Vorsätze

 

Der Schlafsaal und das Bad befinden sich im ersten Stock und sind für mich nicht zu erreichen. Vier Pilger sind sofort zur Stelle und tragen mich die steile Treppe hinauf. Alle reden gleichzeitig und wollen noch weiter helfen, aber dieser erste Tag hat mich so mitgenommen, dass ich abwinke.

Rita und Heinz haben das einzige Doppelzimmer mit Ehebett in der kostenlosen Herberge ergattert und laden mich zu sich auf die Terrasse ein. Bei Kerzenschein teilen sie mit mir ihren Vorrat an Brot, Wurst, Käse und Wein. Es tut wirklich gut, so umsorgt zu werden. Meinen eigenen Proviant, den ich lose unter meinem Rollstuhl verstaut hatte, hatte ich auf den letzten Kilometern des Wegs verloren, die Äpfel hatte ich da längst schon wütend weggeworfen.

Die beiden können nicht glauben, mich hier zu sehen. Sie waren fest davon ausgegangen, dass ich umgedreht wäre und an einem anderen Ort übernachten würde. Sogar sie mussten auf der ausgewaschenen Strecke mehrfach von ihren Rädern absteigen und schieben.

Rita stellt sehr gezielte und professionelle Fragen zu meiner Situation, ihr medizinischer Hintergrund als Krankengymnastin ist schnell deutlich. »Wie hoch bist du denn gelähmt?«, will sie wissen.

»Ab dem fünften Brustwirbel«, antworte ich und beantworte auch gleich die nahe liegende und immer folgende Frage: »durch einen Motorradunfall.«

Beide ermutigen mich, nicht ans Aufgeben zu denken und im Zweifelsfall Alternativrouten zu suchen, selbst wenn das ab und zu bedeuten sollte, auf der Straße zu bleiben.

Während ich noch zustimmend nicke, habe ich bereits beschlossen, mich nicht an ihren Rat zu halten. Ich mag Straßen nicht, es sei denn, sie sind wirklich unbefahren. Autos sind laut, und ich bin ihnen unterlegen. Wenn ich mich auf Asphalt fortbewege, fokussiere ich mich auf das Ziel, und nicht auf den Weg dorthin. Das dazwischen Liegende erscheint mir nur lästig, sodass ich es so zügig wie möglich überbrücken möchte.

So soll meine Wanderung hier auf keinen Fall aussehen. Der Weg soll das Ziel sein, gerade die lästigen Schritte sind die mit dem größten Lernpotenzial, in diesen Momenten offenbart sich für mich auch der Sinn eines auf Gott fokussierten Lebens. Auf eine Straße auszuweichen würde daher nahezu allem widersprechen, was ich mir mit dieser Reise vorgenommen habe.

Ich möchte die Natur aufsaugen, ich möchte mich spüren. Einige Dinge müssen sich während der Wanderung auch allmählich erst in meinem Kopf frei rütteln, und das passiert mit Sicherheit nicht auf viel befahrenen Straßen. Die Natur ist leise und zart und daher in Harmonie mit meiner inneren Stimme.

Bereits an diesem ersten Tag habe ich diese Übereinstimmung spüren können, oder richtiger: Ich habe sie geahnt, auch wenn der Tag als ganzer nicht so gut war. Ich bin viel zu schnell an meine Kraftreserven gekommen. Aber morgen ist ein neuer Tag!

 

Der Wecker meiner holländischen Zimmergenossen klingelt gnadenlos um 6.30 Uhr, trotz des Sonntagmorgens, und sofort beginnen alle leise miteinander zu tuscheln. Unfreiwillig lausche ich dem Treiben, noch ganz erschlagen vom gestrigen Tag. Für die Pilger hat der Tag bereits begonnen, obwohl draußen noch tiefe Nacht herrscht.

Um mich herum raschelt es laut. Alles, was im Rucksack auch bei Regen trocken bleiben soll, wird sorgfältig in Plastiktüten eingewickelt.

Weiterschlafen ist unmöglich, der Raum ist mittlerweile vollständig von den Deckenlampen erleuchtet. Mein kurzes »ist schon okay« wurde offensichtlich als Aufforderung zur Festtagsbeleuchtung verstanden.

Ich schaue mir meine Hände an. Die Rechte sieht aus, als ob ich den Keller eines Einfamilienhauses mit einer Schaufel ausgehoben hätte. So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt, jedenfalls nicht gleich innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden. Mir fällt ein, dass ich kein strapazierfähiges Pflaster dabei habe, also pinkle ich später, um eine Infektion zu verhindern, in die Handschuhe — der Zweck heiligt bekanntlich die Mittel. Immerhin von der Bundeswehr erprobt und für gut befunden! Die Frische dieses Morgens tut mir gut, und ich ertappe mich dabei, wie ich schon damit beginne, den Auftakt meiner Reise zu glorifizieren. Die Strecke hat kleine Steigungen und Abfahrten, die ich mit ausgebreiteten Armen hinunterrase, während ich »I believe I can fly« singe. Schön, wenn keiner einen kennt.

Mit der aufsteigenden Sonne erhitzt sich der Asphalt wieder, aus den Hügeln werden Berge und ich kämpfe immer stiller und verbissener gegen sie an. Rita und Heinz überholen mich, die radelnden Pilger starten viel später als die Fußgänger und sind trotzdem früher am Ziel. Sie bieten mir an, mich per SMS vor schlechten Strecken zu warnen, damit der Jakobsweg für mich nicht zur Sackgasse wird.

 

Ich genieße die weite Landschaft, es gibt nichts, was mich in dieser Meditation stört. Die karge, sonnenverbrannte Gegend reduziert sich in meiner Wahrnehmung zur monotonen Kulisse und mir fällt ein, dass heute in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt wird.

Sofort schüttle ich diese Gedanken wieder ab, schließlich möchte ich hier andere, tiefere Themen ausloten und Antworten auf Fragen, die mir auf der Haut brennen, suchen. Was ist meine mir bestimmte Aufgabe im Leben, warum halte ich es so lange in einem Arbeitsumfeld aus, in dem ich so wenig Anerkennung erhalte, warum musste ich mich schon wieder von meiner Freundin trennen, was habe ich auf den bisherigen zwei Wanderungen auf Jakobswegen gefunden?

 

Mir fällt mein Traum von letzter Nacht ein. Mein Chef erklärt mir, dass ich ohne Rollstuhl schon viel besser ankomme, und fügt augenzwinkernd hinzu, im Bankgeschäft drehe sich schließlich viel ums Aussehen.

Ich kann nicht aufhören, an die Arbeit zu denken, ich fühle mich ihr so schutzlos ausgeliefert, wie ich es hier, allerdings gegenüber der Sonne, auch tatsächlich bin.

»Das klingt ja wirklich spannend, was du so machst.« Ich äffe nach, was ich oft zu hören bekomme, wenn ich von meiner Arbeit erzähle. Dabei spreche ich ungern über sie. Man kann sich nur schlecht davon distanzieren, und hat man es doch einmal geschafft, holen einen die Fragen bald wieder ein. Natürlich ist es auch im positiven Sinne aufregend: Kein Tag gleicht dem anderen, und auch nach vier Jahren kann ich nicht genau vorhersagen, was ich am nächsten Tag bearbeiten werde.

Entsprechend weiß ich auch fast nie, wann ich Feierabend machen kann. Kaum einmal ist das schon um 19 Uhr, 20 Uhr und später ist die Regel, bei einem Arbeitsbeginn um 9 Uhr. »Da muss man sich nur ein bisschen reinknien, dann klappt das schon«, sagt mein Chef, wenn mal so eben eine 100-Seiten-Präsentation für den Vorstand übers Wochenende fertig werden soll. Also knien wir uns im Team am Wochenende in dieses Projekt mit Priorität 1++* rein, normale Projekte haben Priorität 1++, mit weniger wichtigen Projekten beschäftigen wir uns grundsätzlich nicht.

Das freundliche SMS-Warnsystem

 

Damit ist jetzt Schluss. Nachdem ich in der Abteilung für Konzernentwicklung einige Jahre an strategischen Unternehmenskäufen und — Verkäufen gearbeitet, Vorlagen und Präsentationen für Vorstände und Aufsichtsräte geschrieben und Dienstreisen nach New York, London, Budapest, Moskau und sonst wohin unternommen habe, will ich zukünftig lieber für diejenigen arbeiten, die im Kernpunkt des Interesses stehen: die Kunden. In der Fachabteilung für betriebliche Altersvorsorge (Asset Management) hoffe ich, bald wieder auf dem Boden der Realität zu stehen. Vielleicht wird mir der Glamour des Investmentbanking fehlen, wer weiß. Na und? Ich möchte mehr Freizeit haben. Ich möchte etwas Sinnvolles tun. Altersvorsorge ist sinnvoll.

 

Dreißig Kilometer liegen hinter mir, die nächste Unterkunft befindet sich in einem zwölf Kilometer entfernten Nest. Es ist noch früh am Nachmittag, und ich könnte leicht weitermachen. Soll ich? Der Schock vom gestrigen Tag ist allerdings noch sehr präsent, also beschließe ich, lieber hier in Almadén de la Plata zu bleiben.

Von einer Bushaltestelle aus überblicke ich die im Tal liegende Ortschaft mit ihren weißen einstöckigen Häusern im mediterranen Stil. Vor manchen Fenstern weht zum Trocknen aufgehängte Wäsche, um diese Uhrzeit ist kaum eine Menschenseele in den Gassen unterwegs. Irgendjemand hat seinen Fernseher zu laut aufgedreht, aber es scheint niemanden zu stören.

Zu Hause gießt mein Nachbar in meiner Abwesenheit meine Blumen auf dem Balkon und leert den Briefkasten. Wahrscheinlich eher aus Langeweile schicke ich ihm eine SMS, was soll in zwei Tagen schon groß passiert sein? Das Handy lasse ich danach auf der kleinen Mauer vor der Haltestelle liegen, während ich mühelos die Straße hinabgleite.

Auf der Wäscheleine vor der Pilgerherberge hängen BHs und Radlerhosen. Da alles ebenerdig ist, stolpere ich direkt in den Schlafsaal, wo zwei junge und sehr hübsche baskische Mädchen in den für diese Unterkünfte typischen Etagenbetten liegen.

Gurutze und Ainitze sind Cousinen aus San Sebastian. Beide haben schon mehrfach längere Radtouren durch Spanien und Portugal gemacht, sie sind wie ich den Camino Francés entlang gepilgert. Während Gurutze still auf ihrem Bett liegt, redet Ainitze sehr laut und läuft pfeifend, breitbeinig und irgendwie maskulin durchs Haus. Ich ärgere mich, dass mein Spanisch so schlecht ist, gern hätte ich mich länger mit ihnen unterhalten, vielleicht rechne ich mir auch eine Chance aus. Obwohl wir uns sehr viel Mühe geben, schläft die Konversation irgendwann ein und ich gehe, um meine verschwitzten und staubigen Kleidungsstücke im Waschbecken auszuwaschen.

Ein hünenhafter Tscheche kommt dazu, der mit seinen schweren Stiefeln, dem T-Shirt in Tarnfarbe und einem Zentner Marschgepäck wie ein Soldat im Manöver wirkt. Fünfzig Kilometer ist er heute gewandert und lächelt trotzdem unaufhörlich, während er in fließendem Spanisch mit den beiden Mädels flirtet.

Später ziehen wir vier gemeinsam los und kaufen in einem kleinen Laden im Ort Lebensmittel und Getränke für unser Abendessen und für den nächsten Tag ein. Auf einmal merke ich, dass mein Handy verschwunden ist, und werde nervös. Keine der gespeicherten Nummern habe ich im Kopf, und ich selbst wäre wochenlang für niemanden mehr erreichbar. Außerdem ist es eingeschaltet.

Hastig erkläre ich den Dreien die Situation und stürme zurück, Stoßgebete aussprechend, dass es noch dort liegen möge, wo ich es zuletzt in der Hand hatte. Einige Jugendliche kommen mir mit ihren Handys entgegen. Ob meins dabei ist? Mein Herz macht einen Sprung, von der Sonne aufgewärmt liegt es wie selbstverständlich noch auf dem Mäuerchen. Ich habe sogar eine SMS bekommen, mein Nachbar gab die Wahlergebnisse durch.

Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie Ludek, Ainitze und Gurutze ungefragt hinter mir hergegangen sind und mir beistehen wollen. Nach dem Adrenalinkick verbringen wir den Rest des Abends in der Küche der Herberge. So wünsche ich mir das Pilgern: tagsüber die Stille und Muße zur Reflexion, und abends das lachende Miteinander.

 

 

Dem eigenen Leben auf der Spur
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