8

Jacqueline setzte sich an den Küchentisch und knabberte einen Toast. Mit den Gedanken war sie bei ihrer Unterhaltung mit Nick. Als sie aufgegessen hatte, fiel ihr Blick auf die Lammkeule, die Ben auf die Anrichte gelegt hatte. Sie hatte noch nie etwas Aufwändigeres als Schinken- oder Hühnchensalat zubereitet, aber sie hatte Mrs. Bronte unzählige Male beim Kochen zugeschaut. Rinderbraten war Henrys Lieblingsgericht gewesen, das hatte es jede Woche gegeben. Lammfleisch war sicher auch nicht schwerer zuzubereiten. Trotzdem war sie nervös. Ein Glück, dass Tess und Vera da waren! Sie würden ihr bestimmt helfen, sobald sie aufgestanden wären.

Nach einigem Suchen fand sie in einem Schrank einen Bräter, gab die Lammkeule hinein und bestrich sie mit Bratenfett aus dem Kühlschrank, so wie sie es bei Mrs. Bronte gesehen hatte. Dann stellte sie den Topf in den Ofen. Sie kannte sich zwar mit diesem Gerät nicht aus, aber sie drehte an einem Schalter, der ihr der richtige zu sein schien. Mrs. Bronte hatte das Gemüse immer ungefähr eine Stunde später hinzugefügt und zusammen mit dem Fleisch gegart. Also setzte sie sich hin und fing an, Kartoffeln und Möhren zu schälen und einen Kürbis klein zu schneiden. Es musste für neun Personen reichen, und da ihr das Schälen und Putzen des Gemüses nicht gerade leicht von der Hand ging, brauchte Jacqueline fast eine Stunde. Sie war gerade fertig, als Tess in die Küche kam.

»Guten Morgen, Jacqueline«, nuschelte sie verschlafen.

»Guten Morgen, Tess.« Jacqueline sah sie neugierig an. Täuschte sie sich, oder war Tess ein wenig verkatert? »Tee?«, fragte sie.

»O ja, gern, eine ganze Kanne, wenn’s geht.« Tess hielt sich ihren Kopf. »Es ist so still im Haus, nicht, dass ich mich beklagen möchte, aber wo sind sie denn alle?«

»Draußen, arbeiten.«

»Selbst am Sonntag? Heute ist doch Sonntag, oder?«

»Ja, aber es gibt trotzdem zu tun. Zum Mittagessen sind sie zurück. Hast du gut geschlafen?«

»Nein, eigentlich nicht.« Tess erinnerte sich, dass sie reichlich wirres Zeug geträumt hatte. Sie gähnte. »Das war vielleicht ein Abend, kann ich dir sagen!«

Jacqueline stellte eine Tasse Tee vor sie hin. »Wie ist es denn gelaufen? Hat Tim seine Schüchternheit abgelegt?«

»Ja, zu guter Letzt schon. Nachdem ich mir etwas ausgedacht hatte, um ihn zu überlisten.«

Jacqueline platzte fast vor Neugier. »Was denn? Spann mich nicht so lange auf die Folter!«

»Ich habe so getan, als würde ich mich fürs Lassowerfen interessieren.«

»Was?«

Tess grinste. Sie erzählte in allen Einzelheiten von ihrem raffinierten Plan, der so erfolgreich gewesen war.

»Das war ganz schön schlau von dir«, schmunzelte Jacqueline.

»Ach, weißt du, die meisten Männer können einer hilflosen Frau nicht lange tatenlos zusehen. Ich wusste, dass Tim keine Ausnahme sein würde, zumal er das Lassowerfen meisterhaft beherrscht.«

»Ein Glück, dass dir keiner der anderen Männer zu Hilfe gekommen ist«, meinte Jacqueline. »Sonst hätte dein schöner Plan nicht funktioniert.«

»Stimmt, aber ich glaube, Ben und Mike haben dafür gesorgt, dass das nicht passiert. Wie auch immer, es hat jedenfalls geklappt. Ich habe Tim dazu gekriegt, dass er mir von sich erzählt hat, und das hat ihm geholfen, seine Schüchternheit zu überwinden.« Sie grinste schelmisch. »Ich habe es natürlich ausgenutzt, dass er keinerlei Erfahrung mit Frauen hat, aber es ging nicht anders.«

»Das war ganz schön raffiniert, Tess«, sagte Jacqueline bewundernd.

»Ja, nicht wahr? Ich bin auch ziemlich stolz auf mich. Ich würde zu gern wissen, wie es bei Vera und Mike gelaufen ist. Ich habe die beiden gegen Mitternacht aus den Augen verloren, aber als ich so um eins ins Bett bin, war Vera noch nicht da.«

»Sie ist erst heute Morgen nach Hause gekommen. Ich war zufällig wach«, fügte Jacqueline hinzu und dachte dabei an den großen, dunkelhaarigen und viel zu attraktiven Mann, den sie beim Aufwachen neben sich entdeckt hatte.

»Heute Morgen erst! Hat sie gesagt, wo sie war?«

»Nein, und ich habe auch nicht danach gefragt. Wahrscheinlich ist sie mit Mike spazieren gegangen.«

»Die ganze Nacht?«, entfuhr es Tess ungläubig.

»Sie wollten bestimmt allein sein, um sich ein bisschen näher kennen zu lernen. Das scheint geklappt zu haben, Vera hat nämlich gemeint, sie habe sich in Mike verliebt.«

»Ehrlich? Das ist ja wundervoll!« Tess strahlte. »Dann steht uns also eine Hochzeit ins Haus.«

»Gut möglich.« Jacqueline nickte. »Und du? Hast du dich auch schon in Tim verliebt?«

»Sagen wir mal so: Ich mag ihn wirklich gern. Ich weiß gar nicht, wann ich ihn wiedersehen werde, er hat nichts gesagt. Ich weiß nicht mal, ob er mich auch mag.«

»Ganz bestimmt! Er wird sich bloß nicht getraut haben, es dir zu gestehen.«

»Na, jedenfalls will nicht immer ich diejenige sein, von der die Initiative ausgeht. Ich habe den ersten Schritt gemacht, jetzt ist er dran. Stell dir vor, ich habe ihn sogar geküsst«, fügte Tess verschämt lächelnd hinzu.

Jacqueline dachte daran, wie sie sich Nick an den Hals geworfen hatte, und wurde unwillkürlich rot. Sie wünschte, es wäre bei einem Kuss geblieben. »Und, wie hat er reagiert?«

Tess lächelte verträumt. »Erst war er schon verdutzt, aber dann hat es ihm gefallen, glaube ich.« Ihr Gesicht verfinsterte sich plötzlich. »Deshalb verstehe ich auch nicht, warum er mir zum Abschied keinen Kuss gegeben hat, sondern es auf einmal so eilig hatte.« Da Mike nicht aufzufinden war, hatte einer der anderen Gäste Tim angeboten, ihn mitzunehmen, und Tim hatte sofort zugesagt, was Tess sehr verletzend fand. Als hätte er es nicht erwarten können, von ihr wegzukommen! »Vielleicht war ich zu aufdringlich und habe ihn verscheucht«, fügte sie bedrückt hinzu.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Jacqueline, um sie zu trösten.

Tess zuckte die Achseln. »Wir werden ja sehen. Aber eines steht fest: Ich werde nicht um seine Hand anhalten! In dem Punkt bin ich altmodisch. Falls er mich heiraten will, muss er mir schon einen Antrag machen.«

Jacqueline nickte. »Ja, das kann ich verstehen. Ich könnte auch nie einen Mann bitten, mich zu heiraten.« Aber ich hätte auch nie geglaubt, dass ich einen Mann bitten würde, mit mir zu schlafen, fügte sie im Stillen hinzu. Sie schwor sich, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren.

»Weißt du, Vera und ich machten uns keine Illusionen, als wir hierherkamen, um einen völlig Fremden zu heiraten«, fuhr Tess nachdenklich fort. »Wir haben nicht erwartet, mit Rosen und Geschenken überhäuft zu werden oder die große Liebe zu finden, aber seit gestern Abend weiß ich, dass ich mich im Grunde meines Herzens nach ein klein wenig Romantik sehne. Obwohl ich unzählige Enttäuschungen erlebt habe, glaube ich immer noch an Kavaliere. Vielleicht hältst du mich deswegen für dumm oder wirklichkeitsfremd.«

»Ach was! Ich kann dich ja verstehen, Tess. Es ist völlig in Ordnung, sich eine romantische Beziehung mit einem galanten Mann zu wünschen. Das hast du verdient.«

Tess seufzte. »Ich weiß aber nicht, ob Tim der Richtige dafür ist. Wenn er nur nicht so schüchtern wäre!«

Nachdem die beiden Frauen noch eine Weile über das Grillfest geplaudert hatten, sprang Jacqueline plötzlich auf. »O mein Gott! Das Essen! Das hab ich völlig vergessen! Ich muss das Gemüse in den Ofen geben, sonst ist es nicht fertig, wenn die Männer nach Hause kommen.«

»Was gibt’s denn?«, wollte Tess wissen.

»Lammkeule. Die hab ich schon vor einer ganzen Weile in den Ofen gestellt.«

»Ich rieche gar nichts«, sagte Tess schnuppernd.

»Jetzt wo du es sagst – ich auch nicht. Ich hab den Ofen doch eingeschaltet.«

Tess stand auf und öffnete die Backofentür. »Der Ofen ist kalt!«

»Was? Das kann doch nicht sein!«, rief Jacqueline panisch aus. »Ob er kaputt ist?«

Tess sah sich die Herdschalter genauer an. »Du hast eine Herdplatte eingeschaltet, nicht den Ofen.« Sie drehte erst am einen, dann am anderen Schalter. »So, jetzt ist er an.«

»O nein!«, jammerte Jacqueline. »Das Essen wird niemals rechtzeitig fertig sein! Ich habe Ben gleich gesagt, dass ich nicht kochen kann. Ich habe ihn regelrecht angefleht, mich aus meinem Vertrag zu entlassen. Sogar von Henry habe ich ihm erzählt! Und weißt du, was er darauf geantwortet hat? Ich hätte zwei gesunde Hände und ich solle Gebrauch davon machen. Ich kann nicht einmal einen Backofen einschalten! Ich bin zu nichts zu gebrauchen!« Sie war einem Zusammenbruch nahe.

»Rede keinen Unsinn, Jacqueline, das ist doch kein Weltuntergang.« Sie guckte auf die Uhr an der Wand. Es war kurz vor zehn. »Wann kommen sie denn zurück?«

»Ich weiß nicht genau. Gegen Mittag, denke ich. Bis dahin ist das Fleisch bestimmt nicht gar, oder?« Die Lammkeule war ziemlich groß, und Mrs. Bronte hatte das Fleisch immer stundenlang bei niedriger Temperatur gegart, damit es schön zart wurde.

»Wahrscheinlich nicht, aber ich stelle eine höhere Temperatur ein, dann geht’s schneller. Bis um eins sollte alles fertig sein, und so lange müssen sie eben warten.«

»Und das schadet dem Braten nicht?«, fragte Jacqueline besorgt.

»Du meinst, die höhere Temperatur? Nein, nein. Ich werde ein paar kleine Häppchen machen, damit sie nicht verhungern, bis das Essen auf den Tisch kommt. Mach dir keine Sorgen, das kriegen wir schon hin.«

»Was täte ich nur ohne dich, Tess!«, sagte Jacqueline dankbar.  

»Kochen ist gar nicht so schwer, weißt du, und jeder macht mal einen Fehler. Ich habe auch schon ein paarmal das Essen anbrennen lassen.« Tess warf einen Blick auf das Gemüse in der Spüle. »Schäl noch ein paar Kartoffeln und Möhren«, riet sie. »Jungs in dem Alter können futtern wie Scheunendrescher.« Sie ging zur Tür. »Ich bin gleich wieder da, ich will nur schnell ins Bad.«

Als sie kurz darauf zurückkam, erzählte Jacqueline, dass sie auch noch Brot backen müsse.

»Ich hab nicht die leiseste Ahnung, wie das geht«, gestand sie.

»Das ist ganz leicht. Wir bereiten alles vor, dann können wir das Brot in den Backofen schieben, sobald das Fleisch fertig ist.«

Tess zeigte Jacqueline, wie man einen Brotteig zubereitete. Als sie schließlich einen Laib geformt hatte, deckte sie ihn mit einem Tuch ab, damit der Teig gehen konnte. Dann erklärte sie Jacqueline ein paar einfache Kochrezepte.

»Es wird bestimmt Fleisch übrig bleiben, das kannst du aufschneiden und einen Salat dazu machen. Meine Mutter hat früher immer eine Fleischpastete aus Lammfleischresten gebacken. Das geht ganz leicht.« Sie beschrieb ihr die einzelnen Schritte ausführlich, und Jacqueline hörte aufmerksam zu. So schnell konnte sie ja wohl doch nicht aufgeben.

Es war halb eins, als Ben, Nick und die vier Jungen zurückkamen. Der köstliche Essensduft stieg ihnen schon in die Nase, bevor sie die Tür geöffnet hatten. Er sterbe fast vor Hunger, sagte Ben, und Jacqueline, die es zufällig hörte, wurde noch nervöser, als sie ohnehin schon war.

Tess streckte den Kopf zur Küchentür heraus, als die Männer nacheinander zum Händewaschen ins Bad gingen. »Das Essen ist bald fertig. Auf der Veranda warten ein paar kleine Häppchen auf euch, damit ihr euch schon mal was zwischen die Zähne schieben könnt.«

Die beiden Männer und die Jungen sahen sich achselzuckend an und gingen nach draußen auf die Veranda, wo Tess eine Platte Cracker mit Käse und Tomaten sowie zwei Flaschen Bier und einen Krug Wasser hingestellt hatte. Die Männer und die Jungen griffen gierig zu.

Als Tess und Jacqueline sich Augenblicke später zu ihnen gesellten, sagte Jacqueline: »Das Essen ist gleich fertig.«

Ben nickte. Dann sagte er: »Meine Frau hat diese Cracker immer gern gegessen. Das ist das erste Mal seit ihrem Tod, dass ich wieder welche esse.« Er schob sich noch einen in den Mund.

»Ich habe die Packung im Küchenschrank gefunden«, meinte Tess. »Sie war noch nicht angebrochen, deshalb hab ich mir gedacht, dass sie noch genießbar sein müssten.«

»Hmh«, nuschelte Ben mit vollem Mund. »Sie schmecken gut.« Er schluckte und fügte dann hinzu: »Das Essen duftet köstlich.«

Seine Blicke wanderten von Tess zu Jacqueline. Nach allem, was sie ihm erzählt hatte, nahm er an, dass Tess die meiste Arbeit in der Küche geleistet hatte. Hoffentlich hatte Jacqueline wenigstens aufmerksam zugeschaut, damit sie in Zukunft wusste, wie’s gemacht wurde.

Nick benahm sich, als wäre in der vergangenen Nacht nichts passiert. Jacqueline beobachtete ihn verstohlen. Eigentlich hätte sie ihm dafür dankbar sein sollen, aber stattdessen merkte sie, dass sie gekränkt war. Wie konnte er nach Stunden voller heißer Leidenschaft so tun, als wäre nichts gewesen? Sie hätte nie gedacht, dass seine Haltung sie so verletzen würde.

»Ich seh mal nach dem Essen«, sagte sie und ging ins Haus zurück.

»Wann kommt Tim denn wieder?«, wollte Ben wissen.

»Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung«, erwiderte Tess kopfschüttelnd. »Er ist gestern Abend einfach gegangen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich ihm sympathisch bin.«

»Wenn er’s nicht ist, dann wird es eben ein anderer«, sagte Ben, doch Tess blickte nicht sehr glücklich drein. »Sie mögen ihn, hab ich Recht?«, fragte er.

Tess nickte. »Ich werde abwarten müssen und sehen, was passiert. Vielleicht klappt es, und wir werden ein Paar. Und wenn nicht, wird sich etwas anderes finden.«

»Das ist die richtige Einstellung, Tess.« Ben konnte es ihr nicht verübeln, dass sie nicht über ihre Gefühle sprechen wollte. Seiner Ansicht nach war Tim Edwards ein ausgemachter Narr. Anstatt dafür zu sorgen, dass kein anderer sich Tess schnappte, hatte er die erstbeste Gelegenheit genutzt, um nach Hause zu fahren.

Eine Stunde später saßen alle satt und zufrieden am Tisch. Sogar Bens Söhnen schien das Essen geschmeckt zu haben. Eine gute Mahlzeit war für die Männer offenbar sehr wichtig, aber Jacqueline wusste nicht, ob sie ohne fremde Hilfe so ein leckeres Mahl auf den Tisch bringen konnte. Vor lauter Nervosität hatte sie ihr eigenes Essen kaum angerührt.

»Das Warten hat sich wirklich gelohnt«, meinte Ben und tätschelte sich zufrieden den Bauch. Seit dem Tod seiner Frau hatte er nicht mehr so hervorragend gegessen. »Das war ausgezeichnet, Jackie. Vor allem für jemanden, der behauptet, nicht kochen zu können.«

Sie dachte an den kalten Backofen. »Das ist fast ganz allein Tess’ Verdienst.«

»Nein, das ist nicht wahr«, erwiderte Tess. »Ich hab nur den Ofen eingeschaltet und mit der Soße geholfen. Den Rest hast du gemacht.«

Ben wandte sich Nick zu. »Hast du eigentlich Rachel in Hawker getroffen?«

Jacqueline horchte auf, hielt aber ihren Blick gesenkt.

»Ja, wir haben uns Freitagabend im Hawker Hotel zum Essen getroffen. Es war ein reizender Abend«, antwortete Nick beiläufig.

Jacqueline presste die Lippen aufeinander. Also gab es doch alleinstehende Frauen in der Gegend!

»Und? Hast du das Essen mit ein paar Bierchen heruntergespült, Onkel Nick?«, fragte Geoffrey grinsend.

»Aber sicher. Es waren sogar ein paar Bierchen zu viel. Wir haben im Hotel übernachtet.«

Jacqueline lief rot an, aber Ben und die Jungen lachten schallend.

»Wie geht es Rachel? Kommt sie mal wieder vorbei?«, fragte Ben.

»Es geht ihr prächtig, wie immer.« Nick lächelte. »Sie hat nichts gesagt, aber ich denke, sie wird demnächst vorbeikommen.«

»Sie ist ein lieber Mensch«, sagte Ben. »Und so lustig. Und eine verdammt gute Ärztin obendrein.«

»Ja, das stimmt.« Ein liebevolles Lächeln huschte über Nicks Gesicht.

»Ist Rachel Ihre Freundin?«, fragte Jacqueline schärfer als beabsichtigt und funkelte Nick finster an.

Der Gedanke, dass er mit ihr ins Bett gegangen war, obwohl es bereits eine Frau in seinem Leben gab, war mehr, als sie ertragen konnte.

Nick sah sie erstaunt an.

»Sie wäre zu gern seine Frau«, antwortete Ben grinsend. »Rachel hat seit Jahren ein Auge auf ihn geworfen, aber Nick kriegt man schwerer zu fassen als einen Floh auf einem Hund.«

Nick lachte. »Rachel und ich haben eine Vereinbarung, weißt du.«

»Überleg es dir nicht zu lange mit dem Heiraten, Nick. Nicht, wenn du eine Familie willst. Du bist auch nicht mehr der Jüngste«, fügte Ben hinzu. »Und eine feine Frau wie Rachel hat bestimmt eine Menge Verehrer. Du solltest zugreifen, solange du noch die Gelegenheit dazu hast.«

»He, so alt bin ich nun auch wieder nicht«, erwiderte Nick in gespielter Entrüstung und lachte.

Jacqueline war niedergeschmettert. Es hatte ganz den Anschein, als ob Nick ein Schürzenjäger war, der mit jeder Frau ins Bett stieg, die ihm über den Weg lief. Wie hatte sie nur so dumm sein können! Zumal nach der bitteren Enttäuschung mit Henry. Sie sprang auf und verließ das Zimmer. Die anderen am Tisch sahen sich verdutzt an.

Als Nick kurz darauf ein paar Teller in die Küche brachte, war Jacqueline nicht, wie er erwartet hatte, da. Er trat in den Gang hinaus, um nach ihr zu sehen, und bemerkte, dass die Tür zu ihrem Zimmer einen Spaltbreit offen stand. Beim Näherkommen sah er sie erregt auf und ab gehen.

Er klopfte an und fragte: »Stimmt was nicht, Jackie?«

Sie blieb abrupt stehen und funkelte ihn zornig an. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie mit jemandem zusammen sind?«, zischte sie.

»Sie haben mich nicht gefragt«, antwortete er ganz überrascht. »Und außerdem …«

»Sie haben nichts gesagt, weil ich niemals mit Ihnen ins Bett gegangen wäre, wenn ich es gewusst hätte«, fauchte sie, während sie gegen die Tränen ankämpfte.

»Das ist nicht wahr! Außerdem war es Ihre Idee, dass wir miteinander ins Bett gehen, schon vergessen?«

»Nicht so laut!«, fuhr sie ihn an. »Nein, ich habe es nicht vergessen! Wie könnte ich auch, wenn Sie mich ständig daran erinnern!« Ihre Wangen glühten.

»Warum haben Sie mich nicht gefragt, ob ich eine Frau oder eine Freundin habe, wenn Ihnen das so wichtig ist?«

Sie wusste, er hatte Recht. Aber in der Hitze des Augenblicks hatte ihr Verstand ausgesetzt. »Sie waren es doch, der jede Menge Süßholz geraspelt und mir ins Ohr geflüstert hat, wie schön und begehrenswert ich sei. Ich war empfänglich dafür, weil ich verletzlich war, und das haben Sie schamlos ausgenutzt!«

Nick traute seinen Ohren nicht. »Woher zum Teufel hätte ich wissen sollen, dass Sie verletzlich waren?« Sie hatte sich verzweifelt angehört, nicht verletzlich.

Jacqueline presste ärgerlich die Lippen zusammen. Auch in diesem Punkt musste sie ihm Recht geben.

»Hören Sie, ich habe weder eine Frau noch eine feste Freundin«, fuhr Nick in ruhigerem Ton fort. Er mochte die Frauen gern, aber er war nicht der Typ, der etwas mit mehreren gleichzeitig hatte.

»Ja, nach allem, was Ihr Bruder erzählt hat, gehen Sie jeder festen Bindung wohl strikt aus dem Weg«, knurrte Jacqueline wütend.

Nick breitete hilflos die Arme aus. »Ich verstehe nicht, warum Sie so sauer deswegen sind.«

»Sie hätten es mir sagen müssen, dass Sie eine intime Beziehung mit dieser Rachel haben«, beharrte sie, »und zwar bevor wir … bevor wir …« Sie brach ab, weil sie nicht wusste, wie sie es umschreiben sollte.

»Ich habe nie behauptet, dass ich wie ein Mönch lebe. Ich bin ein ganz normaler Mann.«

Jacqueline schnaubte. »O ja, das kann man wohl sagen!« Sie spürte, dass sie den Tränen nahe war. Aufgebracht stürmte sie an ihm vorbei und ging zurück ins Esszimmer.

Ben und Tess musterten sie prüfend. Man konnte ihr ansehen, wie aufgewühlt sie war. Doch bevor sie ihr Fragen stellen konnten, kam Nick herein und meinte, er werde ein kleines Nickerchen halten.

»Danke für das fantastische Essen, Ladys«, sagte er, wobei er Tess ansah und Jacqueline nur mit einem flüchtigen Blick streifte.

»Eine gute Idee«, stimmte Ben seinem Bruder zu. »Ich werde mich auch ein wenig aufs Ohr legen.«

Tess gähnte. Vera war noch nicht aufgestanden, sie hatten ihr eine Portion vom Mittagessen aufgehoben.

»Ja, ich auch, gleich nach dem Abwasch.«

»Das können doch die Jungs machen«, sagte Ben und stand auf.

Alle vier machten ein langes Gesicht. »Ich mach das schon«, bot Jacqueline sofort an. Bens Söhne konnten sie sowieso nicht leiden, sie wollte die Situation nicht noch verschlimmern.

Die Jungen wiederum dachten, sie wolle das Regiment in der Küche übernehmen.

»Sie können Ihnen ruhig zur Hand gehen«, sagte Ben streng. »Sie sind gestern Abend früher ins Bett gekommen als wir.« Er gähnte ausgiebig. »Sid und Jimmy können den Tisch abräumen, und Geoffrey und Bobby können abtrocknen.«

Die Jungen wagten nicht, ihrem Vater zu widersprechen. Sid und Jimmy stellten das schmutzige Geschirr in die Spüle, Jacqueline wusch ab, und Geoffrey und Bobby trockneten das Geschirr und räumten es wieder ein. Keiner sprach ein Wort, auch die Jungen untereinander nicht. Jacqueline suchte nach einer Bemerkung, um das Eis zu brechen, aber ihr wollte nichts einfallen. Sie waren im Nu fertig. Die Jungen verließen eilig die Küche.

Jacqueline ging in ihr Zimmer, warf sich aufs Bett und schlief fast augenblicklich ein.

Es war dunkel draußen und ganz still im Haus, als Jacqueline aufwachte. Sie guckte verschlafen auf ihre Armbanduhr. Halb acht. Schnell stand sie auf und ging in die Küche. Ben hatte ihr einen Zettel hingelegt: Er habe die Hunde um fünf gefüttert und sich danach wieder hingelegt.

Jacqueline beschloss, einen kleinen Spaziergang zu machen – sie durfte sich nur nicht allzu weit vom Haus entfernen. Bens Worte über die Dingos fielen ihr wieder ein, und sie erschauerte.

Es war ein wunderschöner Abend. Sie ging zuerst zu der Hütte, die dem Haupthaus am nächsten lag. Jacqueline wusste von Ben, dass der strohgedeckte Holzbau mit den zwei winzigen Fenstern im Lauf der Jahre schon als Unterkunft des Zahlmeisters, als Büro, als Quartier für den Postzusteller und für den Buchhalter gedient hatte. Damals war die Farm sehr viel größer gewesen. Heute stellte Ben nur noch Leute bei Bedarf ein, und die Hütte war Nicks Zuhause geworden. Dahinter befand sich die Garage, in der Ben und Nick ihre beiden Autos abstellten. Die Tür war geschlossen, aber Jacqueline öffnete sie und warf neugierig einen Blick hinein.

Dann ging sie weiter. Am Himmel funkelten unzählige Sterne, und eine sanfte Brise wehte einen fremdartigen Duft heran, der, wie sie vermutete, von den Blättern der Eukalyptusbäume stammte. So also riecht es hier, dachte sie staunend. Der Geruch war so neu für sie wie ihr Leben im australischen Busch.

Sie schlenderte weiter und genoss die nächtliche Stille. Plötzlich war ihr, als hörte sie Stimmen. Sie entdeckte ein großes Gebäude mit einer Bruchsteinmauer, blieb stehen und lauschte. Ja, das waren eindeutig Stimmen.

Vorsichtig ging sie an dem zweistöckigen Haus entlang, bis sie zu einer Tür kam. Jacqueline öffnete sie behutsam und spähte hinein. Es war schummrig, aber sie konnte Vorräte erkennen – sie schien sich in einer Lagerhalle zu befinden. Säcke standen dort, große und kleine Packen und Ballen, Fässer und Dosen, und alles war auf Brettern gestapelt, die an Drähten an den Deckenbalken aufgehängt waren. Jacqueline stutzte, begriff dann aber, dass das durchaus Sinn machte, denn so waren die Vorräte vor Nagetieren und Ungeziefer sicher. Es gab keine Fenster in der Halle, sodass es im Sommer angenehm kühl sein musste und so schnell nichts verdarb. Wer auch immer diese Lagerhalle gebaut hatte, hatte sich ganz offensichtlich etwas dabei gedacht.

Jacqueline schloss die Tür wieder und ging weiter. Alte, rostige Wagenräder lehnten an der Backsteinmauer. Jetzt konnte sie in der Ferne den Schein eines Lagerfeuers erkennen. Dunkle Gestalten bewegten sich rings um das Feuer. Von dort kamen auch die Stimmen, die sie vorher gehört hatte. Obwohl sie zu weit entfernt war, um irgendetwas zu verstehen, hatte Jacqueline das Gefühl, dass es sich um eine fremde Sprache handelte.

Ganz geheuer war ihr die Szene, die sie da beobachtete, nicht, aber ihre Neugier überwog. Sie huschte zu einer Baumgruppe, die ihr ausreichend Deckung bot, und spähte vorsichtig hinter einem Baumstamm hervor. Die Menschen am Lagerfeuer waren Ureinwohner, wie sie jetzt erkennen konnte. Ihr Herz pochte heftig, ihre Handflächen wurden feucht, als sie sich voller Entsetzen an die Nacht viele Jahre zuvor erinnerte, in der sie auch schwarze Gestalten im Feuerschein gesehen hatte – eine Nacht, die ihr Leben für immer verändert hatte. Jacqueline war damals erst dreizehn Jahre alt gewesen, die Erinnerung daran, wie sie aus dem Heckfenster des Autos geschaut und die Flammen aus dem Dach ihres Elternhauses hatte züngeln sehen, hatte sich jedoch unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie fröstelte.

Als Jacqueline ihre zitternden Beine wieder unter Kontrolle hatte und zum Haus zurücklaufen wollte, sah sie einige der Männer in ihre Richtung blicken. Sie blieb wie versteinert stehen. Im Schatten der Bäume fühlte sie sich sicherer als auf freiem Feld. Wieder spähte sie hinter dem Stamm hervor. Unter den Aborigines befanden sich auch ein paar Kinder. Ein kleiner Junge weinte. Eine Frau, wahrscheinlich seine Mutter, kniete neben ihm. Jacqueline beobachtete, wie sie mit beiden Händen Asche aus dem Feuer schöpfte und seinen kleinen Körper damit einrieb.

»Was tut sie denn da?«, flüsterte sie erschrocken. Die Asche musste doch heiß sein!

Jetzt fächelte die Frau dem Jungen Rauch ins Gesicht. Der Kleine hustete und schrie und versuchte, sich aus ihrem Griff zu winden, aber die Frau hielt ihn unerbittlich fest. Als sie noch mehr Asche auf seinem Körper verrieb und der Junge noch lauter kreischte, konnte Jacqueline es nicht mehr mit ansehen. Sie trat aus dem Schatten der Bäume und schrie:

»Aufhören! Hören Sie sofort damit auf! Sie tun dem Kind doch weh!«

Die Aborigines fuhren überrascht herum. Einige Männer machten drohend ein paar Schritte auf Jacqueline zu, die Frau richtete sich auf und zog den Jungen an sich.

Jacqueline wurde jetzt erst bewusst, dass sie die Gruppe auf sich aufmerksam gemacht hatte. Als die Männer erregt auf sie zeigten und etwas in ihrer Sprache riefen, erschrak sie. Sie wich zurück, drehte sich dann abrupt um und lief wie von Furien gehetzt zum Haus zurück. Völlig außer Atem kam sie dort an.

Jacqueline riss die Hintertür auf und stürzte in die Küche. Vera, die am Tisch saß und das Lammfleisch aß, das Tess für sie aufgehoben hatte, guckte verdutzt auf.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte sie, als sie Jacquelines panischen Gesichtsausdruck sah.

»Wo … ist … Ben?«, keuchte Jacqueline.

»Keine Ahnung, ich hab ihn nicht gesehen.«

Jacqueline eilte in den Flur. »Ben!«

»Was ist denn passiert?«, fragte Vera.

»Ich habe … gerade … ein paar … Aborigines gesehen«, stieß Jacqueline atemlos hervor. Sie fragte sich, ob sie ihr gefolgt waren. Ob Ben wohl für alle Fälle eine Waffe im Haus hatte?

»Na und?«, meinte Vera achselzuckend und aß in aller Ruhe weiter. »Das ist hier draußen sicher nichts Ungewöhnliches.«

»Sie haben ein Kind misshandelt«, sagte Jacqueline schnaufend.

Vera ließ die Gabel, die sie gerade zum Mund führen wollte, sinken. »Was? Bist du sicher?«

In diesem Moment erschien Ben in der Küchentür. »Mir war, als hätte ich jemanden rufen hören«, sagte er gähnend. Er schlurfte zum Wasserkessel, um sich Tee aufzubrühen.

»Ich habe gerade ein paar Aborigines gesehen«, berichtete Jacqueline aufgeregt.

»So?«

»Ja, sie haben ein Lagerfeuer auf Ihrem Land angezündet. Ungefähr dreißig Meter hinter dem Lagerhaus.«

Ben winkte ab. »Ja, ich weiß. Das ist ein heiliger Ort für das Volk der Adnyamathanha. Sie werden sie öfter dort sehen.« Er setzte sich mit seinem Tee an den Tisch.

Jacqueline konnte es nicht fassen. »Soll das heißen, Sie erlauben den Aborigines, sich auf Ihrem Land zu versammeln?«

Ben sah sie verdutzt an. »Das Land gehörte ihnen, bevor wir hierherkamen. Es steht mir nicht zu, ihnen den Zutritt zu Wilpena zu verwehren.«

Anscheinend hatte Ben keine Ahnung, was auf seinem Land vor sich ging. »Eine der Frauen hat ein Kind misshandelt. Wollen Sie nicht etwas dagegen unternehmen?«, ereiferte sie sich.

»Misshandelt?«, wiederholte er verwirrt.

»Ja, ich habe gesehen, wie sie einen kleinen Jungen mit heißer Asche eingerieben hat. Er hat fürchterlich geweint. Der arme Kerl muss Verbrennungen am ganzen Körper haben.«

Vera schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. »Das ist ja furchtbar!«

»Und dann hat sie dem Kleinen auch noch Rauch ins Gesicht gewedelt«, fuhr Jacqueline fort.

Ben lächelte. »Kein Grund zur Besorgnis, Ladys. Das war eine rituelle Handlung, was Sie da beobachtet haben, Jackie. Die Aborigines wissen schon, was sie tun.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein!« Jacqueline war fassungslos. »Diese Frau hat dem Jungen absichtlich Verbrennungen zugefügt! Man sollte die Polizei verständigen!«

»Sie hat die Asche bestimmt vom Rand des Feuers genommen, wo sie kalt ist«, versicherte Ben. »Glauben Sie mir, ich lebe lange genug hier, ich habe eine Ahnung von den Sitten und Bräuchen der Ureinwohner.«

Jacqueline presste ärgerlich die Lippen aufeinander.

»Die Aborigines glauben an die heilende Kraft der Asche«, fuhr Ben fort. »Sie behandeln sich erfolgreich selbst – seit tausenden von Jahren.«

Jacqueline schnaubte verächtlich. »Also, ich finde diese Bräuche äußerst primitiv.«

In diesem Moment betrat Sid die Küche. Er hatte Jacquelines Bemerkung gehört und konnte sich denken, wovon sie sprach. Der junge Aborigine warf ihr einen grimmigen Blick zu. Wortlos schenkte er sich ein Glas Wasser ein und ging wieder.

Ben sah Jacqueline an. »Diese Salbe für Ihren Sonnenbrand …«

»Was ist damit?«

»… die ist von den Ureinwohnern hergestellt worden, und sie hat geholfen, oder?«

Jetzt erst fiel Jacqueline auf, dass die Rötung zurückgegangen war und ihre Haut sich nicht schälte. »Ja, das stimmt«, gab sie widerwillig zu.

Ben nickte zufrieden. »Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Jackie. Sie werden es hier draußen viel leichter haben, wenn Sie sich allem, was die Aborigines betrifft, aufgeschlossen gegenüber zeigen.«

Da sie nichts darauf zu erwidern wusste, verließ Jacqueline ohne ein weiteres Wort die Küche. Für sie stand fest, dass der kleine Junge misshandelt worden war, und niemand würde sie vom Gegenteil überzeugen können.

Sie war gerade im Begriff, die Tür zu ihrem Zimmer zu schließen, als der Apparat, der auf dem Schreibtisch stand, laut zu knistern anfing. Ben hörte es, eilte durch den Flur und klopfte an. Als Jacqueline ihn hereinließ, eilte er an das Gerät, ergriff das Mikrofon und drehte an einem Schalter.

»Hier Wilpena Station, bitte kommen. Over.« Er drückte mit dem Daumen einen Knopf seitlich am Mikrofon. Wieder ein Knistern, dann war die Stimme eines Mannes zu hören. Ben wandte sich lächelnd zu Jacqueline und Vera um, die ebenfalls herbeigeeilt war. »Das ist Mike von Rawnsley Park Station.« Ein freudiges Lächeln huschte über Veras Gesicht.

Inzwischen hatte sich auch Tess zu ihnen gesellt, die von den lauten Stimmen in der Küche geweckt worden war.

Ben setzte sich vor das Funkgerät. »Hallo, Mike, was gibt’s? Over.«

»Könnte ich mit Vera sprechen, Ben? Over.«

»Ja, sicher. Sie steht zufällig neben mir.« Ben winkte Vera zu sich. »Wann lässt du dich denn wieder bei uns sehen? Over.«

»Im Moment sieht’s schlecht aus, weil wir gerade eine Schafherde für den Verkauf zusammentreiben. Over«, antwortete Mike. Seine Stimme klang seltsam blechern.

Vera blickte enttäuscht drein. Sie setzte sich vor das Funkgerät, und Ben zeigte ihr, wie sie es bedienen musste.

»Dann werde ich Sie jetzt allein lassen, damit Sie ungestört reden können«, sagte er.

»Nein, bleiben Sie ruhig«, erwiderte Vera. Sie war sich nicht sicher, ob sie mit dem Funkgerät umgehen konnte. Sie drückte den Knopf, den Ben ihr gezeigt hatte. »Hallo, Mike«, sagte sie hörbar nervös.

»Sie müssen over sagen, wenn Sie auf Antwort warten«, raunte Ben ihr zu.

»Oh. Over.«

»Guten Abend, Vera«, sagte Mike. »Wie geht’s dir? Over.«

»Gut. Mir geht’s sogar ganz wunderbar«, fügte sie lächelnd nach einem scheuen Seitenblick auf Ben, Jacqueline und Tess hinzu. »Over.«

»Vera«, fuhr Mike fort, »ich bin nie ein Mann vieler Worte gewesen, aber ich muss dir etwas Wichtiges sagen.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Ich finde, wir haben uns gestern Abend wirklich gut verstanden, was meinst du? Over.«

»Ja, das empfinde ich genauso, Mike. Over.« Veras Stimme zitterte.

»Ich habe nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, aber seit ich dich das erste Mal gesehen habe, habe ich Herzklopfen wie ein Schuljunge.« Mike hoffte inständig, dass Ben nicht in der Nähe war und zuhörte.

Er hatte seine Worte ganz offensichtlich einstudiert. Vera wertete das als Beweis dafür, dass er die ganze Zeit an sie gedacht hatte, und war überglücklich.

»Geht es dir vielleicht auch so? Over«, fuhr Mike fort.

»Ja, Mike, mir geht es ganz genauso«, hauchte Vera. »Over.« Sie sah zu Ben hin und errötete.

Er verstand den Wink. Er nickte Tess und Jacqueline zu und bedeutete ihnen, ihm in den Flur hinaus zu folgen. »Lassen wir die beiden allein«, flüsterte er.

Tess freute sich für ihre Freundin. Wenigstens eine, für die sich der Wunsch nach Romantik erfüllte.

»Vera, ich weiß, wir kennen uns erst seit ein paar Stunden, aber … aber ich möchte dich trotzdem fragen, ob du meine Frau werden willst. Over.«

Ben, Jacqueline und Tess hatten durch die angelehnte Tür alles mit angehört und guckten sich sprachlos an. Als Vera nicht antwortete, stieß Tess die Tür auf und spähte ins Zimmer. Vera saß da wie vom Donner gerührt.

»Worauf wartest du?«, zischte Tess.

Vera schaute sie groß an. Insgeheim hatte sie zwar mit einem Heiratsantrag gerechnet, aber jetzt, wo Mike ihr sehr viel früher als erwartet tatsächlich die bewusste Frage gestellt hatte, konnte sie es nicht glauben.

»Du musst ihm antworten«, drängte Tess leise, aber beharrlich.

»Ach so, ja.« Vera löste sich aus ihrer Erstarrung. »Ja! Ja, natürlich will ich deine Frau werden!«

»Over«, flüsterte Tess und rollte mit den Augen.

»Over!«, fügte Vera hastig hinzu und lachte. Sie zitterte vor Aufregung so sehr, dass sie kaum das Mikrofon halten konnte.

Auch Mike lachte vor Erleichterung. Er hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet, als Vera so lange schwieg. »Das ist wunderbar! Vor Dienstag werde ich allerdings keinen Geistlichen bekommen. Ich hoffe, das ist in Ordnung, weil ich sowieso nicht früher hier wegkann. Wir müssen die Schafe, die verkauft werden sollen, verladen. Over.«

»Mach dir keine Gedanken deswegen, das ist in Ordnung.« Auf diese Weise hätte sie noch ein klein wenig Zeit, ihre Gedanken zu ordnen. »Wo hast du die Trauung denn geplant? Over.«

Ben stand im Türrahmen und lauschte freudestrahlend.

»Wie wär’s, wenn wir auf Wilpena heiraten würden? Ich bin kein besonders religiöser Mensch, ich kann auf eine kirchliche Trauung verzichten. Over.«

»Ja, mir geht’s genauso. Mir soll’s recht sein. Over.«

»Frag Ben, ob er damit einverstanden ist. Over.«

Vera sah Ben an, der eifrig nickte. »Ja, er ist einverstanden. Over.«

»Ein Glück, er soll nämlich mein Trauzeuge sein. Ohne ihn hätte ich dich nicht kennen gelernt. Sag ihm, ich bringe das Bier und das Fleisch fürs Grillen mit. Over.«

Wieder nickte Ben zustimmend.

Vera sah Tess an und bemerkte den wehmütigen Ausdruck in ihren Augen. »Sag mal, hast du Tim Edwards seit gestern gesehen? Over.« Sie ließ Tess nicht aus den Augen, während sie auf Mikes Antwort wartete.

»Nein, und ich weiß, dass ihn auch von den anderen niemand gesehen hat. Keine Ahnung, wo er steckt.« Vera sah Tess mitleidig an. »Dann bis Dienstag, Vera. Ich freue mich. Over.«

»Ja, ich mich auch«, antwortete sie lächelnd. »Halt, warte, wann kann ich denn mit dir rechnen? Over.«

»Ich sag dir noch Bescheid. He, was ist das für ein Gefühl, verlobt zu sein? Over.«

»Ein wundervolles! Over.« Vera lachte.

»Gute Nacht, Vera. Schlaf gut«, sagte Mike zärtlich. »Over.«

»Gute Nacht«, wisperte Vera. »Over.«

Ben nahm ihr das Mikrofon aus der Hand. »Meinen Glückwunsch, Mike! Over und Ende.«

Vera sprang auf. Sie kreischte vor Freude, als sie Tess um den Hals fiel und sie fest an sich drückte. »War das nicht romantisch?«, fragte sie verzückt. Dann löste sie sich von Tess und umarmte Jacqueline, die sie beglückwünschte.

»Ja, das war es«, sagte Tess.

Ein trauriges Lächeln spielte um ihre Lippen. Jacqueline wusste, was sie dachte. Sosehr sie sich für Vera freute, sosehr wünschte sie sich auch ein klein wenig Glück für sich selbst. Aber es hatte nicht den Anschein, als ob sie es bei Tim Edwards finden würde.