Vergebliche Eile
Ich plane meine Tagesetappe neu, und bin bald darauf und so früh wie noch nie an der nächsten Herberge angelangt, in Grimaldo. Den Schlüssel erhalte ich von der Betreuerin, da in dieser Gegend jedoch bis 18 Uhr Siesta gehalten wird, verschwindet sie schnell wieder.
Ein paar heimatliche Gefühle werden bei mir aktiviert, als ich eine Plakette entdecke, die darauf hinweist, dass ich eine Errichtung vor mir habe, die gemeinsam mit der deutschen Sankt Jakobusgesellschaft in Aachen geführt wird.
Ich habe Zeit im Überfluss, also flicke ich das winzige Loch im Reifen. Wie oft werde ich noch so dasitzen?
Zugleich überkommt mich Trauer wegen dieser ungeplanten Pause. Die Herberge ist dunkel, ich fühle mich abgeschnitten vom Leben und irgendwie abgeschoben. Im Vergleich zu dem inzwischen von mir gewohnten Streckenpensum war dieser Tag deutlich zu bewegungsarm, ich ziehe mich wie ein verwundetes Tier in ein Zimmer zurück und schlafe ein.
Im Traum wandere ich glücklich weiter, diesmal ohne Rollstuhl. »Hier sind keine Treppen«, ist die Erklärung, »nur wenn Stufen da sind, benötigst du den Rollstuhl.« Das ist logisch. Die Wanderung auf zwei Beinen fühlt sich unendlich leicht an, auch wenn der Gang etwas unsicher ist. Wie mit neunzehn — vor dem Unfall. Zwei baskische Radfahrer reißen mich aus einem todesähnlichen Schlaf, indem sie rücksichtslos in das Zimmer hereinpoltern.
Die Wirtin der Kneipe nebenan kocht für uns. Wir sitzen zusammen mit anderen Gästen an Tischen auf dem Gehweg der unbefahrenen Hauptverkehrsstraße. Die Radfahrer sprechen wenig, nur die Wirtin erzählt. Ein Pilger habe gestern von mir gesprochen. Wahrscheinlich Ludek, denke ich, und frage mich, wo er sich wohl jetzt befindet. Wenn er nicht aus irgendeinem Grund aufgehalten wird, werden wir uns wohl nie wiedersehen. Adressen haben wir nicht ausgetauscht. Auf dem Jakobsweg macht man das generell nicht. Warum eine göttliche Zusammenkunft unnötig verlängern?
Die Bar schließt sehr früh, und mit uns versiegt das letzte Leben in dem kleinen Kaff. Die Radfahrer wollen auch nicht weiterfeiern. Damit ist die Party für den heutigen Tag beendet.
Die Gefühle beim Pilgern ähneln denen beim Motorradfahren. Unter mir der harte Straßenbelag, Wind auf der Haut, absolute Freiheit, heute hier, morgen dort. Wild is the wind. Wie groß ist diese Freiheit? Habe ich sie mir vielleicht nur vorgegaukelt? Ist sie nicht nur eine Illusion? Mit meinem Kawasaki Chopper konnte ich nicht einmal eine Treppe hinauffahren oder einen Motocross-Parcours meistern. Über Hindernisse musste das Ding genauso geschoben werden wie jetzt der Rollstuhl. Der einzige, natürlich entscheidende Unterschied besteht darin, dass ich das Motorrad ohne Hilfe durch andere über Hindernisse manövrieren konnte.
Der süßliche Geruch von Tabak versetzt mich in einen Amsterdamer Coffee Shop. Seit Stunden sehe ich nur rote Chilischoten, und jetzt Tabakfelder. Come to where the flavor is, und das im westlichen Europa? Überall Pagoden oder Scheunen, aus denen es süßlich riecht.
Auf Tomatenfeldern finde ich frische, rote Früchte, ein Bauer schenkt mir eine Honigmelone, dazu esse ich Chilischoten. So frisches Obst und Gemüse habe ich in Frankfurt lange nicht mehr bekommen.
Zähe Kilometer. Die Landschaft bietet keine Ablenkung, und das Ziel will nicht näher kommen. Ich muss die Zeit abspulen, und dazu brauche ich Disziplin. Disziplin, um mich nicht einfach ins Gras zu legen oder das Angebot eines Mofafahrers anzunehmen, mich ein Stück des Wegs ziehen zu lassen. Nach einer Pause gestaltet es sich noch viel zäher, diesen monotonen Kreislauf zu durchbrechen.
»Wenn ich mich selbst nicht bewege, bewegt sich gar nichts«, erklärte mir eine Bekannte, als sie vom Jakobsweg zurückkam, nachdem sie mir zuvor ein Jahr lang in den Ohren gelegen hatte, wie schlecht es ihr gehe. Ich freute mich, dass sie meinem Rat gefolgt war und etwas in ihrem Inneren veränderte, um die Außenwirkung nachzuziehen. »Danke, dass du mich auf den Weg gebracht hast«, sagte sie nach ihrer Rückkehr. »Es kam nur durch mich, nicht von mir«, erwidere ich. Wie schön, Werkzeug sein zu dürfen.
Die Leere ist so groß, dass sogar Gebete unmöglich sind. Für jede noch so kleine Abwechslung mache ich einen Halt. Die Wegbeschreibung für die kommenden Kilometer kenne ich fast auswendig, so oft habe ich sie gelesen in der Hoffnung, dass doch irgendetwas passiert. Durst, Wasser trinken, nichts hilft, der Weg wird nicht kürzer. Alles bremst. Ist das die berüchtigte Einsamkeit des Langstreckenläufers, die ich spüre, wie der Held in der Geschichte von Alan Silitoe?
Bauern bei der Tabakernte
Was für eine Wohltat sind da kurzfristig die Biere und die Tapas in der Bar im nächsten Dorf, das ich erreiche! Der Barkeeper und ein Gast feiern mich und die Tatsache, dass ich jetzt schon so lange erfolgreich unterwegs bin.
Hinter Galisteo erweist sich die Wirkung des Alkohols leider als gar nicht gut. Meine Verfassung bremst mein Tempo doch signifikant, immer wieder schlafe ich sekundenlang beim Rollen ein. In Frankfurt bin ich eines Nachts in genau so einer Situation auf dem Weg von einer Disko nach Hause beim Rollen eingeschlafen — bis mich ein Laternenpfosten jäh stoppte.
Hier gibt es kein Hindernis, das mich aus der Trance reißt. Das einzige Geräusch, das ich höre, ist mein Atem, und bei jedem Schweißtropfen, der von meinem Gesicht auf meine Beine fällt, glaube ich, einen kleinen Aufschlag zu vernehmen.
Als ich mich umdrehe, sehe ich Galisteo auf einer kleinen Anhöhe liegen, vollständig von seiner Stadtmauer umgeben. Diese mittelalterlichen Mauern schufen für mich allerdings eine so beklemmende Atmosphäre, dass ich nicht bleiben konnte. Außerdem sehne ich den Luxus von Elenas Privatherberge in Carcaboso herbei, den ich zwischen den Zeilen des Reiseführers herauszulesen glaube. Ein sonnendurchflutetes Penthouse mit Parkettboden und Waschmaschine steht mir ganz deutlich vor Augen, vielleicht sogar mit Internet Hot-Spot und On-screen-Fax?
Ich erlebe eine vollständige Bauchlandung. Elena, eine 75-jährige Dame, und ihr Sohn schicken mich sofort weiter zur lokalen Sporthalle. Sie sehen keine Möglichkeit, mir zwanzig Stufen in den ersten Stock hinauf zu helfen. Außerdem, wie sollte ich von da oben morgen früh wieder herunterkommen, oder was passiert bei einem Feuer? In der Sporthalle sei ich auch nicht allein, trösten sie mich, dort übernachte noch eine weitere Pilgerin. Ich werde hellhörig.
Elena kümmert sich liebevoll und organisiert eine Matratze für den harten Hallenboden. Dank meines Mini-Wörterbuchs ist auch die technische Kommunikation kein Problem. Ein spanischer Buddy Holly soll mir auf seinem klapprigen Fahrrad den Weg zeigen.
Allein wäre ich deutlich schneller gewesen, da die Sporthalle nicht schwer zu finden ist. Jedem, den er trifft, erzählt er erst mal kurz meine Geschichte, und alle finden ihn super dafür, dass er mich kennt und er mir jetzt sogar den Weg zeigt. Aber es ist okay, ich vertreibe mir die Zeit damit, dass ich mir vorstelle, wie Buddy Holly zu singen anfängt, während ich ihn auf der Luftgitarre begleite.
»Eigentlich sollte jeder Pilger ein richtig nutzloses Gepäckstück dabei haben, um ein bisschen Spaß in die manchmal wirklich zu ernst genommene Wallfahrt zu bringen«, höre ich mich vor einem Jahr zu meiner Mitpilgerin Petra in Frankreich sagen. Es war auf meiner zweiten Pilgerreise, wir beide liebten Bier, gute Stimmung und Rock ’n’ Roll als Lebenseinstellung. Er ist ehrlich, nicht überkandidelt und hat extrem viel Power! God gave Rock ’n Roll to you!
Die Sporthalle stinkt nach toter Ratte. Und die Pilgerin sieht leider gar nicht wie Petra aus. Sie ist etwa fünfzig Jahre alt, kommt aus Frankreich und ist ihrem Mann davongelaufen, wie sie mir bereits in der ersten Stunde erzählt. Immer wieder finde ich es total faszinierend, wie schnell Menschen beim Pilgern ihr Innerstes nach außen kehren.
Vielleicht verhält es sich ähnlich wie das, was Linda über ihren Job als Flugbegleiterin erzählte: »Du hast 7000 Kollegen bei KLM, bist längere Zeit auf artifiziell engem Raum zusammen und erzählst dir zwischen zwei Cross-Checks deine gesamte Lebensgeschichte.«
Jeder pilgert anders! Mein Arbeitskollege zum Beispiel erklärte mir: »Ich pilgere jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit. Das muss reichen, ansonsten habe ich lieber den 5-Sterne-Luxus eines schönen Hotels. Auf die unangenehmen Themen habe ich sowieso keine Lust.«
Meine Mitpilgerin hat starke Schmerzen. »Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit, die morgige Etappenlänge zu verkürzen? Im Moment sind 20 Kilometer mein Maximum.«
Nun, wenn du unter dem 2000 Jahre alten Torbogen in Cáparra schlafen willst, mache ich ihr ein bisschen Angst und lese eine Passage aus meinem Wanderführer vor: »Zweifelsohne ist die Übernachtung unter dem Bogen von Cáparra ein außergewöhnliches und unvergessliches Erlebnis. Bedenken Sie aber bitte, dass es in der Extremadura des Nachts gelegentlich auch kalt werden kann. Was dem Pilger aber auf jeden Fall zugute kommt ist der Umstand, dass es hier einen Getränkeautomaten und ein WC mit fließend Wasser gibt. Achtung! Beides ist nur während der Öffnungszeiten zugänglich.«
Auch ich würde an ihrer Stelle auf so ein unvergessliches Erlebnis wahrscheinlich verzichten. Wir verkriechen uns bald jeder in seinem Schlafsack.
Elena schmeißt die Bar wie eine junge Frau, hantiert schwungvoll an der Espressomaschine, während sie Frühstück serviert und vereinzelt schon jetzt am frühen Morgen die ersten Schnäpse austeilt.
Wenn ich Alkoholiker wäre, dann nur in Spanien. Ich kenne kein Land, wo der Alkohol so günstig ist und dabei so gut schmeckt. Auf der nördlichen Pilgerroute gibt es am Kloster Irache einen Weinbrunnen, an dem sich der vorbeiziehende Wanderer selbst bedienen kann. Sooft und solange er will, auch wenn es offiziell heißt, dass die Pforte zum Brunnen ab 22 Uhr geschlossen sei. Das wurde ein netter Abend auf meinem ersten Jakobsweg. In einer Ecke ist eine Webcam angebracht, die man auch dazu missbrauchen kann, um Freunden und Kollegen von der harten Wanderung aus virtuell zuzuprosten...
Vor mir liegen nur Wiesen, Wälder und eine historische römische Siedlung, bei der sich auch die einzige Wasserstelle auf der gesamten Tagesstrecke befindet. Elenas mütterlichen Rat, zwei Flaschen Wasser mitzunehmen, schlug ich in den Wind. Bloß kein zusätzliches Gewicht. Um vor der langen Siesta bei der nächsten Informationsstelle anzukommen, hetze ich über eine der schönsten Strecken der Extremadura, die Cañadas Reales. Auf diesen ursprünglichen Viehwegen »Cañadas« wurden vor Jahrhunderten riesige Schafherden von Süden nach Norden getrieben, um zwischen den Sommer- und Winterweiden zu wechseln. Die Schafzucht war im Spätmittelalter ein bedeutender Wirtschaftsfaktor Kastiliens, und dank seiner Wollausfuhren wurde die Region zu einer der reichsten in Europa. In den besten Zeiten gab es hier zirka zwei Millionen Schafe. Diese sehenswerten Wege waren damals bis zu 75 Meter breit, wurden wegen ihrer Bedeutung gesetzlich geschützt und den wichtigsten von ihnen verlieh man sogar den Zusatz »königlich«.
Weil ich hier so aufs Tempo drücke und fast atemlos durchrausche, muss ich an meine Arbeit denken. Wie oft habe ich Dinge mit Hochdruck vorangeschoben und Nachtschichten absolviert, nur damit etwas fristgerecht fertig wurde, um dann womöglich ungelesen auf einem Laufwerk zu verschimmeln. Fange ich jetzt schon damit an, mir diesen Rhythmus auch beim Pilgern aufzuerlegen, und sei es nur für kurze Phasen? Aber was soll ich tun, die Warnung meines Reiseführers, auf dieser Etappe besser die Füße unter den Arm zu nehmen, war nicht misszuverstehen.
Die Zwischenstation Cáparra entpuppt sich für mich als nächster großer Reinfall. Die einsame Ausgrabungsstelle verfügt nur über einen Weg zum Informationszentrum, und der ist für mich unpassierbar. Hier kann ich meine Wasserflasche unmöglich auffüllen. Zornig ziehe ich weiter. Wofür habe ich mich beeilt? Merksatz: Es lohnt sich nicht, sich für etwas Zukünftiges abzuhetzen und dabei die Gegenwart zu vergessen. Wie oft muss ich noch daran erinnert werden, wann habe ich es endlich begriffen!
Mein Tor zum Glück? Der Torbogen von Cáparra
Die Guardia Civil Traffico überholt mich, zwei Polizisten schauen zu mir herüber und fahren auf der Landstraße weiter. Nur Augenblicke später drehen sie um und folgen mir auf meine Wanderpiste. Sie steigen aus und erklären mir, dass der Weg im Rollstuhl bald unpassierbar wird. Die Alternativroute, die sie mir zeigen, bedeutet einen deutlichen Umweg. Ist nicht die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine Gerade? Das hier sieht eher wie eine Sinuskurve aus.
»Necessitas una cosa mas?«, fragen sie mich. Ob ich etwas bräuchte? Ich bitte sie um etwas Wasser, woraufhin mir einer der beiden seine eigene Wasserflasche gibt. Ein Geschenk des Himmels — voller Zuversicht und dankbar kann ich weiterfahren.
Mit einer Hand ziehe ich mich später erschöpft an der Leitplanke hoch, die Zunge klebt fest am Gaumen. 50 Kilometer liegen hinter mir, und jetzt noch eine letzte Steigung vor mir. Die Strommasten sind mit Storchennestern besetzt, aber ich sehe sie nicht wirklich, sondern fühle mich wie eine schwabbelige Qualle. Ich habe ein Stadium erreicht, in dem ich mich sogar schieben lassen würde. Nur von wem? Ich ziehe mich an der Leitplanke Stück für Stück vorwärts, wobei das Rad am Metall entlang schabt und blockiert. »Atemzug, Antreiben, Atemzug«, fällt mir Beppo der Straßenkehrer aus »Momo« ein. Tatsächlich, es funktioniert.