3 HALBZEIT

 

Ich bin aufgeregt. Morgen werde ich die größte Stadt auf meiner Reise erreichen. In einer Großstadt fühle ich mich als Pilger immer etwas kleiner, das war auf dem Camino Francés auch schon so. Als ob die Stadt und ihre Bewohner erst mal erobert werden wollen, nehmen sie von dem Pilger scheinbar nichts wahr. Eine vielleicht etwas außergewöhnliche Erscheinung fällt in einem reizüberfluteten Umfeld mit seinen zahllosen Sinneseindrücken überhaupt nicht auf.

Doch zuvor werde ich in der Herberge von San Pedro de Rozados, der letzten Station vor Salamanca, wärmstens aufgenommen. Ich werde als ein Freund von Don Blas empfangen, denn ich trage die wärmende Pilgerweste, die er mir zum Abschied noch geschenkt hatte. Der Name seiner Gemeinde ist in großen Buchstaben darauf gestickt. Noch niemals habe ich ein Kleidungsstück mit so vielen Taschen und Staumöglichkeiten besessen. Sollte mein Rucksack kaputtgehen, könnte ich wahrscheinlich alles in dieser Weste unterbringen.

Als ich in der Bar den Quartierschlüssel abhole, unterbrechen zwei Männer ungefragt ihr Kartenspiel und begleiten mich und die Herbergsmutter zu der nahe liegenden Herberge. Auf dem Schild am Marktplatz steht eine Entfernungsangabe nach Santiago, demnach sind es nicht einmal mehr 500 Kilometer. Ich misstraue solchen Angaben hier grundsätzlich, aber auf 50 Kilometer mehr oder weniger kommt es jetzt für mich wirklich nicht mehr an.

Die Männer wuchten mich die kleine Treppe hinauf, nachdem ich mit der Herbergsmutter zusammen das Domizil begutachten durfte und — was für eine Gunst — meine Wünsche für das Abendessen erfragt wurden. Sie freut sich darüber, dass ich nach meiner langen Wanderung zum Essen zu ihr in die Bar kommen möchte. Wenn sie mit dem Kochen fertig ist, holen mich die Männer wieder ab. Das nenne ich Service! Ich freue mich und beschließe, mir deshalb kein schlechtes Gewissen machen zu müssen.

Das Essen schmeckt herrlich. Es sind nur eine Handvoll Gäste in der Bar, aber die scheinen sich dafür schon ewig zu kennen. Die Herbergsmutter und ihr Mann sind in diesem Weiler geboren. Sie versprechen, mir morgen früh um 8 Uhr die Treppe hinunterzuhelfen.

Prompt verschlafe ich. Um kurz vor acht wache ich nach einem todesgleichen Schlaf auf, und da sich auf der Straße aber auch gar nichts regt, ziehe ich mich in aller Ruhe an. Gegen 9 Uhr kommt der verschlafene Herbergsvater, der sich entschuldigt. Seine Frau habe ihn zu spät geweckt.

Unterwegs erschrecke ich fast zu Tode, als mich ein Radfahrer plötzlich von hinten anspricht. Der Wind weht so heftig, dass ich aufgehört habe, auf Geräusche zu achten. Er plaudert einfach drauflos, über den Weg, dass diese letzte Etappe vor Salamanca für mich problemlos zu bewältigen sei, und wo ich denn wohnen würde. Zum Abschied droht er damit, dass er mich dort vielleicht am Abend besucht und wir etwas gemeinsam trinken könnten.

Ich würde ihn allerdings lieber erwürgen, als jemals wieder auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln. Denn ich stehe vor einer Klippe, über die ich nicht hinwegkomme. Eine Passage von höchstens 100 Metern, aber mit so hohen Steinen, dass ich sie nicht befahren kann. Rechts neben mir verläuft in einiger Entfernung die viel befahrene Nationalstraße, und links komme ich den steilen Hang nicht hinauf.

Eine halbe Stunde turne ich herum, dann habe ich mich damit abgefunden, die letzten zwölf Kilometer doch auf der Straße zubringen zu müssen. Und das wegen eines so kleinen Hindernisses.

 

Hilfe, wenn ich es am wenigsten erwarte

 

 

Zwei Bauern haben auf ihren Traktoren mein Treiben aus der Ferne beobachtet, jetzt kommen sie mir hinterher. Mit der üblichen Selbstverständlichkeit, mit der die Menschen hier Pilgern helfen, wuchten sie mich über die Steine, bevor sie vergnügt mit ihren Monstertreckern wieder zurück auf ihr Feld fahren.

 

 

Dem eigenen Leben auf der Spur
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