2 AUFPRALL
Mein neunter Wandertag.
Ich fühle mich ausgelaugt, der rechte Handballen schmerzt. Leise begleitet mich das Quietschen des Lagers am linken Vorderrad.
Ich muss an den französischen Film »Hass« denken. Im Vorspann des Films, der in einem französischen Getto spielt, erzählt der Sprecher: »Dies ist die Geschichte einer Gesellschaft, die aus dem 50. Stock eines Hochhauses sprang. Um sich zu beruhigen, verkündet sie bei Erreichen eines jeden Stockwerks: >Bis hierher ist es noch gut gegangen, bis hier ist es noch gut gegangen...< Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern der Aufprall.«
Der 24. Mai 1993 war ein sonniger Tag. Ich war auf meiner Kawasaki LTD 440 unterwegs und verließ Berlin ostwärts in Richtung Polen. Das schriftliche Abitur war geschafft, und vor der großen Abifeier wollte ich zusammen mit meinem Freund Ingo für ein paar Wochen auf einer ehemaligen LPG arbeiten. Ich fand die Idee bestechend, nach der intensiven Lernerei einige Zeit an der frischen Luft zu verbringen.
Auf dem Weg aus der flirrend heißen Stadt hinaus verfuhr ich mich ständig und war wütend über die miserable Wegbeschreibung, die mir mein Bruder mitgegeben hatte. Aber die Autobahn war neu, es war wenig los und ich freute mich darauf, bald mit Ingo gemeinsam auf dem Motorrad durch die Gegend zu fahren, die langen Haare im Wind wehen zu lassen und das zu spüren, was man in diesem Alter für grenzenlose Freiheit hält.
»Wir müssen ihm die Lederjacke aufschneiden.« Ich liege zwischen den Leitplanken, blicke in den Himmel und höre das Gespräch von zwei Männern in Warnwesten. Ich will aufstehen und protestieren, merke aber gleich, dass das nicht geht. Meine Beine gehorchen nicht. Mir ist sofort klar, was passiert ist. Der Rettungshelikopter steht auf der Wiese neben mir, um mich herum erfüllt ohrenbetäubender Lärm die Luft. Für meinen ersten Flug im Hubschrauber hätte ich mir eine bessere Gelegenheit aussuchen können, denke ich noch, dann wird um mich herum alles schwarz.
Wie es zu dem Unfall kam, weiß ich bis heute nicht. Ich komme mit einer beidseitigen Lungenkontusion davon, einer schweren Quetschung der Lunge, schwebe lange in Lebensgefahr und verbringe mehrere Wochen auf diversen Intensivstationen der Hauptstadt. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Krankenhaus als Patient von innen erlebe.
Die stickige Klinik in Steglitz hat keine Klimaanlage. Jedes der mickrigen Krankenzimmer wird durch einen dünnen Vorhang zweigeteilt, auf der anderen Seite des Raumes liegt ein weiterer Schwerverletzter, den ich nur hören, aber nicht sehen kann.
»Erinnert ihr euch noch an den stöhnenden Patienten gestern«, frage ich meine Eltern und blicke in ihre ratlosen Gesichter, »der ist gestern Nacht gestorben.« Ich bin zwar wie betäubt von den schweren Schmerzmitteln und erst seit wenigen Tagen aus dem künstlichen Koma erwacht, aber ich will sie provozieren: Eigentlich wollte ich mit dem Satz über mich selbst gesprochen haben, aber das schaffe ich nicht.
Natürlich sagen sie nichts, ich spüre nur ihre Verzweiflung, gepaart mit völliger Hilflosigkeit. Sie sitzen auf ihren Plastikstühlen neben mir, ihre Rückenlehnen berühren die Wand und mit den Knien stoßen sie an das Bett.
Die Gespräche auf engstem Raum haben etwas Surreales. Ein Gefühl von Ohnmacht, das jeder für sich individuell spürt und das uns trennt, liegt über allem. Die Besucher halten von ihrer Position aus die Monitore, die meine Lebensfunktionen überwachen, fest im Blick.
An jedem Arm habe ich mehrere Kanülen, ein zentraler Venenkatheter befindet sich in der Halsschlagader und einige Lungendränagen saugen blutiges Sekret ab. Meine Chancen zu überleben stehen 50:50, und das auch nur deshalb, weil ich körperlich topfit war. Noch vor kurzem war ich als Ruderer auf Leistungssportniveau. In der körperlichen Wachstumsphase habe ich fünf bis sechs Mal wöchentlich trainiert, das hat mir ein Sportlerherz und ein Lungenvolumen von über sechs Litern beschert.
Jetzt werde ich künstlich beatmet, die Lungenhäute drohen zu kollabieren und vollständig zu verkleben. Immer wenn die Messgeräte eine flacher werdende Atmung anzeigen, streichelt einer aus meiner Familie meinen Bauch, durch die reflexiven Reize stabilisiert sich die Atmung sofort wieder.
Abends löst mein Bruder meine Eltern ab und verbringt die gesamte Nacht neben meinem Bett.
Die Schmerzen sind meine ständigen Begleiter, die medizinisch verordnete Dröhnung wirkt entsprechend stark. Halluzinogene Wachträume lösen komaartige Zustände ab, oft bettle ich nur nach meinen »scheiß Drogen«.
Nach zwei Wochen Bewegungslosigkeit auf engstem Raum raste ich aus. Es ist spät abends, und mein Bruder dämmert in sich gesunken neben mir auf dem Besucherstuhl vor sich hin. Ich beginne zu schreien. »Ich halte das hier nicht mehr aus, ich will raus!« Gleichzeitig versuche ich, mir die Kanülen aus den Venen zu reißen, ich will aufstehen und wegrennen. Mit hochrotem Kopf liege ich auf meinem Rücken, aber trotz höchster Anstrengung bewegen sich meine Füße keinen Millimeter.
Ich bekomme zehn Milligramm Valium, mit durchschlagender Wirkung. Als wäre ein Schalter umgelegt worden, sage ich nur wenig später zu meinem Bruder: »Ist doch alles cool hier, wozu die Aufregung?«
»Comfortably numb«, mit den Worten von Pink Floyd.
»Du musst ein Jahr durchhalten«, spricht mir mein Bruder leise ins Ohr. »Wenn du dann noch sterben willst, helfe ich dir dabei.«
Ich erinnere mich an die Verlegung von einem Krankenhaus in ein anderes. Wir ruckeln in sommerlicher Gluthitze mit dem Krankenwagen über altes Berliner Pflaster, und manchmal glaube ich dabei, meine Beine doch wieder zu spüren. In Neukölln will man meine gebrochene Wirbelsäule stabilisieren, indem die Wirbelkörper durch eine Metallplatte geschient und gestützt werden — auf diese Weise soll ich im Rollstuhl später zumindest stabil sitzen können.
Nach vier Wochen beginnen sich meine Beine wieder zu bewegen. Mein Bruder kneift mir in die Zehe, und das Bein beugt sich. Ich kann die Dinger zwar immer noch nicht spüren, aber zumindest ist Bewegung drin und der Spuk ist scheinbar doch schneller zu Ende als befürchtet.
Mit leuchtenden Augen erkläre ich dem Arzt, was geschehen ist, und erwarte spontane Freudenfeste, Schulterklopfen und ein »Nochmal mit einem blauen Auge davongekommen, wir können jetzt über Ihre Entlassung nachdenken«.
Seine nüchterne Diagnose lautet stattdessen: »Das ist völlig normal, Sie befanden sich im spinalen Schock, nun erleben Sie spastische Kontraktionen von einem Rückenmark, das unterhalb der Verletzung aktiv ist. Sie müssen sich das wie einen Gartenschlauch vorstellen, der, wenn er geknickt ist, auch noch oberhalb und unterhalb des Knickes Wasser hat. Es kommt nur keins mehr durch.«
Ich hätte aufstehen und ihn zum Fenster hinauswerfen wollen. Ungerührt, als spräche er über etwas Technisches, erstickt er jede Art von Hoffnung in mir im Keim.
Dann demonstriert er mir das Ausmaß der Situation plastisch und nimmt eine Nadel in die Hand. »Schließen Sie die Augen und sagen Sie mir, was Sie spüren.«
Ich spüre gar nichts, aber ich frage mich, ob er irgendetwas fühlt, als er sich, wie es mir in diesem Moment vorkommt, selbstsicher vor mir aufbaut und die Nadel in der rechten Hand schwenkt.
Bevor er das Zimmer verlässt, sagt er noch: »Erfahrungsgemäß regenerieren sich Teile des Rückenmarks noch innerhalb von 24 Monaten nach der Verletzung, Sie sollten sich also weiter beobachten.«
Gegen wen soll ich meine Verzweiflung richten? Weglaufen geht leider nicht. Früher setzte ich mich, wenn ich Kummer oder Arger verspürte, auf mein Motorrad, und schon beim Anlassen des Motors entspannten sich meine Gesichtszüge. Spätestens nach einem Kilometer war ich glücklich im Hier und Jetzt.
Born to ride, eigentlich dachte ich dabei an die zwei Räder eines Bikes und nicht an die vier Räder eines Rollstuhls.