epilog


Frühjahr 1966

»Komm, wir schauen mal, was Daddy macht, Leo.«

Jacqueline nahm ihren kleinen Sohn an die Hand, und sie gingen aus dem Haus und den Gartenweg hinunter zum Tor. Da der Kleine nur winzige Trippelschritte machte, hatte Jacqueline genug Zeit, den grünen Rasen und das leuchtende Rot der Bougainvillea zu bewundern, die wieder ausgetrieben hatte und den hölzernen Bogen, an dem sie sich emporrankte, völlig überwucherte. Die Knollen und Blumenzwiebeln, die sie und Vera in den Rabatten rings um den Rasen gepflanzt hatten, waren alle angegangen. Bald würden Narzissen, Osterglocken, Tulpen, Schwertlilien und Hyazinthen ihre Farbenpracht entfalten. Auch die Sträucher waren angewachsen. Ben und Nick hatten einen höheren Zaun zum Schutz gegen die Kängurus rings um den Garten gezogen. Da in den letzten sechs Monaten kaum Regen gefallen war, betrachteten die Tiere den künstlich bewässerten Rasen und die Gewächse als willkommene Mahlzeit.

Mit seinen vierzehn Monaten war Leo noch unsicher auf seinen kurzen Beinchen, aber er liebte die Spaziergänge zu seinem Daddy, der ihn manchmal vor sich im Sattel auf Dixie reiten ließ. Als sie an dem Schuppen vorbeigingen, in dem der Generator stand, konnte Jacqueline schon lautes, energisches Hämmern hören. Sie lächelte. Ein kleines Stückchen weiter entstand ihr neues Haus.

Der Rohbau samt dem Dach war schon seit Wochen fertig; jetzt war Nick mit dem Innenausbau beschäftigt. Jacqueline hatte vorgeschlagen, Bauarbeiter einzustellen, damit das Ganze schneller ging. Mit dem Geld von ihrem Vater hätten sie sich das leisten können. Aber Nick hatte darauf bestanden, alles selbst zu machen, weil er wollte, dass ihr Haus mit Liebe gebaut wurde. Jacqueline fand das rührend, sie liebte Nick dafür umso mehr. Andererseits konnte sie es kaum erwarten, ihren Vater wiederzusehen, damit er endlich seinen Enkel und seinen neuen Schwiegersohn kennen lernen würde. Er werde sie erst besuchen, wenn das Haus fertig sei, hatte Lionel ihr mitgeteilt.

Nick besaß viele Talente. Er konnte nicht nur Maschinen und Geräte reparieren, sondern auch fast jeden Flugzeugtyp fliegen, einschließlich des neuen Flugzeugs, das sie ihm wenige Monate zuvor zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Er war außerdem ein hervorragender Zimmermann, Maurer und Klempner, und was er nicht konnte, brachte er sich selbst bei. Nick war stolz auf seine handwerklichen und sonstigen Fähigkeiten. Gingen seine Neffen ihm beim Hausbau zur Hand, lehrte er sie geduldig, was sie noch nicht beherrschten. Insbesondere Sid machte das Werkeln viel Freude.

Er und Jimmy waren mit den Adnyamathanha auf walkabout gegangen, auf die rituelle Wanderung der Aborigines, damit sie Einblick in die Sitten und Bräuche der Ureinwohner bekamen und ihre Wurzeln kennen lernten. Für Ben war das eine schwere Zeit gewesen. Als seine Söhne nach zwei Monaten zurückkehrten, war er überglücklich. Er hatte sie schrecklich vermisst, und auch die Jungen hatten Heimweh nach der Farm und ihren Brüdern gehabt. Dennoch waren sie froh über die Erfahrungen, die sie gesammelt hatten, und sagten übereinstimmend, es sei gut, zwei völlig unterschiedliche Kulturen zu kennen.

»Hallo!«, rief Jacqueline.

Nick, der die Türrahmen im Inneren des Hauses einsetzte, legte seinen Hammer aus der Hand. Er strahlte, wie jedes Mal beim Anblick seiner Frau und seines kleinen Sohnes.

»Hallo, ihr zwei!« Er kam heraus, küsste erst Jacqueline auf die Wange und dann Leo, den er auf den Arm nahm.

»Kommst du voran?«, erkundigte sich Jacqueline.

Sie lächelte, als Leo seine Ärmchen um den Hals seines Vaters legte und fröhlich glucksend lachte, als Nick ihn kitzelte. Jacqueline war ganz aufgeregt. Sie hatte schon so viele Ideen für die Innenausstattung ihres neuen Heims. Sie hätten sich natürlich auch anderswo ein Haus oder ein Stück Land kaufen können, aber beide hatten auf Wilpena bleiben wollen. Ben, Vera und die Jungen waren überglücklich über diese Entscheidung.

»So langsam wird es«, antwortete Nick, der rundherum zufrieden und glücklich war – zum allerersten Mal in seinem Leben. Der Stolz, der in seiner Stimme mitschwang, war unüberhörbar. Selbst ein Blinder musste sehen, wie liebevoll jedes Detail im Haus gearbeitet war. »Morgen werden die Türen geliefert, deshalb will ich mit den Rahmen fertig werden.«

Jacqueline hatte die Türklinken bereits ausgesucht, sie waren noch in Kartons verpackt. »Kommt morgen nicht auch der Elektriker?«

Die Elektroinstallationen waren das Einzige, für das sie einen Fachmann kommen ließen, und zwar Ian Bensons Bruder Terry, der in Port Augusta lebte. Die Bensons waren so dankbar für Jacquelines Hilfe, dass sie darauf bestanden, dass Terry ihnen einen ganz speziellen Sonderpreis machte. Sie hatten die Krise überwunden und gingen wieder besseren Zeiten entgegen. Sogar Teddy und Des hatten sie wieder eingestellt, was Jacqueline besonders freute. Sie fand, sie hätte ihre Abfindung nicht besser anlegen können.

Von Henry hatte sie nichts mehr gehört, was sie aber nicht im Mindesten störte. Ihr Vater hatte ihn offenbar bei seinem Bruder aufgestöbert und ihm telefonisch gehörig die Meinung gesagt. Henry bedauere angeblich sehr, dass alles so gekommen sei, hatte Lionel berichtet, aber er glaube, dass er vor allem sich selbst bedauere, weil er alles verloren habe.

»Ja, Terry will schon in aller Herrgottsfrühe kommen«, sagte Nick. »Ich hab übrigens gute Nachrichten. Das Elektrizitätswerk will Leitungen unten an der Straße verlegen, dann kriegen wir einen Anschluss und brauchen den Generator nur noch in Notfällen.«

»Oh, das ist wunderbar!«

»Und Telefonleitungen sollen auch bald folgen«, fügte Nick hinzu. Er wusste, dass Jacqueline sich darüber ganz besonders freuen würde.

Sie riss die Augen auf. »Dann kann Dad mich in Zukunft anrufen!«

»Genau. Hast du gehört, Leo? Du kannst am Telefon mit deinem Großvater plaudern.« Leo gab ein vergnügtes Gurgeln von sich.

»Das Essen ist in einer Stunde fertig«, sagte Jacqueline. Im gleichen Moment zupfte jemand an ihrem Rock. Sie senkte den Blick und lächelte. »Hallo, Yuri!«

»Hallo«, erwiderte der Junge schüchtern, aber mit einem Lächeln.

»Wo ist denn deine Mama?«

Yuri drehte sich um und zeigte mit dem Finger auf Dot, die nur wenige Meter hinter ihnen stand.

»Hallo, Missus.« Dot hielt Jacqueline den Korb hin, den sie trug. »Ich hab ein paar Yamswurzeln.«

»Oh, das ist lieb von dir, danke, Dot. Auf dem Tisch hinterm Haus steht ein Korb Gemüse für dich.«

»Danke, Missus. Dein kleiner Sohn wird mit jedem Tag größer!«

Jacqueline lächelte. »O ja, man kann ihm fast beim Wachsen zusehen. Ich habe auch ein Glas Zitronencreme in den Korb gestellt. Vera hat sie vor ein paar Tagen gemacht.« Mit Zitronen vom eigenen Baum. »Die kann man wie Marmelade essen – auf Fladenbrot gestrichen, wird Yuri sie bestimmt mögen.«

Plötzlich kam Geoffrey schreiend und gestikulierend aus dem Haus auf sie zugerannt.

»Das Krankenhaus in Hawker hat uns gerade angefunkt«, keuchte er.

Jacqueline schnappte erschrocken nach Luft.

»Vera ist eingeliefert worden! Dad will, dass wir so schnell wie möglich hinkommen!«

Jacqueline sah Nick bestürzt an. »O nein!« Sie hatte gleich geahnt, dass so viel Glück vom Schicksal bestraft würde. »Hoffentlich ist es nichts Ernstes.« Sie hatten tags zuvor am Wilpena Pound gepicknickt, da war es Vera noch sehr gut gegangen.

»Ich hol den Wagen«, sagte Nick. Er reichte Jacqueline seinen Sohn und eilte im Laufschritt davon. Sie hatten sich nach Leos Geburt einen Jeep gekauft, weil der größer war und eine Rückbank hatte.

Jacqueline, das Kind auf den Armen, rannte ins Haus, wo sie in aller Eile ein paar Sachen für Leo in eine Tasche warf. Als sie wieder herauskam, stand Nick mit dem Jeep schon da. Die Jungs saßen alle vier im Fond. Sie kletterte hinein, und er gab Gas.

Als sie im Memorial Hospital in Hawker eintrafen, waren Tess und Tim bereits da. Das beunruhigte Jacqueline noch viel mehr. Ben hätte nicht alle zusammengetrommelt, wenn Vera nicht ernsthaft erkrankt wäre.

»Wisst ihr Näheres?«, fragte sie Tess als Erstes.

»Nein, nicht das Geringste.«

Sie und Tim waren bei dem Picknick dabei gewesen, sie wusste, dass es Vera da noch gut gegangen war. Es war ein wunderschöner, windstiller Tag gewesen, den sie alle genossen hatten. Sie hatten eine Decke unter einem Baum ausgebreitet, hatten sich die leckeren Sachen schmecken lassen, die sie von zu Hause mitgebracht hatten, und die Männer hatten ein paar Bierchen getrunken. Leo war ganz fasziniert gewesen von den Wallabys und den vielen Vögeln.

»Wie ist es ihr denn heute Morgen gegangen?«

»Gut«, antwortete Jacqueline. »Sie hat gut geschlafen und war guter Dinge. Ben musste in die Stadt, Vorräte besorgen, und da ist sie mitgefahren. Sie wollten im Hawker Hotel etwas essen.« Sie legte den Arm um Tess’ Schulter. »Alles in Ordnung, Tess?«, fügte sie dann besorgt hinzu. »Du bist ganz schön blass.«

»Ich mach mir nur Sorgen um Vera. Aber ich glaube, ich muss mich setzen.«

Tim zog einen Stuhl für seine Frau heran, die im sechsten Monat schwanger war.

Eine Tür flog auf, und Ben, weiß wie eine Wand, stürzte heraus.

Jacqueline eilte auf ihn zu. »Was ist? Wo ist Vera? Geht es ihr gut?«

»Sie …« Ben brachte kein Wort mehr hervor. Jacqueline ging an ihm vorbei in das Zimmer, in dem Vera lag. Tess, Tim und Nick folgten ihr.

»Vera«, sagte Jacqueline leise. Ihre Freundin sah völlig erschöpft aus. Das Haar klebte ihr schweißnass an den Schläfen. »Wie geht es dir?«

Vera streifte sie mit einem kurzen Blick und sah dann Ben an, der neben ihr Bett trat und sich setzte.

»Es war verdammt schwer«, sagte er. »Die Ärzte dachten, sie werde es nicht schaffen.«

Jacqueline betrachtete Veras Körper, der sich schmal unter der Decke abzeichnete. Irgendetwas war schiefgegangen, war ganz furchtbar schiefgegangen. Sie konnte es Vera ansehen.

»Du hättest mich wenigstens warnen können«, flüsterte Vera Jacqueline zu.

Diese wusste, was sie meinte. Tröstend drückte sie ihr den Arm.

»Aber es geht dir doch wieder gut, oder?«, fragte Tess ängstlich.

Vera nickte. Sie wandte sich Ben zu und verzog die Lippen zu einem schwachen, zittrigen Lächeln.

Ben erhob sich und sah alle nacheinander feierlich an. »Ihr könnt uns gratulieren. Wir sind die stolzen Eltern einer Tochter!« Er strahlte übers ganze Gesicht.

»Was?«, entfuhr es Jacqueline. »Aber es ist doch noch viel zu früh!«

»Dem Baby geht es gut. Ich glaube, die Fahrt über die holprigen Straßen in die Stadt hat die Wehen ausgelöst. Ich habe eine kleine Tochter! Könnt ihr euch das vorstellen?« Er sah seine vier Söhne an, die am Fußende des Bettes standen. »Ihr habt eine kleine Schwester bekommen!«

Nach einer Schrecksekunde brachen die Jungen in lauten Jubel aus und hüpften vor Begeisterung durch das Zimmer.

»He, das ist ein Krankenhaus hier!« Rachel kam herein, sie trug noch ihren Chirurgenkittel. »Benehmt euch gefälligst!«, fügte sie streng hinzu, musste aber grinsen.

»O Ben, das ist wunderbar!« Jacqueline kamen die Tränen. »Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, weißt du das? Wir haben schon das Schlimmste befürchtet.«

»Tut mir leid, ich war nur so … ich weiß auch nicht. Ich war völlig durcheinander. Ich wusste nicht mehr, was ich tat.«

»Na schön, dieses eine Mal verzeihen wir dir.«

Jacqueline wusste, wie sehr sich Vera ein Kind gewünscht hatte, und als Leo auf die Welt gekommen war, hatte sich dieser Wunsch noch verstärkt. Es half nicht, dass sie seine Patentante geworden war. Weil sie monatelang nicht schwanger wurde, hatte sie Angst gehabt, sie sei schon zu alt. Umso glücklicher war sie, als es eines Tages dann doch klappte.

»Wann können wir das Baby sehen?«

»Da ist es schon«, sagte eine Krankenschwester, die in diesem Moment das Zimmer betrat. Sie legte das kleine Bündel in ihren Armen behutsam an Veras Brust.

»Seht nur, wie wunderschön sie ist!«, schwärmte Jacqueline. Tess trat näher, und die beiden Frauen betrachteten das vollkommene kleine Gesichtchen schweigend.

»Ich glaube, sie kommt nach mir«, bemerkte Ben.

»Aber nur wenn sie Pech hat«, zog Nick ihn auf. »Wenn sie Glück hat, kommt sie nach ihrem Onkel.«

Ben warf seinem Bruder einen finsteren Blick zu.

Nick grinste und schlug ihm gutmütig auf die Schulter.

»Du wirst die Nächste sein, Tess«, sagte Jacqueline lächelnd.

Tess legte die Hand auf ihren Bauch und spürte, wie das Baby sie trat. »Ja.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Es war ein weiter Weg, aber er hat sich gelohnt. Wir haben unser Glück gefunden, nicht wahr?« Sie sah Tim an. Vera und Jacqueline wandten sich den Männern zu, die sie liebten.

Nick, der Leo auf dem Arm hielt, zwinkerte Jacqueline zu, und ihr Herz hüpfte vor Freude. Eine Sekunde lang dachte sie an jenen Tag auf dem Schiff zurück, als Henry ihr sagte, er wolle die Scheidung. Sie hatte nicht ahnen können, dass ihr nichts Besseres hätte passieren können. Und doch war es so.

Sie hatte ein erfülltes Leben gefunden, ein Leben voller Freude und Glück in einem weiten Land unter einer leuchtenden Sonne.

ende