Herbert von Karajan (1908–1989) prägte über drei Jahrzehnte lang mit seinem Können die Berliner Philharmoniker, die unter seiner Leitung zwischen 1955 und 1989 zu einem der angesehensten Wagner-Orchester der Welt avancierten. Er setzte aber auch Maßstäbe bei der Interpretation des klassischen und romantischen Konzert- und Orchesterrepertoires von Ludwig van Beethoven, Anton Bruckner und Richard Strauss. Darüber hinaus galt er als einer der kompetentesten Interpreten von Giuseppe Verdi.
Neben der nahezu endlos erscheinenden Zahl an Einspielungen erreichte er auch eine ungewöhnliche Machtposition innerhalb der europäischen Musikszene. Zusätzlich zur Leitung der Berliner Philharmoniker leitete er von 1956 bis 1964 die Wiener Staatsoper und übernahm weitere leitende Stellungen, unter anderem bei den Salzburger Festspielen, bei den von ihm 1967 gegründeten Salzburger Osterfestspielen sowie bei den 1973 ins Leben gerufenen Salzburger Pfingstkonzerten. Mit seinen Produktionsfirmen gelang ihm die umfassende multimediale Verwertung seiner künstlerischen Auftritte im Verbund von Liveaufführungen, Ton- und Bildaufzeichnungen. Karajan selbst war stets begeistert von den Möglichkeiten der Technik und gehörte zu den Pionieren, wenn es darum ging, neue technische Errungenschaften für sich zu nutzen. Nicht zu übersehen ist auch die Vielzahl junger Künstler, zu denen etwa auch die Geigerin Anne-Sophie Mutter gehört, deren Entdeckung durch Karajans wohlwollende Einflussnahme entscheidend gefördert wurde.
So umfassend seine vielen Tätigkeiten und Engagements auch waren, so sehr war er doch ein Meister in der Kunst des „systematischen Abschaffens“. In dieser Hinsicht können Sie als Führungskraft etwas Wertvolles von ihm lernen.
Menschen und Organisationen, die Großes leisten, nutzen die Technik des systematischen Abschaffens. Sie ist keineswegs neu, bereits in Managing for Results (1964) und in The Effective Executive (1967) legte Peter F. Drucker das Konzept ausführlich dar. Praktiziert wird das Vorgehen von den meisten Organisationen hingegen nicht systematisch, obwohl das Konzept doch gerade in der heutigen Zeit mit ihrem Überangebot an Möglichkeiten und der damit verbundenen Gefahr, die Kräfte zu verzetteln, von größtem Nutzen ist.63
Zwar zeichnete sich Karajans Engagement durch eine beeindruckende Vielseitigkeit aus, nichtsdestoweniger beherrschte er es perfekt, sich während einer bestimmten Schaffensphase voll auf ein einziges Thema einzulassen und andere Dinge bewusst zurückzustellen oder ganz abzuschaffen. Er wusste, dass kein Orchester Werke stilistisch grundlegend verschiedener Komponisten gleichzeitig auf Weltniveau spielen kann. Trotz der Konzentration auf nur wenige Komponisten gestaltete er, wie jeder kompetente Dirigent, das Repertoire nicht zu breit, wenn er Maßstäbe setzen wollte. Damit ist Raum für exzellente Leistungen geschaffen, bei denen andere Orchesterstücke und Komponisten hintanstehen müssen.
Dies ist auch einer der Gründe, warum Dirigenten mit einem breiten Repertoire – wie beispielsweise Simon Rattle – die große Ausnahme unter den Weltklasse-Dirigenten bilden. Es ist Normalsterblichen nicht gegeben, viele Dinge exzellent zu tun. Aber selbst bei Genies kann man zuweilen behaupten, dass etwas weniger durchaus auch hätte mehr sein können. So schrieb Giorgio Vasari, Zeitgenosse von Michelangelo und Biograf berühmter Maler, Bildhauer und Architekten jener Zeit, bereits im 16. Jahrhundert über Leonardo da Vinci: „Man sieht, dass Leonardo, um die Kunst gründlich kennenzulernen, vielerlei anfing und nichts richtig beendete.“64
Wie wichtig das Konzept ist, sich von Ballast zu trennen, kann man auch in der Literatur bewundern. Der englische Schriftsteller Charles Dickens, zu dessen bekanntesten Werken Oliver Twist und David Copperfield zählen, machte seine Bücher dadurch besser, dass er sie immer und immer wieder kürzte. Anstatt mehr Text zu schreiben, nutzte er verschiedene Farben, um Wörter, Sätze oder ganze Passagen in seinem Manuskript nach und nach in mehreren Durchgängen zu streichen. Am Ende konnte ein solches Dokument von Rot, Grün und Blau durchsetzt sein und nur noch ein Drittel des ursprünglichen Umfangs haben.
Wenn schon diese herausragenden Persönlichkeiten die Notwendigkeit sahen, systematisch Tätigkeiten zurückzustellen, dann müssen wir als normale Führungskräfte dies erst recht einsehen. Dies gilt aber nicht nur für den Einzelnen, auch ganze Organisationen können durch systematisches Abschaffen ihre Wirksamkeit und Effizienz erheblich steigern. Ein paar einfache Grundüberlegungen und Vorgehensweisen können dabei gute Dienste leisten.
1. Grundüberlegungen
Weder Führungskräfte noch Organisationen können auf vielen Gebieten gleichzeitig Bemerkenswertes leisten. Das muss man als Prämisse akzeptieren. Der erste und wichtigste Schritt muss deshalb sein, systematisch all jene Dinge abzuschaffen, die von Wirksamkeit und Effizienz abhalten. Geschieht das nicht regelmäßig und mit System, werden immer Ressourcen für Dinge verschwendet, die nicht länger getan zu werden bräuchten. Nicht selten sind es dann die besten Leute, die sich mit diesen überholten Dingen der Vergangenheit beschäftigen müssen, anstatt sich um jene Angelegenheiten zu kümmern, die Chancen für die Zukunft darstellen. Die darüber hinausgehende Verschwendung von Zeit, Geld und physischen Ressourcen macht sich in der Folge an den Stellen bemerkbar, an denen sie dringend für einen produktiven Beitrag gebraucht worden wären.
Der Prozess der Selbsterneuerung über systematisches Abschaffen und Innovationen ist notwendig, weil sich alle Produkte, Dienstleistungen, Prozesse, Systeme und Leitlinien früher oder später überlebt haben, ganz einfach deshalb, weil entweder die mit ihnen verbundenen Ziele bereits erreicht wurden oder weil andere Ziele an ihrer Stelle künftig erforderlich sind. Ganz abgesehen davon ist auch zu bedenken, dass es wesentlich vorteilhafter ist, den Prozess des systematischen Abschaffens selbst aktiv voranzutreiben, als erst dann zu reagieren, wenn die Konkurrenz einen zu diesem Schritt zwingt. Man ist in der aktiven Rolle einfach in der deutlich besseren Position. Organisationen und Menschen, die den Wandel anführen, gehen zwar ein gewisses Risiko ein, diesem Wandel aber nicht oder zu spät zu folgen wäre eindeutig das größere Risiko. Organisationen, die sich vielleicht sogar als Change-Leader profilieren möchten, kommen um einen rigorosen Prozess des systematischen Abschaffens ohnehin nicht herum.
2. Vorgehensweisen
Es gibt viele Wege, diesen Prozess zu etablieren, zwei bewährte sind die Stop-doing-Liste und die regelmäßige Sitzung zur systematischen Abschaffung (man könnte auch kurz Abschaffen-Sitzung sagen).
Die Stop-doing-Liste kann einen großen Beitrag zu Ihrer persönlichen Wirksamkeit leisten. Wirksame Führungskräfte führen in irgendeiner Form To-do-Listen, also Aufzeichnungen von Aufgaben, die sie noch erledigen wollen. Anstatt aber nur jene Dinge aufzuschreiben, die Sie tun wollen, sollten Sie auch notieren, was Sie künftig nicht mehr tun wollen. Durch die Beschäftigung mit Ihrer Stop-doing-Liste werden Sie nicht nur entdecken, was Sie nicht mehr tun sollten, Sie werden auch Chancen und Wege erkennen, wie Sie dies nicht mehr tun müssen.
Bedenken Sie in diesem Zusammenhang, dass viele erfolgreiche Menschen Geld für Zeit eintauschen, wohingegen die große Mehrheit Zeit für Geld eintauscht. Selbst wenn Ihnen dieser Gedanke noch fern erscheint, behalten Sie ihn trotzdem im Hinterkopf. Denn Sie werden recht schnell Möglichkeiten finden, wie Sie sich Zeit gegen Geld erkaufen können, zunächst noch im eher kleinen Rahmen, mit der nötigen Konsequenz aber schon bald im großen Stil. Sie werden sehen, dass es sich dabei wie mit Zinsen verhält: Zinsen ergeben Zinseszinsen, die auch wieder verzinst werden, und so weiter. Je mehr Sie es sich leisten können, sich mit Geld Zeit zu erwerben, desto mehr werden Sie sich auf jene Dinge konzentrieren können, mit denen Sie eine deutlich höhere Wertschöpfung erzielen, was Ihnen wiederum Ressourcen verschafft. Dass Stop-doing-Listen nicht nur für Sie als Führungskraft hilfreich sind, sondern vor allem auch dabei helfen können, die Organisation wirksamer zu machen, liegt wohl auf der Hand.
Der zweiten Methode, der monatlichen Abschaffen-Sitzung, liegt eine Idee zugrunde, die so einfach wie einleuchtend ist: Definieren Sie in Ihrer Organisation einen festen Tag im Monat, an dem eine Sitzung stattfindet, in der konsequent nur über jene Dinge diskutiert wird, die man abschaffen sollte. In manchen Organisationen wird eine solche Sitzung einmal im Monat konsequent auf allen Managementebenen durchgeführt. In jeder dieser Sitzungen steht ein anderer Schwerpunktbereich des Unternehmens im Mittelpunkt der Diskussion, zum Beispiel Produkte, Dienstleistungen, Verwendungszwecke, Märkte, Kundengruppen, Vertriebswege, Prozesse, Regeln oder Richtlinien. Ziel ist es, innerhalb eines Jahres einmal die gesamte Organisation unter dem Gesichtspunkt des systematischen Abschaffens zu betrachten. Ganz allgemein muss dabei stets gefragt werden: Wollen wir das, was wir hier tun, weiterhin beibehalten? Was sollten wir zukünftig nicht mehr tun?
Jack Welch formulierte sein Ziel, dass GE überall Nummer eins oder zwei werden sollte, als Reaktion auf zwei Fragen: „Würden Sie heute in dieser Branche tätig werden, wenn Sie nicht bereits dort aktiv wären?“ Und wenn die Antwort Nein war: „Was werden Sie nun tun?“65 Übertragen Sie diese Fragen sinngemäß auch auf andere Bereiche der Organisation. Was Sie über das Jahr hinweg erwarten dürfen, sind wichtige Veränderungen hinsichtlich dessen, was getan wird und wie es getan wird. Überdies werden sicherlich einige sinnvolle Tätigkeiten auftauchen, die Sie neu hinzunehmen wollen. Dem Prozess können Sie viel Schwung und eine gesteigerte Wirksamkeit verleihen, wenn Sie, wie es sich für ein gutes Umsetzungsmanagement ganz selbstverständlich gehört, in regelmäßigen Abständen kommunizieren, was aufgrund dieser Sitzungen konkret bewirkt und verändert wurde.
Aufgaben und Denkanstöße:
- Führen Sie eine monatliche „Abschaffen-Sitzung“ (Sitzung zur systematischen Abschaffung) ein und machen Sie die Ergebnisse des systematischen Follow-ups innerhalb der Organisation öffentlich.
- Führen Sie eine Stop-doing-Liste.
- Prüfen Sie, wo Sie nutzstiftend Geld für Zeit eintauschen können.