Das Ende
Viele Jahre lang verbrachten wir Weihnachten in Saalbach-Hinterglemm. Nun wollten wir hier ein letztes Mal als Familie feiern, zu fünft an einem Tisch. Der Eklat war vorprogrammiert, nur wusste niemand, wann es knallen würde.
Das Geschenkeverteilen rettete uns noch über den Beginn des Weihnachtsabends, aber irgendwann stritt sich meine Mutter heftig mit meinem mittleren Bruder, den sie über alles liebte, der ihr aber inzwischen auch das Gefolge verweigerte. Mein ältester Bruder saß mit großen Augen daneben und wusste nicht, wie ihm geschah. Er liebte meine Mutter abgöttisch.
Am ersten Weihnachtsfeiertag reiste sie ab, nachdem der Streit vollends eskaliert war. Irgendwie waren wir froh darüber, es ging einfach nicht. Abends machten wir uns Luft und gingen Rodeln und uns Austoben. Keiner sprach ein Wort über das, was vorgefallen war.
Am zweiten Feiertag reisten dann meine Brüder ab, ich meldete mich in einem Skikurs an.
Als mein Vater am nächsten Tag abends in unser Apartment kam, wusste ich sofort, dass etwas Schlimmes geschehen war. Zum ersten Mal überhaupt sah ich ihn weinen.
»Du hast jetzt keine Mutter mehr«, sagte er mit tränenerstickter Stimme zu mir.
Ich muss ihn nur fragend angesehen haben.
»Sie ist tot. Ich komme gerade aus Salzburg, wo ich sie identifizieren musste.«
Ich brach zusammen und legte mich heulend ins Bett. Wie in weiter Ferne hörte ich, wie mein Vater am Telefon allen die schreckliche Nachricht mitteilte. Mit mir redete er nicht mehr. Auch später erklärte mir keiner, was geschehen war, man ließ mich in dem Glauben, es sei ein Unfall gewesen. Ein Autounfall. Bis zu meinem Abitur sollte ich die Geschichte so erzählen.
Meine Brüder kamen zurück, und wir saßen alle mit roten Augen um einen Tisch im Hotelrestaurant. Alle schwiegen wir, jeder ging auf seine Art und Weise isoliert damit um.
»Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich mit ihr spazieren gegangen und hätte versucht, das Schlimmste zu verhindern«, erklärte uns die Hotelmanagerin. Ich stand nur ratlos daneben, wollte aber nicht nachfragen. Sie war für mich nicht tot, sondern nur fortgegangen. Ich erwartete, dass sie mir zu Hause wieder die Tür aufmachen würde, als ob nichts geschehen wäre.
Die Beerdigung fand am 31. Dezember statt, alles sollte im alten Jahr bleiben.
Ich weigerte mich Abschied zu nehmen, flüchtete mich in eine Scheinwelt und lehnte eine Teilnahme an der Beerdigung ab. Mein mittlerer Bruder, mit dem sie sich zuletzt gestritten hatte, hielt in der Offiziersuniform der Gebirgsjäger Totenwache. Es sah aus, als sühnte er so den Streit, durch den er sich für ihren Selbstmord verantwortlich fühlte.
Als junge Frau war meine Mutter schnurstracks dem Erstbesten in die Arme gelaufen, der sie aus ihrem Elternhaus befreien konnte. Von ihrer Mutter war sie oft geschlagen worden, krankenhausreif, wie es hieß. Diese erste Ehe meiner Mutter wurde kurze Zeit später schon wieder geschieden, und nach einer Affäre mit ihrem Beichtvater heiratete sie, bereits schwanger mit meinem Bruder, meinen Vater. Das Kind kam mit einer Hasenscharte auf die Welt.
Später kam dann endlich ihr lang ersehnter Sonnenschein: Als zweites Kind bekam sie einen blonden Jungen mit blauen Augen, der nie schrie und sehr früh schon sehr selbständig war. Endlich der schöne Junge, der ihrer ebenbürtig war und mit dem sie sich nicht zu schämen brauchte.
Es folgten die sieben Jahre am Persischen Golf und in Nigeria, dann wurde ich geboren. Ich kam in einer Privatklinik in Siegen zur Welt, zu einem von meiner Mutter festgesetzten Termin. Sie hatte die Sterne befragt und eine günstige Konstellation am 22. November festgestellt, Sternzeichen Skorpion, Aszendent Skorpion.
Bei meiner Geburt war sie allein, mein Vater war noch im Ausland und ihre Mutter kam aus Missbilligung nicht zu ihr.
Was war hier nicht zu billigen, fragte ich mich später oft. Die Eltern hatten mit einem Kind ihre kriselnde Ehe retten wollen.