sie aus Kummer deswegen zu Hause.

Bei einem überraschenden Besuch in Bad Wildungen sagte sie etwas sehr Schönes. »Mit dir verbindet mich etwas, das ich ein Leben lang behalten möchte.« Das wollte ich auch.

Noch einmal dreizehn Jahre später offenbarte sie mir, dass sie mir damals eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen. The road not taken.

 

Einige Monate nach meinem Motorradunfall wurde bei meinem Vater ein malignes Melanom diagnostiziert. Später erfuhr ich, dass die Ärzte einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Schock über meinen Unfall und dem plötzlichen Hervorbrechen des Krebses sahen.

Er selbst verschwieg mir jedoch alles, um meine Rehabilitation nicht zu gefährden, und unterzog sich einer aufwändigen Operation. Sie war erfolgreich.

Er verfolgte meine Fortschritte und anschließend mein Studium aus der Ferne, ohne allzu viel zu fragen. Sicher hatte er Angst, von mir eine patzige Antwort zu bekommen. Und ich war so mit mir und meinen Schmerzen beschäftigt, dass ich seine Not gar nicht wahrnahm.

Zehn Jahre später wurde bei ihm erneut Krebs diagnostiziert. Kurz bevor ich mich das zweite Mal auf den Jakobsweg machte, diesmal auf die Grand Route 65 durch Frankreich, erzählte er mir fassungslos, dass er sich erneut einer Operation unterziehen musste. Das war im Mai 2004.

Es ist einmal gut gegangen, dann wird es auch ein zweites Mal gut gehen, dachte ich und fuhr nach Le Puy en Velay, an den Ausgangspunkt meiner über 500 Kilometer langen Tour quer durch Frankreich.

Es ging kein zweites Mal gut. Die Heilungschancen lagen diesmal nur bei etwa fünf Prozent. Keiner von uns wollte das wirklich wahrhaben.

Von Moissac aus rief ich ihn an, um ihm freudig zu erzählen, dass ich mein Ziel früher als geplant erreicht hätte. Während des Gesprächs war er ganz bei mir, er zeigte sich interessiert und fragte nach. Für ihn wäre Wandern oder gar Pilgern freilich nie in Frage gekommen, er litt still für sich, zu Hause, nicht in der Natur.

Nach meiner Rückkehr sahen wir uns mindestens einmal die Woche und ich hoffte inständig, dass er die Krankheit auch als Öffnung, vielleicht sogar als Öffnung für Gott, verstehen würde. Aber er wehrte sich weiterhin, die Dinge zu hinterfragen. In den folgenden Wochen konnte ich von meinem Vater Abschied nehmen, mit ihm vollständigen Frieden schließen und ihm von Herzen danken.

Einmal konnte er sogar noch gemeinsam mit Jutta und mir auswärts Mittag essen gehen. Obwohl er sehr mit Übelkeit zu kämpfen hatte, schien er das Ganze doch auch zu genießen. Auf der Rückfahrt lächelte er etwas müde, und erst in der Ruhe meiner Wanderung konnte ich diesen gütigen Gesichtausdruck dechiffrieren, als ob er sagen wollte: »Ein Leben lang hast du dich als Jüngster an mir gerieben und endlich erkannt, dass ich dir auf die Art, wie ich es konnte, alles gegeben habe.«

 

Eines Tages übernachtete ich bei Jutta in ihrer gemeinsamen Wohnung. Auch sie hatte die Ungleichbehandlung seiner drei Söhne nie verstehen können. Einmal konfrontierte sie meinen Vater erneut mit dieser Frage, woraufhin er ihr — ein einziges Mal — erschöpft zur Antwort gab: »Es sind nicht alles meine Kinder.«

Mehr sagte er dazu nie. Ich bekam eine Gänsehaut, als Jutta mir das erzählte, ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich erinnerte mich an die Worte der Schwester meiner Mutter, die mir mehrmals gesagt hatte, ich solle endlich ein klärendes Gespräch mit meinem Vater führen. Doch immer, wenn ich es versucht hatte, hatte er den Unwissenden gespielt. Es gäbe nichts zu sagen, Affären habe es keine gegeben, weder von ihm noch von meiner Mutter.

Als ich die Tante jetzt mit der Andeutung meiner Stiefmutter konfrontierte, begann sie endlich zu reden.

»Deine Oma ist nicht zu deiner Geburt gekommen, da sie erfahren hatte, dass deine Mutter deinen Vater betrogen hat. Du weißt, wie sehr Oma deinen Vater geliebt hat! Mir gegenüber hat sie sich ein einziges Mal versprochen, aber ich durfte nichts sagen.«

Was wusste mein Vater?

Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, stürmte ich in die Klinik, um endlich die Wahrheit zu erfahren. Konnte es wirklich sein, dass er nichts wusste?

Wieder bestritt er alles. »Und selbst wenn es so wäre und du erfahren würdest, dass dein leiblicher Vater ein wohlhabender Mann ist, würde das etwas ändern? Meinst du, er wäre dir ein besserer Vater gewesen?« Für ihn war damit das Gespräch beendet.

Ich konnte es jedoch nicht dabei belassen. Bei einem staatlich geprüften Labor in Berlin bestellte ich ein Set für einen Vaterschaftstest, mit ihm in der Tasche fuhr ich wenige Tage später noch einmal zu meinem Vater. Ich erklärte ihm, dass ich den Test jetzt machen würde, ich müsse einfach wissen, woran ich sei.

»Wollen wir uns die 300 Euro nicht sparen, und lieber erzählst du mir die ganze Geschichte?«

Er schüttelte nur den Kopf. Ich hatte den Eindruck, für ihn war das Ganze ein Spiel mit der Zeit, denn es würde sieben Tage dauern, bis das Ergebnis frühestens feststehen würde.

Ich nahm also die vorbereiteten Wattestäbchen und rieb sie jeweils an der Wangeninnenseite meines Vaters und an meiner. Dann verschloss und versiegelte ich die Röhrchen vorschriftsmäßig.

Selten habe ich meinen Vater mich so kummervoll anblicken sehen wie in diesem Moment. Als ob er sagte: Junge, lass doch gut sein. Mach dir dein Leben nicht immer so schwer!

Nach sieben Tagen rief ich in dem Berliner Labor an, und man erklärte mir, dass sie immer dann sicherheitshalber einen Kontrolltest durchführen würden, wenn ein Ergebnis negativ sei — was im Klartext heißen sollte: wenn es sich bei einer Probe nicht um die Probe des leiblichen Vaters handeln würde. Das sei in meinem Fall der Grund für die Verzögerung.

Jutta wusste von meinem Vorhaben, nach dem Ergebnis hat sie mich nie gefragt. Einen Tag, nachdem mein Vater gestorben war, kam der Brief bei mir an. Das Ergebnis war negativ.

In kritischen Situationen hatte er oft im Spaß zu mir gesagt: Saved by the bell! So hatte er es auch dieses Mal gewollt.

 

Der Mann meiner Tante, ein erfahrener Rechtsanwalt, riet mir, die Sache geheim zu halten. Ich könnte ja nicht einmal sicher sein, ob ich überhaupt Erbe sei. »Verbrenne das Ergebnis«, legte mir meine Tante nahe, ein Rat, den ich nicht befolgte.

Als ob mir der Boden unter den Füssen entzogen war, fühlte ich nichts, ich war unfähig zu arbeiten oder zu verarbeiten, was geschehen war, und wusste auch nicht, wen ich um Hilfe bitten konnte. Völlige Leere umgab mich. Ich betete nonstop.

Im Internet suchte ich nach Selbsthilfegruppen, fragte bei dem Labor nach, ob sie mit Psychologen Zusammenarbeiten würden. Diese waren auf Hilfe für Väter spezialisiert, nicht aber auf Hilfestellungen für Kinder. Niemandem vertraute ich mich an, erst Wochen später konnte ich mich gegenüber engsten Freunden und Familienangehörigen öffnen. Darüber zu sprechen half ein bisschen, immerhin.

Plötzlich glaubte ich zu verstehen, warum ich nie den uneingeschränkten Rückhalt meines Vaters gespürt hatte, sondern immer sein Bemühen, ein guter Vater sein zu wollen. Ohne Zweifel war er das, nur fehlte in meiner Wahrnehmung immer das letzte Quäntchen.

 

Meine Tante und ich schienen uns in dieser schweren Zeit gegenseitig zu stützen. Ich besuchte sie in München, wir gingen gemeinsam ins Theater und anschließend essen. Wie verblüffend ähnlich sie meiner Mutter sah. Plötzlich war sie die einzige noch verbliebene leibliche Verwandte, nachdem die weit verzweigte Familie meines Vaters so unvermittelt ausgefallen war.

Unser Glück währte nur wenige Monate. Als sie hörte, dass ich einen Anwalt eingeschaltet hatte, um meine Interessen zu vertreten, fiel sie mir in den Rücken. Ihrem Rat, mich still zu verhalten, konnte und wollte ich nicht folgen.

 

Dem eigenen Leben auf der Spur
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