Gefährliche Euphorie

 

Besorgt blicke ich am nächsten Morgen meinen »Aktiv-Rollstuhl mit extra verhärtetem Rahmen« an, als ich das leichte Nachgeben des Materials spüre, während ich die drei hohen Stufen vor der Herberge hinabruckle. Ludek ist schon weg, das Pilgerpärchen schläft noch. Ich freue mich über die bevorstehende kurze Etappe, für die allerdings eine heftige Steigung angekündigt ist. Sei’s drum, sage ich mir, Zeit habe ich heute genug. Schließlich mache ich hier bei keinem Wettrennen mit und habe mehr Zeit für die gesamte Strecke eingeplant als Ludek für seine.

Als ein Spanier in einem verdreckten Kombi hinter mir hält, befallen mich für einen Moment Zweifel, ob ich nicht auf einem Trip hängen geblieben bin. Wer weiß, vielleicht hört die Wirkung der Camino-Droge nicht mehr auf und ich erlebe die Realität anders? Seit Stunden durchquere ich einen Naturschutzpark, ohne auch nur ein einziges Lebewesen gesehen zu haben, und plötzlich steigt hinter mir ein Spanier aus seinem Auto aus. Verkehrte Welt, denke ich, zu verblüfft, ihn zu fragen, wo er denn herkomme.

Er plappert direkt los und weist mich daraufhin, wie steil der Weg wird. Seine Handbewegung beschreibt etwa einen 50-Grad-Winkel. »Das schaffst du nie, besonders nicht mit den kleinen Reifen da vorne«, fügt er fachmännisch hinzu. Seine Kompetenz verblüfft mich. Mein Wanderführer hat mich zwar ebenfalls gewarnt, aber es soll sich ja nur um ein kurzes Stück handeln. »Es ist kein kurzes Stück«, korrigiert er mich, »außerdem kommst du nicht über die Felsbrocken.«

Wer um Himmels willen hat diesen Mann denn jetzt hergeschickt, frage ich mich, bevor ich zögernd sein Angebot annehme, mit ihm den Berg zu umfahren und mich direkt dahinter wieder absetzen zu lassen.

In einem großen Bogen weichen wir der Steigung aus, wobei der Unterboden oft über Steine schleift, bevor wir aus dem Park heraus auf eine Landstraße kommen. Wieder muss ich erklären, warum ich den Weg allein gehe, dass er ein großes Geschenk ist und ich bestimmt nicht verrückt bin. »El Camino es un regalo«, nickt er zustimmend.

In einer Bar an meinem ursprünglich avisierten Etappenziel, bei — der Congregación de los Hermanos, überlege ich mir die weitere Tagesplanung. Nach jedem Bier werde ich euphorischer, gleich noch eine Etappe dranhängen zu können.

Vor ein paar Tagen habe ich damit aufgehört, nur alkoholfreies Bier zu trinken, da ich mich ausgezehrt fühle und nach jeder Kalorie lechze. Natürlich weiß ich, dass diese Alkoholkalorien nur einen Kredit mit Wucherzinsen darstellen, weil ihr Abbau letztlich sogar mehr Kraft kostet, als er anfänglich gegeben hat. Es ist ein bisschen wie beim Fliegen: nach Verlassen der komfortablen Reiseflughöhe holpert es beim Landen...

 

Es erweist sich als Fehler, an diesem Mittag weiterzugehen. Wie eine Notunterkunft aussieht, habe ich bereits vor zwei Tagen erfahren dürfen. Würde ich jetzt sehenden Auges wieder in eine solche hineingeraten? Ich bete für eine gute Unterbringung und eine perfekte Schlafgelegenheit und gehe weiter. Eine Art Bonusetappe, versuche ich mir die Dinge in meinem Kopf zurechtzubiegen.

Die Luft unterwegs ist geschwängert mit süßlichen Gerüchen. Wilde Minz- und Anissträucher, die ihren Duft verströmen, stehen am Wegrand, so hoch, dass sie mich im Sitzen überragen. Ich muss an Bonbonstände auf dem Weihnachtsmarkt und Mojitos in der Roten Bar in Frankfurt denken, aber der Duft hier ist kräftiger, würziger. Die umliegenden Weideflächen wurden brandgerodet, der stechende Rußgeruch hängt wie ein Schleier über dem Boden und vermischt sich mit dem Duft der Kräuter.

Ich schwebe dahin, genieße die Nachmittagskühle und könnte glücklicher nicht sein. Die Gedanken sind so weit wie der Himmel, und alles scheint hier und jetzt möglich zu sein. 2000 Jahre Geschichte wehen mir entgegen, immer wieder sehe ich Ausgrabungsstellen mit dem historischen Originalpflaster oder römischen Meilensteinen.

 

Dann der Schock. Die Notunterkunft ist ein Dreckloch. Sie besteht aus einem dunklen, staubigen Raum, der noch nie geputzt worden zu sein scheint. Das mit einer Jalousie verdunkelte Fenster lässt sich nicht öffnen, da diese Seite des Raumes mit alten Möbeln voll gestellt ist. Alles ist mit einer fingerdicken Staubschicht überzogen, die Rollstuhlräder ziehen deutliche Spuren durch den Staub auf dem Boden. Es liegen auch keine Matratzen oder Sportmatten herum, sondern lediglich Kartons, ehemalige Umzugskisten.

Auf hartem Boden zu schlafen ist mir ohne irgendeine Form der Polsterung nicht möglich. Die Warnsignale flackern wild, als ich mich an Rollstuhlfahrer mit faustgroßen Druckstellen in der Klinik erinnere. Die Haut ist an diesen Stellen über dem Knochen aufgrund von zu hoher Druckbelastung und mangelndem Schmerzempfinden einfach abgestorben. Meist sind diese Stellen dunkelrot mit einem kleinen, unscheinbaren schwarzen Punkt in der Mitte. Das bedeutet, dass unter dem oberflächlich intakten Gewebe bereits abgestorbene Zellen lagern, die nicht abtransportiert werden. Eine Kettenreaktion, die oft in einem langen Klinikaufenthalt mündet.

 

Hier blendet nur die Fassade (trotz Rampe)

 

Das soll ich riskieren? Bestimmt nicht. Hier bleibe ich nicht. Das steht fest, bevor ich noch die Kakerlaken in dem versifften Bad sehe. Ausschließlich der großflächige Einsatz von Salzsäure hätte hier geholfen, und dann wäre es immer noch muffig gewesen; um wirklich sauber zu sein, hätte alles von Grund auf renoviert werden müssen.

In dem Ort gibt es noch ein Hotel, das wusste ich von meinem spanischen Wanderführer. Weiterzugehen ist um halb sieben Uhr keine wirkliche Option, und ein Taxi in den nächsten Ort zu nehmen auch nicht.

Das Hotel ist geschlossen. Ich bin so verblüfft, dass ich nur noch lachen kann. Die Situation ist zu grotesk. Also gehe ich zu der Bar zurück, in der ich den Schlüssel für die Notunterkunft bekommen habe und frage, ob es noch eine andere Übernachtungsmöglichkeit gebe. Schulterzucken. »Wenigstens eine Matratze?« Nach langem Hin und Her bekomme ich eine.

Natürlich freue ich mich kein bisschen auf die Nacht. Am Tresen der Bar ertränke ich den letzten Widerwillen gegen das Quartier mit Garvey, einem spanischen Brandy Ich sehe mich hier ganz klar als ein Opfer von Werbung. Vor einigen Tagen hatte ich einen Spot mit einem smarten Typen und einer eleganten Frau im Fernsehen gesehen. Natürlich trank er cool lächelnd Garvey. Ob er wohl auch in so einem Dreckloch hauste? Wahrscheinlich nicht. Hoffentlich ist das nach ein paar von den Dingern irrelevant.

 

Dem eigenen Leben auf der Spur
titlepage.xhtml
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_000.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_001.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_002.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_003.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_004.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_005.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_006.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_007.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_008.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_009.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_010.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_011.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_012.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_013.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_014.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_015.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_016.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_017.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_018.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_019.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_020.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_021.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_022.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_023.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_024.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_025.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_026.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_027.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_028.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_029.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_030.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_031.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_032.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_033.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_034.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_035.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_036.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_037.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_038.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_039.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_040.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_041.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_042.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_043.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_044.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_045.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_046.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_047.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_048.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_049.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_050.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_051.html
Dem_eigenen_Leben_auf_der_Spur_split_052.html