Kein Durchgang

 

Für mich sind Wallfahrten und Pilgerschaften grundsätzlich verschiedene Dinge. Wir sind alle Pilger, und auch wenn wir uns körperlich nicht bewegen, so fließt doch ständig alles. Wir entwickeln unsere Sicht auf die Welt weiter, wir schließen neue Freundschaften und beenden alte. Vielleicht suchen wir uns einen neuen Arbeitsplatz oder einen neuen Wohnort. Wir befinden uns stets auf der Reise.

Fragt ein erstaunter Tourist einen Mönch im Kloster: Warum haben Sie denn so wenig Sachen? Entgegnet der Mönch: Wo sind denn Ihre? Aber ich bin doch nur auf der Durchreise, erklärt der verblüffte Tourist. Sehen Sie, wir auch.

 

Eine Wallfahrt ist religiös motiviert, um Buße zu tun oder ein Versprechen einzuhalten. Vielleicht erhofft sich derjenige auch, am Grab des heiligen Jakobus in Santiago de Compostela etwas zu erhalten. Das ist weder gut noch schlecht, sondern lediglich anders als eine spirituell motivierte Pilgerschaft.

Der Jakobsweg ist so breit wie lang, jeder muss seinen eigenen finden und gehen. Die Gründe, sich auf den Weg zu machen, sind für jeden Pilger andere. Pilgern ist ein Ethos, eine Lebenseinstellung, eine Geisteshaltung. Eine Wallfahrt dagegen ist eine Reise zu einem heiligen Ort auf dieser Welt, nach Rom, nach Jerusalem, oder eben nach Santiago.

Ironischerweise habe ich noch nie das tatsächliche Grab des heiligen Jakobus in Santiago aufsuchen können: Der Durchgang ist zu eng für meinen Rollstuhl.

 

Am nächsten Morgen verlassen wir die Kirche bzw. unsere Herberge jeder allein. »Martine möchte die ersten Stunden des Tages immer allein sein«, verabschiedet sich Thomas als Erster.

Es ist kalt, bei dem neunten Glockenschlag, den ich hinter mir höre, befinde ich mich auf einem Weideweg in Richtung Zamora. Erst von hier aus sehe ich, dass am Turm unserer Kirche Lautsprecher befestigt sind. Die Glocken, die mich gestern Nachmittag so romantisch in den Schlaf bimmelten, kamen also von einem Tonband. Soll ich enttäuscht sein?

Auf alle Fälle bin ich fest entschlossen, heute nicht auf die Straße auszuweichen, die sich lautlos als graues Band am Horizont abzeichnet. Mit Schaudern denke ich an den Lärm zurück, der mir gestern den Nerv geraubt hat.

Ich gleite dahin und singe lauthals, wie ich es hier oft tue. Jeden mir noch so vage im Gedächtnis befindlichen Song interpretiere ich jaulend im Stil von Axel Rose, dem Sänger von Guns ’n’ Roses. Ich hatte schon eine Karte für das Konzert gehabt. Damals, im Juni 1993.

 

Bauern bei der Ernte, sie arbeiten gebückt auf dem Feld. Ihre unverschlossenen Autos parken am Wegrand, der Schlüssel steckt. Wie wäre es, schießt es mir durch den Kopf, ein Auto zu kapern und Wanderung einfach mal Wanderung sein zu lassen? Nur für ein paar Kilometer, ein bisschen Abwechslung... From Dusk till Dawn, ein Roadmovie von Quentin Tarantino, einmal anders.

Bei dieser schrägen Fantasie fällt mir die Erzählung ein, die ich einmal von einem frisch verletzten Rollstuhlfahrer gehört habe. Die Sehnsucht, wieder Autofahren zu wollen, übermannte ihn. Er war allein zu Hause. Vor der Tür parkte der Minivan seiner Eltern, mit Automatikgetriebe. Er griff sich die Autoschlüssel, zwei Regenschirme und stieg ein. Den Rollstuhl warf er auf die Rückbank. Mit dem einen Schirm auf dem Gaspedal und dem anderen auf der Bremse fuhr er los. Er wurde immer schneller, und in einer Kurve verlor er die Kontrolle über das Fahrzeug und überschlug sich. Als er aus dem Koma erwachte, erklärte ihm der Arzt, dass er einen Unfall gehabt und sich die Wirbelsäule gebrochen habe.

»Aber wieso, ich bin doch schon querschnittgelähmt«, fuhr er den Arzt entgeistert an.

»Ja, schon«, entgegnet ihm dieser, »ab jetzt aber ein paar Wirbel höher.«

Eine Lähmung einen Wirbelkörper höher bedeutet eine weitere Muskelpartie, die nicht mehr vom Gehirn angesteuert wird. Wolfgang Schäuble ist zum Beispiel drei Wirbel höher gelähmt als ich und verfügt somit über weniger aktiv unterstützende Muskulatur. Bei Interviews stützt er sich mit den Ellenbogen auf der Tischplatte auf, um freier gestikulieren zu können.

 

Ein Kollege von mir in der Bank sitzt auch im Rollstuhl. Er ist von der Halswirbelsäule ab gelähmt. Wegen seines einigermaßen zynischen Humors nenne ich ihn nur Harald Schmidt. Offiziell wird ein ab der Halswirbelsäule gelähmter Mensch als Tetraplegiker bezeichnet.

»Hey, Hobby Querschnitt«, begrüßt mich mein Kollege oft. Ich habe ihn noch nie mit schlechter Laune erlebt. Im Vergleich zu ihm bin ich fast das, was für mich eine gehende Person ist. Er kann seine Hände nicht mehr bewegen, der Großteil seines Alltags ist für ihn nicht ohne Hilfe zu bewältigen. Schon ein zu festes auf die Schulter Klopfen schleudert ihn vornüber auf die Knie.

Die Muskelpartien, die er aktiv zu steuern vermag, sind an einer Hand abzählbar. Der Königsmuskel ist sein Bizeps, der ist verdammt zäh und belastbar. »Sei vorsichtig, sonst hole ich mit meinem Tetrahaken aus«, droht er mir immer.

Mit diesem Haken könnte man ihn wahrscheinlich mindestens zehn Minuten an einer Reckstange aufhängen, ohne dass er müde werden würde. Ein erstaunlicher Mensch mit jeder Menge Überlebenshumor!

 

 

Dem eigenen Leben auf der Spur
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