Roberto und Maria
Der Wirt, der den Schlüssel für die andere Herberge verwaltet, begleitet mich zu meinem Nachtlager, einer ausgesprochen komfortablen Unterkunft. Unvermittelt fragt er mich auf Deutsch: »Kennst du Hamburg?«
Ich muss lachen, in diesem Nest auf Deutsch angesprochen zu werden.
Und schon erzählt er mir seine Geschichte: »Ich habe von 1961 bis 1964 in Hamburg gearbeitet. Aus dieser Zeit beziehe ich immer noch eine Rente von 173 Euro pro Monat, vom spanischen Staat bekomme ich lediglich 500 Euro. Aber ich habe ja auch immer noch diese Bar hier.«
Ich nehme mir vor, ihm mit meinen Bestellungen tatkräftig unter die Arme zu greifen, bis zum Abendessen bleibt noch für einige Runden Zeit.
In der Kirche Santa María, gegenüber von meinem Domizil, befindet sich die älteste Darstellung eines pilgernden Jakobus aus dem 11. Jahrhundert. Sie ist etwas versteckt am Südportal angebracht, man findet sie nur, wenn man über den Friedhof um die Kirche herumgeht.
Als ich sie erreiche, steht direkt vor ihr ein Mann auf einer Leiter.
Es dauert eine Weile, bis ich verstehe, dass es sich um den Pfarrer und eine Helferin handelt, die die Höhe der Statue ausmessen. Von meinem Blickwinkel aus wirkt sie viel zierlicher als 110 Zentimeter hoch.
Danach sitze ich bei einem köstlichen Abendessen in der Privatherberge. Ich bin der einzige Gast und werde direkt von der Herbergsmutter bekocht, mit Gemüse und Salat aus dem eigenen Garten.
Plötzlich poltern bei stockfinsterer Nacht zwei verschwitzte Spanier herein. Keiner von uns hat heute noch mit Pilgern gerechnet. »50 kilometros«, mehr sagt der kräftige Mann nicht und leert eine Bierdose in einem Zug. Er und seine Begleiterin treten wie ein Paar auf, beide sind um die 40 Jahre alt und heißen Roberto und Maria, wie ich bald erfahre.
Roberto ist von meiner Idee, diesen Weg allein im Rollstuhl zu pilgern, so begeistert, dass er unvermittelt verschwindet. Ich habe aufgehört, mich über eigentümliche Reaktionen auf meine Fortbewegungsart zu wundern, und widme mich dem Rest meines köstlichen Nachtisches. Frische Weintrauben, so zuckersüß, dass ich nicht genug bekommen kann.
Als Roberto wiederkommt, schenkt er mir ein T-Shirt von seiner eigenen Bar »La Galeria« am Punto Final in Finisterre. Bisher dachte ich bei Punto Final immer an Alkoholeskapaden, ab heute hat der Begriff endlich eine bessere, tiefere Bedeutung. Jetzt habe ich wirklich einen Grund, nicht nur bis Santiago, sondern bis ans Kap Finisterre — ans Ende der Welt — zu gehen.
In zehn Tagen werde ich in Santiago ankommen, so sieht mein aktueller Plan aus. Gedanklich fühle ich mich allerdings sehr ausgezehrt von der langen, einsamen Wanderung, genau genommen wähne ich mich weiter weg vom Ziel als noch zu Beginn der Reise. Wie sehr liebe ich die Stille und Einsamkeit des Wegs, aber wie sehr scheue ich vor der Leere der Herbergen zurück!
Ab heute, nehme ich mir vor, soll es mit der Einsamkeit ein Ende haben, ich will an Roberto und Maria dranbleiben, auch wenn das ein strammes Pensum von 40 Kilometern für den nächsten Tag bedeutet.
Roberto und Maria
Was für ein Tag! Bereits vor Sonnenaufgang überholen mich Roberto und Maria. Die nächsten vierzehn Stunden werde ich allein wandern, vorsichtig hatte ich eigentlich nur zehn geplant. Bis zum Mittag habe ich nur weniger als das erste Drittel des Wegs geschafft, und bin fassungslos. Es waren einige Off-Road-Strecken dabei, bei denen ich über umgefallene Baumstämme springen musste, aber hat mich das um so vieles langsamer gemacht?
Direkt hinter einer verfallenen Kirche verläuft ein schmaler Pfad an einer Böschung hinunter. Unbemerkt hat ein Reifen Luft verloren und rutscht jetzt auf dem steilen Hang einfach weg, als ob der Untergrund glatt wäre. Der Rollstuhl dreht sich um 90 Grad, fällt zur Seite und wirft mich wie ein Pferd seinen Reiter einfach ab. Auf dem Hang kann ich nicht einsteigen, der Winkel ist ungünstig, und der Stuhl droht erneut umzukippen. Auf dem Hosenboden robbe ich in die Senke und ziehe den Wagen mit einer Hand hinter mir her. Unten angekommen steige ich völlig verdreckt in bewährter Technik ein.
Ursprünglich hätte ich mich auf dieser Passage ein wenig beeilen wollen, aber Gott sei Dank maßregelt mich die Panne und mahnt mich zur »Entdeckung der Langsamkeit«, wie ich mich selbst stichle.
Vor mir liegt ein mannshoher Lehmwall. Soll ich ihn jetzt hochrobben, nachdem ich gerade noch auf der anderen Seite heruntergerutscht bin? »Wenns regnet, schüttet es«, sagt ein altes Sprichwort.
Vielleicht sollte ich solche negativen Gedanken einfach bleiben lassen, versuche ich mich zu beruhigen. Ein 70-jähriger Herr radelt vergnügt vorbei und schaut doch leicht verwundert, mich allein in dieser Senke zu sehen. Dann bremst er, um mir zu helfen.
Als er mich den steilen Wall hinaufschiebt, beginnt er so stark zu keuchen, dass ich es mit der Angst zu tun bekomme. Sein Herz wird ihn doch nicht im Stich lassen? Dank seiner Hilfe endlich oben angekommen, flicke ich in der größten Mittagshitze zum x-ten Mal den Reifen, heftig umschwärmt von lästigen Fliegen. Ich wollte schnell sein — aber auf dem Jakobsweg ist nichts mit Gewalt erzwingbar, wieder habe ich es erfahren müssen.