Camino Love

 

Ein Bauer winkt mich zu sich und schenkt mir eine Wassermelone. Schon seit einiger Zeit laufe ich an Feldern, übersät mit fußballgroßen Früchten, entlang. Die Versuchung, mir einfach eine zu nehmen, war groß, aber da ich nicht leicht in das Feld hineingekommen wäre, habe ich widerstanden.

Umso dankbarer verschlinge ich die Melone in der prallen Sonne, mitten auf dem Weg. Die Klinge des Schweizer Taschenmessers ist zu klein, ich muss die Melone aufbrechen. Sie ist innen kühl, sie hat die Temperatur der Nacht konserviert. Erstaunlich wenig süß löscht sie sofort den Durst und stillt den Hunger. Frischer als hier kann sie nicht sein.

Nur ein paar Minuten weiter stehen einige Schatten spendende Bäume, eine ideale Oase für eine Rast. Als ich dort ankomme, liegen bereits Martine und Thomas im Gras unter den Bäumen.

 

Camino Stillleben

 

Hier ist es deutlich angenehmer als unter der Sonne, gemeinsam genießen wir die übrig gebliebene Hälfte der Frucht. Aus der geplanten kurzen Pause wird so eine deutlich längere. Aber wie schön ist es, nicht allein zu sein! Sie erzählen mir von ihrem kurzen Halt in Villanueva de Campeán, einem dermaßen kleinen Weiler, dass ich ihn in nur zwei Minuten durchquert hatte. In der Bar hatte die Frau hinter dem Tresen den beiden von einem Pilger im Rollstuhl erzählt, von dem sie gehört habe. Thomas verspricht ihr, mir Grüße auszurichten und Gottes Segen zu wünschen.

Ein wenig beneide ich sie um ihre Camino-Liebe. Durch die erhöhte Sensibilität auf dem Weg setzt sie vermutlich viel tiefer an, als das im Alltag der Fall wäre. Allein die Suche nach dem Warum der Pilgerschaft lässt bei ehrlicher Antwort einen tiefen Blick in die Seele des Anderen zu.

Aus dieser Intimität wieder an die Oberfläche zurückkehren zu müssen, fällt schwer. Wie anders geht es etwa im Berufsalltag zu. Dort zählt nur Professionalität, die eine gewisse Neutralität und nicht selten Gefühlskälte provoziert. Jeder igelt sich ein. Wie oft aber sehe ich in den Augen der Menschen einen Funken flimmern, der nie völlig verlöscht. Etwas Wind und ein wenig Nahrung können die Flammen auflodern lassen. Was für eine Kraft wird da sichtbar! Viele Pilger entdecken diese dauerhafte Quelle tief in ihrem Innersten auf der Reise.

Martine und Thomas haben ihren Austausch untereinander, lernen sich kennen und lieben. Ich war lange Tage und Nächte allein in der spanischen Weite, aber nie einsam. Ich habe dabei mich und meine unsichtbaren Engel besser kennen und lieben gelernt.

Besonders an diesem Vormittag spüre ich, nicht allein zu gehen. Ein unsichtbarer Begleiter schreitet neben mir her, hält an, wenn ich innehalte, und geht schneller, wenn ich beschleunige. Ich habe die ganze Zeit ein warmes, wohliges Gefühl. Meine Gedanken sind sanft und leise, voller Frieden und Zuversicht.

An einer sandigen Stelle versacke ich tief, der Rollstuhl steckt fest und bei jedem Antriebsversuch drücke ich mich fast aus dem Rollstuhl. Im Zickzackkurs versuche ich Stellen zu finden, wo der Untergrund hart ist. Ich fluche lauthals und fühle mich augenblicklich freier.

Sicherlich kannst du schimpfen, sagt der Begleiter zu mir, aber das ist kein Tribut an Gott. Im Grunde deines Herzens ziehst du mit Fluchen negative Kräfte an, die wie Schleier wirken. Auch wenn Dinge nicht so verlaufen, wie du möchtest, und dich die Umstände quälen, fokussiere dich auf ihn, auf seine Kraft; mache sie dir zu eigen. Dann wirst du stets voller Zuversicht den nächsten Schritt gehen, gleichgültig, wie anstrengend es dir vordergründig erscheinen mag.

Vor Glück über diese liebevollen Worte laufen mir Tränen über die Wangen. Mit meinen schmutzigen Händen wische ich sie nicht ab, sie hinterlassen feine Linien in meinem staubigen Gesicht, bevor sie auf meine Hose tropfen.

Die nächste sandige Stelle ist schlimmer als die vorherige. Kurz innehaltend beherzige ich die erst vor wenigen Minuten vernommene Eingebung. Objektiv schiebe ich mich schwerfälliger voran, fühle mich aber dennoch, als ob ich getragen würde.

Ob ich diese Erfahrung einem Menschen, der noch nie gepilgert ist, vermitteln kann, ohne dass er mich für einen religiösen Spinner hält?

 

Martine, Thomas und ich fühlen uns jung, energiegeladen und voller Leben. Schweiß, der Boden, auf dem wir gehen, und ein Ziel, das noch Tage entfernt liegt, verbinden uns. Wieder wird der jetzt ansteigende Weg sandig, wieder verlangsamt sich mein Tempo. Sie sind zu tief in ein Gespräch vertieft, als dass sie mich weiter beachten, kurz darauf sind sie schon außer Rufweite. Als ich endlich die Anhöhe erreiche, sind sie nur noch kleine Punkte in der Ebene vor mir.

»Ich dachte, wenn du so weit gekommen bist, benötigst du keine Hilfe«, erklärt mir Thomas später achselzuckend.

Ist es das, was ich mit meinem offensiven Auftreten suggeriere: dass ich autark bin und keine Unterstützung brauche? Ich empfinde hier eine feine Grenze: Dinge wirklich selber bewältigen zu können, oder aber das Ziel nur mit einem unverhältnismäßig hohen Kraftaufwand zu erreichen. Kaum jemand spürt den Unterschied. Hier zum Beispiel hätten ein paar Minuten Unterstützung verhindert, dass ich eine halbe Stunde lang stupide wie ein Wüstenfuchs vor mich hin kämpfen muss. Oder bedeutet das, ich muss direkter um Hilfe bitten?

Kurz vor der Stadtgrenze von Zamora habe ich sie trotzdem eingeholt. Allerdings nicht, weil ich so schnell vorangekommen bin, sondern weil sie eine weitere Pause eingelegt haben. Mit geröteten Wangen begrüßen sie mich. Camino Love.

Dann stoppt das nächste Loch im Reifen meine Weiterfahrt. »Da musst du wohl flicken. Wir kümmern uns um die Unterkunft und halten dir ein Bett frei. Wir melden uns per SMS und sagen dir, wo wir sind«, sagt Thomas.

Vor Wut hätte ich aufspringen und den Rollstuhl in lauter Kleinteile hacken können. Den ganzen Schrott hätte ich dann in den Fluss, der Zamora so außerordentlich romantisch umspült, geworfen. »Heilung durch Wut« hätte ich jedem mit blitzenden Augen zugezischt, der mich gefragt hätte, warum ich plötzlich wieder laufen kann.

Im Moment sehe ich vor Wut einfach nur rot. Ich empöre mich über das Ausgeliefertsein, die Unberechenbarkeit des nächsten Schrittes und meine permanente Hilflosigkeit. Nach einem langen und teilweise anstrengenden Tag habe ich absolut keine Lust, unmittelbar vor dem Ziel mitten in der stechenden Sonne einen Reifen zu flicken. Ich wünsche mir Erholung, aber ich bekomme einen Schlag in die Fresse.

Ich hadere mit Gott. Nichts kann ich auf diesem grauenhaften Weg im Voraus planen. Wenn ich einmal glaube, schon nichts mehr tragen zu können, bekomme ich prompt eine zusätzliche Portion oben drauf gepackt. Ich sitze mit schmerzenden Händen auf einer Bank, beäugt von Spaziergängern, die vorbeischlendern, und beginne, missmutig den Reifen auszubauen. Martine und Thomas sitzen bestimmt schon bei einem kühlen Bier.

Woher kommt diese rasende Wut? Hat es damit zu tun, dass eine Art lähmender Angst, die mich im geregelten Frankfurter Umfeld umgibt und permanent für Druckausgleich sorgt, hier von mir abgefallen ist?

Je länger ich darüber sinniere, umso befreiender kommt es mir vor, nach Herzenslust toben zu können, wenn mir danach ist, ohne den Job oder die Beziehung aufs Spiel zu setzen. Keiner kennt mich hier, und kaum jemand wird mich hier in der Weite der spanischen Landschaft hören. Ich kann also nach Herzenslust schäumen und wirbeln, die Lektion des Vormittags ist verdrängt. Hier wird kein Gefühl unterdrückt, es muss heraus. Die Erkenntnis ist banal: Es verändert sich nichts durch ein reinigendes Gewitter, aber die elektrostatische Spannung hat sich entladen und der Regenschauer lässt Altes in frischem Glanz erstrahlen.

Wie oft hat mir Wut Kraft gegeben, einen angefangenen Weg zu beenden und zusätzliche Kräfte zu entwickeln, die Unmögliches haben möglich werden lassen. Habe ich diese Wut mit auf die Welt gebracht, mit der Chance, sie hier zu heilen?

 

Vielleicht ist mir auch nur die Sonne zu Kopf gestiegen. Abhängig davon, auf welchem inneren Abschnitt der Reise man sich befindet, ist die Offenheit für ein Gegenüber bei den Pilgern mehr oder wenig stark. Besonders am Anfang sind die meisten am Nächsten interessiert. Was hat ihn auf den Weg gebracht, was erhofft er oder sie sich davon, haben wir gemeinsame Themen? Man geht aufeinander zu, energiegeladen und voller Neugierde auf das Kommende. Alles ist aufregend und spannend, selbst die erste Blase am Fuß und der Umgang damit.

Dann kommt irgendwann zur Mitte der Zeit eine Art Lagerkoller, man schottet sich ab und will ganz seinen eigenen Weg gehen. Müdigkeitserscheinungen überlagern die Stimmung, und die eigene innere Leere schreit danach, mit etwas Tieferem gefüllt zu werden. Erst wenn dieser Brand gelöscht ist, ein Brand, den kein Mensch zu löschen vermag, ist der Pilger wieder offen für das Gegenüber, in dem er sich selbst erkennt.

Das Pilgerpärchen Martine und Thomas treffe ich genau in dieser Mitte, hinzu kommt, dass sie beide ihre Einheit zelebrieren wollen, ungestört.

Anfänglich fanden es Martine und Thomas vielleicht originell, mit einem Pilgerexoten unterwegs zu sein, ihn zu beobachten und darüber nachzudenken, wie es für sie wäre, den Weg rollend meistern zu müssen. Ich weiß nicht, ob ich so stark wäre, habe ich oft zu hören bekommen. Was aber, wenn der Exot Hilfe braucht?

 

 

Dem eigenen Leben auf der Spur
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