Selbst der zweitmächtigste Mann der Welt hat immer noch einen Chef. Bis auf eine kleine Minderheit hat in einer Gesellschaft jeder einen Vorgesetzten. Personen, die keinen Chef haben, bilden eine vergleichsweise kleine Schicht, beispielsweise ein selbständiger Anwalt, Arzt oder Consultant, selbständige Handwerker, der geschäftsführende Eigner eines Unternehmens oder ein Professor an der Universität. Im Verhältnis zur abhängig beschäftigten Bevölkerung ist das ein geringer Teil. Joe Biden (*1942), Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Amerika, wird Ihnen in diesem Kapitel einige wesentliche Dinge zeigen, auf die man achten sollte, wenn man mit seinem Chef wirksam zusammenarbeiten will.
Biden hat eine lange politische Karriere hinter sich. Im Jahr 1973 zog er als einer der jüngsten Senatoren der Geschichte in den US-Kongress ein, heute ist er einer der erfahrensten amerikanischen Politiker. Diese umfassende politische Erfahrung war sicherlich einer der maßgeblichen Gründe, warum Barack Obama ihn zum Vizepräsidenten ernannte. Als solcher hat er gemäß der Verfassung den Vorsitz im Senat, der zweiten Kammer des Parlaments. Sollte der Präsident ausfallen, rückt der Vizepräsident an dessen Stelle. Dies geschah beispielsweise im Jahr 1945, als Harry Truman den Platz des verstorbenen Franklin D. Roosevelt einnahm. Truman besaß quasi keinerlei außenpolitische Erfahrung, da ihn Roosevelt kaum in diese Thematik involviert hatte. Umso beeindruckender ist die Leistung von Truman, der dieses Amt in der schwierigen Schlussphase des Zweiten Weltkriegs übernommen hatte und auch in den Jahren danach in jeder Hinsicht kompetent weiterführte. Ein weiteres Mal rückte ein Vizepräsident in das höchste Amt nach, als Lyndon B. Johnson die Aufgaben des am 22. November 1963 ermordeten John F. Kennedy übertragen wurden. Bei Joe Biden besteht kein Zweifel daran, dass er das Amt des Präsidenten kompetent übernehmen könnte. Vom Präsidenten hängt es in der Regel ab, wie viel politischen Spielraum er seinem Stellvertreter lässt.
Was kann Joe Biden nun tun, wenn er an wirksamer Zusammenarbeit mit Kollegen und Mitarbeitern interessiert ist? Und was kann er tun, um seinen Chef Barack Obama zu führen? Entgegen der landläufigen Annahme, es seien nur die Chefs für die Führung ihrer Mitarbeiter verantwortlich, muss nämlich auch ein Chef geführt werden. Neu ist das zwar keineswegs, Peter F. Drucker schrieb hierüber bereits ausführlich 1967 in The Effective Executive, wobei sich der Gedanke bereits 1954 in The Practice of Management in seinen Überlegungen zu den Themen Organisation und Zusammenarbeit fand. Dennoch wird diese Tatsache viel zu wenig gelehrt, gerade auch von Chefs nicht, die im Grunde das höchste Interesse daran haben müssten, wie wir noch sehen werden.
Aber nicht nur den Chef, auch Kollegen muss man führen, was oft nicht gesehen wird und was weit schwieriger ist, als Mitarbeiter zu führen, denen gegenüber man ja letztlich immer noch weisungsbefugt ist. Da Mitarbeitern dies bewusst ist, lassen sie es gar nicht dazu kommen, dass ihr Vorgesetzter ihnen eine Weisung erteilen müsste. Kommt es häufiger vor, dass der Chef mit Weisungen führt, liegt ohnehin ein grundsätzlicheres Problem auf einer der beiden Seiten vor. Um wirksame Zusammenarbeit in der Praxis umzusetzen, seien Ihnen die folgenden vier Punkte empfohlen:
1. Listen der Abhängigkeiten erstellen
Für die Wissensgesellschaft charakteristisch ist, dass die meisten Menschen in einer Organisation heute sogar mehrere Chefs haben; sie haben ihren direkten Vorgesetzten, in Projekten beispielsweise aber auch den Projektleiter, der ihnen in dieser Funktion vorgesetzt ist. Diese Personen sind bei ihrer eigenen Arbeit von Ihren Ergebnissen abhängig. Aber auch Sie werden Ihrerseits von anderen abhängig sein. Es ist sehr empfehlenswert, sich als ersten Schritt zwei Abhängigkeitslisten anzulegen. Die erste trägt die Überschrift „Personen, von denen ich abhängig bin (in Bezug auf meine Ergebnisse)“, die zweite „Personen, die von mir abhängig sind (in Bezug auf ihre Ergebnisse)“.
Solche Listen sollten nicht auf die Abhängigkeiten innerhalb der eigenen Organisation begrenzt bleiben. Viele Partnerschaften im Geschäftsleben scheitern, weil Abhängigkeiten außerhalb der eigenen Organisation zu wenig berücksichtigt und ernst genommen werden. Achten Sie also gezielt auf Kunden, Joint Ventures, strategische Partnerschaften und Ähnliches, wo unter Umständen wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Ihnen und anderen bestehen. Ihre Abhängigkeiten enden definitiv nicht an der Unternehmensgrenze. Viele wissen das zwar, handeln aber nicht dementsprechend, worin für Sie eine leicht zu nutzende Chance liegt, sich einen Vorteil zu verschaffen. Die Fragen, die Sie dann mit den Personen auf Ihren Listen besprechen sollten, lauten:
- „Was kann ich tun und was benötigen Sie, damit Sie Ihre Arbeit wirksam erledigen können?“
- „Was tue ich oder was tun wir in unserer Abteilung, das es Ihnen schwer macht, zu Ihren Ergebnissen zu kommen?“
Lassen Sie Ihren Gesprächspartner auch wissen, was Sie Ihrerseits für Ihre Ergebnisse von ihm benötigen, meistens wird er diese Frage ohnehin selbst stellen. Aktualisieren Sie diese Abhängigkeitslisten mindestens einmal im Jahr sowie bei jedem Stellenwechsel, bei Stellenveränderungen und neuen Schlüsselaufträgen.
2. Den Chef wirksam machen
Der wichtigste Grundsatz für eine gute Zusammenarbeit mit Ihrem Chef lautet: Machen Sie Ihren Chef wirksam. Achten Sie auf die Arbeitsmethodik Ihres Chefs und richten Sie sich danach. Es wird Ihnen nicht gelingen, Ihren Chef zu ändern. Wenn Sie sich bei dem einen oder anderen Punkt nicht ganz sicher sind, machen Sie etwas ganz Einfaches: Fragen Sie! Fragen Sie Ihren Chef, wie er die Dinge haben will. Unter Umständen steht Ihnen eine nicht ganz angenehme Phase der Eingewöhnung bevor, aber nur so werden Sie wirksam.
Eingangs hatten wir festgehalten, dass es sowohl von Obama als auch von Biden klug war, die Zusammenarbeit als Präsident und Vizepräsident einzugehen. Noch bevor Biden ernannt wurde, äußerte er sich kritisch gegenüber Obamas mangelnder außenpolitischer Erfahrung. In einem Interview sagte Biden, dass Obama John McCain auf allen Gebieten überlegen sei, „mit einer Ausnahme: die politische Erfahrung. Da meinen die Leute, dass man mehr davon haben sollte.“111 Genau diese langjährige Erfahrung besonders auch in der Außenpolitik ist wiederum Joe Bidens große Stärke. Damit Obama als Präsident wirksam werden kann, braucht er genau solche Partner, die ihm helfen, seine Stärken zu nutzen, und ihre Stärken dann dort einbringen, wo sie bei ihm noch nicht so gut ausgeprägt sind. Das „Geheimnis“ guter Führungskräfte ist, dass sie ihren Chef wirksam machen. Das Geheimnis gilt aber auch für Kollegen, Mitarbeiter und sonstige Personen auf Ihrer Abhängigkeitsliste.
3. Informationen austauschen
Damit der Chef wirksam sein kann, muss er wissen, was der aktuelle Stand der Dinge ist. Er muss informiert sein. Er muss wissen, was Ihre Ziele sind und wo Ihre Prioritäten liegen. Sie dürfen nicht vergessen, dass Ihr Chef seinerseits auch einem Vorgesetzten gegenüber verantwortlich ist und diese Information braucht, um ein realistisches Bild der Lage zu haben und zu vermitteln. Selbstbewusst sagte Joe Biden, „er werde für Obama der ‚oberste Ratgeber‘ sein. Bei jeder wichtigen Entscheidung, die er trifft, werde ich im Raum sein.“112 Unter dem Gesichtspunkt eines guten Informationsflusses, der für gute und wirksame Entscheidungen unentbehrlich ist, kann man dies nur begrüßen. Für die anderen Personen auf Ihrer Abhängigkeitsliste ist der Informationsfluss natürlich ebenso bedeutend.
4. Den Chef nicht unterschätzen
Es gibt einen Grund, warum er Ihr Chef ist und nicht Sie seiner. Gerade jüngere Mitarbeiter haben mit dem Gedanken oft ihre Schwierigkeiten. Es ist sehr leicht zu erkennen, was der Chef alles nicht kann, es braucht aber viel mehr Erfahrung, die Stärken des Chefs zu erkennen und schätzen zu lernen. Als Grundhaltung kann man den Jüngeren nur empfehlen, den intensiven Kontakt zur älteren Generation zu suchen. Geschichtlich war es immer so, dass Wissen und Erfahrung von einer Generation an die nächste weitergegeben wurden, warum sollte das heute nicht mehr nützlich sein?
Unterschätzen Sie Ihren Chef nicht. Wenn Sie persönlich immer wieder Schwierigkeiten mit Ihrem Chef haben sollten, so hat Jack Welch einen guten Rat für Sie, der es auf den Punkt bringt: „Im Allgemeinen benehmen sich Vorgesetzte gegenüber Menschen, die sie mögen, respektieren und brauchen, nicht ablehnend, geschweige denn verletzend. Wenn Ihr Chef also vor allem Ihnen gegenüber schwierig ist, können Sie ziemlich sicher davon ausgehen, dass er eine eigene Sicht der Dinge hat und diese Sicht etwas mit Ihrer Arbeitsauffassung oder Leistung zu tun hat.“113 Denken Sie also über Ihre Leistung und Einstellung nach.
Aufgaben und Denkanstöße:
- Erstellen Sie die zwei erläuterten Abhängigkeitslisten, die erste mit der Überschrift „Personen, von denen ich abhängig bin (in Bezug auf meine Ergebnisse)“, die zweite „Personen, die von mir abhängig sind (in Bezug auf ihre Ergebnisse)“.
- Sprechen Sie mit den Personen auf den Listen und diskutieren Sie die weiter oben genannten Fragen.
- Machen Sie die Personen auf Ihren Abhängigkeitslisten wirksam und halten Sie sie auf dem Laufenden.
- Suchen Sie das Gespräch mit Menschen aus einer anderen Generation.