40

Bürger Commodore Abraham Jürgens blickte wütend auf die beiden Lichtperlen im taktischen Display der Flaggbrücke. Er hatte Marie Stellingetti und John Edwards gut gekannt und gewußt, wie fähig sie waren. Die Achmed hatte die Kerebin mit den Gravitationssensoren erfaßt gehabt, als der Schlachtkreuzer zu existieren aufhörte. Soweit Jürgens es beurteilen konnte, hatte Bürgerin Captain Stellingetti keinen Fehler begangen – trotzdem war ihr Schiff vernichtet worden, und er vermochte sich nicht zu erklären, wie zum Teufel das geschehen sein konnte. Durch die gewaltige Entfernung waren die Sensoren nicht imstande gewesen, schwächere Impellerquellen aufzuspüren als die von Sternenschiffen, und so wußte Jürgens nur, daß die Kerebin urplötzlich Ausweichmanöver eingeleitet hatte und kurz darauf abrupt verschwunden war.

Das hätte einfach nicht geschehen dürfen! dachte er wild. Wie viele andere havenitische Raumoffiziere verabscheute er die Royal Manticoran Navy für das, was sie seiner Volksflotte angetan hatte. Extremisten wie Waters, die es für ihre heilige Pflicht hielten, im Namen der Volksrepublik selbst Handelsraumfahrer abzuschlachten, betrachtete er hingegen als gefährliche Idioten. Doch andererseits vergoß auch Jürgens über gefallene Manticoraner keine Träne; den Nutzen des Handelskrieges hatte er sofort erkannt. Angriffe auf manticoranische Frachter waren ihm bislang verhältnismäßig gefahrlos erschienen, und nun war die Hälfte seiner Schlachtkreuzerdivision hinweggefegt worden, ohne daß er hätte sagen können, wie!

Aber in Wirklichkeit weißt du es ja doch, oder? raunte er sich innerlich zu. Wenigstens ahnst du es. Dieser plötzlich aufgetauchte Frachter muß ein manticoranisches Q-Schiff sein. Gott allein weiß, was es hier zu suchen hat – und Er allein weiß, womit es bewaffnet ist, daß es die Kerebin derart rasch ausschalten konnte –, aber du weißt, daß es ein manticoranisches Q-Schiff ist.

Während Jürgens die Durandel überholte, hatte er von dem Schweren Kreuzer hinreichend Informationen erhalten, um mit Sicherheit sagen zu können, daß Stellingettis »Ziel Eins« nicht für die Vernichtung der Kerebin verantwortlich gewesen war; wenn das Schiff solche Feuerkraft besessen hätte, dann hätte es sie auch eingesetzt, bevor die Kerebin den Geleitzerstörer vernichtete. Nein, es mußte sich um das zweite Schiff gehandelt haben, und dieses Schiff besaß nur einen zivilen Kompensator, oder es wäre erheblich rascher geflohen als es der Fall war. Deshalb mußte es sich um einen der ominösen manticoranischen ›Handelskreuzer‹ handeln, und dieses Schiff mußte wiederum beträchtlich verwundbarer sein als sein Flaggschiff. Offensichtlich besaß das Q-Schiff jedoch eine ganz besondere Armierung. Die Entfernung bei Vernichtung der Kerebin hatte achthunderttausend Kilometer betragen, also weit außerhalb der Reichweite von Energiewaffen.

Wieder diese verdammten Raketenbehälter? fragte er sich. Möglich, aber wie sollte ein Frachter genügend davon in Schlepp nehmen? Selbst die Superdreadnoughts schleppen höchstens zehn davon, und selbst damit hätte sich die Kerebin nicht so rasch auslöschen lassen dürfen. Aber selbst wenn die Manties das doch irgendwie geschafft haben sollten; dieses Schiff hat seitdem nicht mehr abgebremst, um weitere auszusetzen, also kann man mir offenbar nicht das gleiche antun.

Die Lagebeurteilung stammte nicht von Jürgens allein. Sein Operationsoffizier und der Kommandant der Achmed, Bürger Captain Holtz, stimmten mit ihm überein. Trotzdem beabsichtigte Jürgens nicht, sich in irgendwelche unerwartete Situationen zu begeben. Ganz umsichtig würde er sich dem Q-Schiff nähern, und jedes Raketenabwehrsystem wäre dabei eingeschaltet. Er würde dieses Schiff mit solcher Vorsicht angreifen, als handelte es sich um einen anderen Schlachtkreuzer – oder sogar um ein Schlachtschiff –, bis mit Bestimmtheit feststand, daß es ihm nicht das gleiche antun könnte wie der Kerebin. Aber sobald er diese Gewißheit erlangt hätte …

»Ziel Eins hätte nicht abbremsen dürfen«, bemerkte Bürger Kommissar Aston ruhig.

Jürgens wandte sich dem pummeligen Mann zu, der eine Uniform ohne Rangabzeichen trug. Insgesamt betrachtet hatte der Kampfverband mit seinen Volkskommissaren wirklich Glück gehabt. Eloise Pritchart war bei der Auswahl recht freie Hand gelassen worden, und abgesehen von einem oder zwei Narren, die ihr von deren Gönnern aufgedrängt worden waren – wie beispielsweise Frank Reidel, dem einzigen Überlebenden der Kerebin –, waren die meisten von ihnen überraschend fähig und ungewöhnlich menschlich. Kenneth Aston war beides, und Jürgens nickte zustimmend.

»Da haben Sie recht. Das Q-Schiff hat einen zivilen Trägheitskompensator und beschleunigt also fast mit Vollschub. Wahrscheinlich besitzt sie auch nur zivile Partikelabschirmung. Aber Ziel Eins …« Er schüttelte den Kopf. »Das muß ein Liner sein, sonst hätte das Schiff niemals die Beschleunigung erzeugen können, die wir an ihm beobachtet haben. Eigentlich hätte es schon lange die Flucht ergreifen müssen. Ziel Eins könnte uns eventuell sogar entkommen, besonders dann, wenn das Q-Schiff uns aufhält, und wir sind das einzige unserer Schiffe, das beide noch in der Ortung hat. Wenn sie sich trennen, könnten wir den Liner niemals einholen.«

»Es sei denn, die beiden können sich aus einem bestimmten Grund gar nicht trennen«, meinte Aston.

»Allerdings«, stimmte Jürgens zu. »Vielleicht hat die Kerebin dem Liner den Antrieb beschädigt. Aber der Liner war schneller, bevor das Q-Schiff hinzukam. Nein«, und er schüttelte den Kopf, »wer immer das Q-Schiff kommandiert, hat einen Denkfehler begangen. Er behält den Liner nahe bei sich, um ihn zu beschützen.«

»Das meine ich auch.« Aston rieb sich nachdenklich das Doppelkinn. »Gleichzeitig hat das Q-Schiff jedoch Bürger Captain Stellingettis Schlachtkreuzer bemerkenswert schnell vernichtet, und wenn es militärtaugliche Ortungsgeräte hat, weiß sein Kommandant wohl, daß wir die einzigen sind, die ihn noch in der Ortung haben können. Vielleicht rechnet er sich Chancen aus, den gleichen Trick bei uns anzuwenden?«

»Das könnte sein.« Jürgens kniff die Augen zusammen. »Wenn es uns ausschaltet und die beiden sich erst danach trennen, wird inmitten dieses Durcheinanders niemand sie wieder aufspüren.« Mit der Hand wies er auf den flackernden Energiefluß des Hyperraums auf den Sichtschirmen der Flaggbrücke. »Mittlerweile liegt sogar die Durandel außerhalb unserer Erfassung, und die anderen Vorposten, die nahe genug waren, jagen die Frachter. Aber wenn der Kerl da drüben glaubt, er könnte mein Flaggschiff ausschalten, ohne daß ich ihn gleichzeitig fertigmache, dann hat er sich gründlich getäuscht!«

 

»Irgendwoher hat er noch ein paar Ge Beschleunigung genommen, Skipper«, meldete Jennifer Hughes. »Neue Zeit bis Raketenreichweite ist nun eine Stunde und siebzehn Minuten.«

Honor bestätigte die Information mit einem Nicken. Sie hatte getan, was sie konnte. Tschu arbeitete im Frachtraum Eins, so schnell er es vermochte, aber der Schaden war schlimmer, als er ursprünglich angenommen hatte, und er hatte durch die frei schwebenden Raketengondeln bereits sechs seiner Leute verloren: zwei zu Tode gequetscht, vier »nur« verletzt, bevor die Gondeln gesichert waren. Zweimal hatte er seine ursprüngliche Abschätzung des Zeitbedarfs nach oben korrigiert, und so gerne Honor ihn auch über Com angerufen und zur Eile gedrängt hätte, wußte sie doch, daß sie damit nichts erreichen würde, außer ihn abzulenken und ihm die Zeit zu stehlen. Im gleichen Augenblick, in dem Tschu etwas zu sagen hatte, würde er sich bei ihr melden.

Andere Reparaturteams hatten es geschafft, Werfer Sieben wieder an die zentrale Feuerleitung anzuschließen, und im Technischen Leitstand leistete Ginger Lewis außerordentlich gute Arbeit. Der TLS war keine Station für einen Unteroffizier, wie erfahren er oder sie auch sein mochte, aber Tschu benötigte jeden Mann und jede Frau, die er nur bekommen konnte, für andere Aufgaben. Wann immer Lewis an die Brücke meldete, klang sie zuversichtlich und selbstsicher. Harry hatte wohl recht, was ihre Befähigung betrifft, dachte Honor mit mattem Lächeln und blickte erneut ins taktische Wiederholdisplay.

Mittlerweile waren sie bei der zweiten Eloka-Drohne und würden schon bald Nummer drei benötigen. Die Sender benötigten sehr viel Energie, um die Antriebsemissionen eines Passagierliners der Atlas-Klasse nachzuahmen, und das hielt keine Drohne sehr lange durch. Doch nicht nur deswegen mußten die Drohnen so dicht an der Wayfarer bleiben. Honor ließ sie von Carolyn Wolcott in zufälligen Abständen in den Gravitationsschatten der Wayfarer und wieder hinaus manövrieren. Das würde dem havenitischen Schlachtkreuzer wie schlampiges Positionieren erscheinen, doch Honor konnte dadurch mit der Wayfarer die Drohnen beim Auswechseln komplett verdecken. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um übertriebene Vorsicht, denn mittlerweile mußte sich in den Hirnen der Havies eigentlich der Gedanke festgesetzt haben, sie hätten es mit zwei Schiffen zu tun, aber Nachlässigkeit konnte Honor sich nicht leisten.

Besonders jetzt nicht. Die Artemis hatte ihren Antrieb abgeschaltet, aber sie bewegte sich noch immer mit 0,39 c vorwärts, und ihr Seitenvektor betrug über dreißigtausend Kilometer pro Sekunde. Der Schlachtkreuzer hatte das emissionsstille Schiff erst zehn Minuten zuvor passiert, und wenn die Haveniten doch noch begriffen, was ihnen vorgespielt wurde, konnten sie abbremsen und einen Suchkurs einschlagen. Dann bestand die Gefahr, daß sie die Artemis trotz allem doch noch fänden. Die Chancen waren niedrig, aber möglich war es, und Honor wollte nicht gestatten, daß es soweit kam. Nicht, wo sie schon beschlossen hatte, ihr Schiff zu opfern, um das Captain Fuchiens zu retten.

Honor zwang sich dazu, dieser Tatsache ins Auge zu sehen und vor sich selbst zuzugeben, daß sie ihre Crew bewußt dem Tod überantwortete, denn sie wußte, daß sie den feindlichen Schlachtkreuzer nicht besiegen konnte. Der havenitische Kommandant achteraus mußte wissen, daß Honor das Schwesterschiff seines Schlachtkreuzers mit Raketen vernichtet hatte. Vermutlich würde er der Wayfarer deshalb nicht näherkommen als unbedingt erforderlich, ihr auf Maximalentfernung die Breitseite zuwenden und die Beschießung beginnen, während er gleichzeitig ihre Reaktion abwartete. Und wenn die Wayfarer nicht mit gleicher Feuerkraft antwortete, würde der Havenit den Abstand halten und Honors Schiff aus gebührender Entfernung zerstören, ohne sich jemals in Reichweite ihrer Energiewaffen zu begeben.

Ihr eigener Tod stand fest. Aber wenn sie im Sterben den Gegner so schwer beschädigte, daß er die Artemis selbst dann nicht mehr aufbringen konnte, wenn er sie denn entdeckte, dann wäre das Resultat das Opfer wert. Für sich konnte sie dieses Schicksal akzeptieren – aber hinter ihrem unbewegten Gesicht blutete ihr das Herz bei dem Gedanken an all die anderen, die sie mit sich in den Tod nahm. Personen wie Nimitz und Samantha, wie Rafe Cardones, Ginger Lewis und James MacGuiness, der sich rundheraus geweigert hatte, das Schiff zu verlassen. Aubrey Wanderman, Carol Wolcott, Horace Harkness, Lewis Hallowell … so viele, die Honor als Individuen kennen und schätzen gelernt hatte, viele davon als Freunde, und sie alle sollten an ihrer Seite sterben. Sie konnte sie ebensowenig retten wie sich selbst, und das Schuldgefühl drückte sie nieder. Alle würden sie sterben, weil Honor es ihnen befahl – weil Honor die Pflicht hatte, sie mit sich in den Tod zu nehmen, und weil es wiederum ihre Pflicht war, Honors Befehlen Folge zu leisten. Aber im Gegensatz zu ihren Untergebenen würde Honor in dem Bewußtsein sterben, daß ihre Befehle all diesen Menschen den Tod gebracht hatten.

Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Honor hatte achthundert Menschen von Bord der Artemis bringen können, und so würden knapp über tausend Männer und Frauen – plus zwei Baumkatzen – sterben, um viertausend anderen das Leben zu retten. Nach allen Maßstäben ein guter Tausch, aber wie sehr es sie schmerzte!

Honor verbarg ihre Pein hinter Augen, die ihre Regungen nicht preisgeben wollten, und spürte ringsum die Brückencrew, die sich, wie sie wußte, ganz auf sie verlassen würde – auf ihre Führung. Die Leute ließen sich von Honor inspirieren und bezogen Entschlossenheit aus ihrem Beispiel. Tief in Honor rang der Stolz auf die Besatzung mit der Trauer über das Schicksal, das sie den Leuten zuwies.

 

Margaret Fuchien, Harold Sukowski und Stacey Hauptmann standen an Annabelle Wards Plot und blickten beklommen hinein. Vor zwölf Minuten war der Schlachtkreuzer an ihnen vorbeigerast, ohne den Liner und die schützenden LACs zu bemerken. Warum hätte er die Raumfahrzeuge auch orten sollen? Sie waren nur sieben untätige Stücke aus Stahl, strahlten keine Energie ab und verloren sich in der Weite des Hyperraums, während die Wayfarer den Gegner absichtlich hinter sich her lockte.

»Fünfundsiebzig Minuten«, murmelte Ward.

»Werden sie noch in Sensorenreichweite sein, Captain Harry?« fragte Stacey leise.

»Wir dürften ihre Impeller noch auffassen, aber nicht sehr deutlich.« Sukowski schloß kurz die Augen und schüttelte den Kopf. »In gewisser Weise bin ich froh darum. Ich möchte es gar nicht beobachten. Es wird …« Er blickte Stacey direkt in die Augen. »Das wird ein häßliches Gefecht, Stace. Die Wayfarer ist schwer beschädigt, und wenn die Mistkerle Abstand halten und sie im Ferngefecht zermürben …« Er schüttelte wieder den Kopf.

»Wird sie sich ergeben?« brach Fuchien die Stille, worauf Sukowski sie ernst ansah. Sie fragte: »Wenn die Havies das Feuer eröffnen, wird sie den Keil streichen?«

»Nein«, antwortete Sukowski.

»Warum nicht?« wollte Stacey mit plötzlich scharfer Stimme wissen. »Warum denn nicht? Sie hat uns doch schon gerettet! – Warum wird sie sich nicht ergeben und ihre Leute retten?«

»Weil sie uns immer noch beschützt«, erklärte ihr Sukowski so bedächtig er vermochte. »Wenn die Havies sich der Wayfarer auf Raketenreichweite genähert haben, werden sie die Drohne als Drohne erkennen. Dann wird offensichtlich, daß wir verschwunden sind, aber es dauert nur ein, zwo Stunden, dann erfahren die Havies, wann wir unseren Antrieb abgestellt haben. Also werden sie dann recht genau wissen, wo wir sein könnten, und dann werden sie nach uns suchen müssen. Eine allzu große Chance, uns zu finden, haben sie zwar nicht, aber Lady Harrington beabsichtigt sicherzustellen, daß sie uns nicht aufspüren. Die Wayfarer wird den Schlachtkreuzer beschießen, solange auch nur eine Bordwaffe noch feuert, Stace, um dessen Ortungsgeräte lahmzulegen und ihn aufzuhalten.« Er bemerkte die Tränen, die Stacey in den Augen standen, und legte einen Arm um sie wie schon bei Chris Hurlman. »Das ist ihre Aufgabe, Stacey«, sagte er leise. »Dafür ist sie in der Navy. Und diese Frau kennt ihre Pflicht. Das kannst du mir glauben, ich bin lange genug an Bord ihres Schiffes gewesen.«

»Darum beneide ich Sie, Harry«, sagte Margaret Fuchien leise.

 

»Einundzwanzig Minuten bis Raketenreichweite«, meldete Jennifer Hughes. »Bei Beibehalten der Beschleunigung sind wir dreizehn Komma fünf Minuten später auf Energiewaffenreichweite.«

Honor nickte und drückte die Comtaste.

»TLS, Lewis«, sagte die Frau auf dem Bildschirm. Honor lächelte ihr schief zu.

»Ich möchte nicht an Commander Tschus Ellbogen zupfen, aber ich hätte gern eine Bestätigung seiner letzten Schätzung, was die Frachttore angeht.«

»Gegenwärtige Schätzung beträgt …« – Ginger blickte auf das Chronometer und rechnete im Kopf rasch das Ergebnis aus – »neununddreißig Minuten, Ma’am.«

Honor bedankte sich leise und trennte die Verbindung. So also sah es aus. Die Raketengondeln ständen erst zur Verfügung, wenn der Schlachtkreuzer bereits auf Energiewaffenreichweite heran war. Daran ließ sich offenbar nichts ändern. Honor konnte nur hoffen, daß sich die Flucht der Wayfarer möglichst lange hinzog, denn je länger sie den Schlachtkreuzer an sich band, desto mehr Zeit erkaufte sie der Artemis. Und Honor beabsichtigte, das Spiel bis zum letzten, hoffnungslosen Wurf durchzustehen.

»Wir führen Alfa-Eins aus«, sagte sie. »Rafe, geben Sie Signal an alle – Helme schließen in zehn Minuten.«

 

Klaus Hauptmann betrat die Brücke der Artemis, aber er kam nicht hereinstolziert wie üblich, sondern wirkte kleinlaut und gebrochen. Die Gruppe am Plot hob den Blick und sah ihn an, Hauptmanns Miene erstarrte, als er sah, daß Sukowski den Arm um seine Tochter gelegt hatte. Er hätte derjenige sein sollen, der Stacey tröstete. Aber dieses Recht habe ich verwirkt, dachte er niedergeschlagen, weil ich mich vor ihr als viel geringer erwiesen habe als sie mich immer eingeschätzt hat. Und vor mir auch.

Er trat an den Plot und überwand sich, den Leuten in die Augen zu schauen. Fast handelte es sich um ein Bußwerk, eine Tortur, die er sich selbst auferlegte und willkommen hieß. Fuchien und Sukowski nickten ihm mit unverbindlichen Mienen zu, und niemand sprach ein Wort. Seine Tochter blickte ihn nicht einmal an.

»Wie lange noch?« fragte er, und seine normalerweise kräftige, selbstsichere Stimme klang rauh und belegt.

»Sechzehn Minuten bis Raketenreichweite, Sir«, antwortete Annabelle Ward.

 

»Wir werden uns dem Q-Schiff nicht nähern, Steve«, wandte Abraham Jürgens sich an den Kommandanten seines Flaggschiffs, »bevor wir sicher sind, daß ihm die Zähne gezogen sind.«

»Aye, Bürger Commander.« Bürger Captain Stephen Holte blickte auf das W-Display und runzelte die Stirn. Das Q-Schiff warf ausgesprochen wirksame Täuschkörper aus, und seine elektronische Kampfführung begann, mit den Ortungsanlagen der Achmed Spielchen zu treiben. Die üblichen Sensorenstörungen, die der Hyperraum verursachte, machten die Bemühungen der Manticoraner noch effektiver als gewöhnlich, aber die Achmed war nun fünftausend Kilometer innerhalb der Reichweite manövrierfähiger Raketen. Unter normalen Umständen hätte Holtz befohlen, beizudrehen und die Breitseite auf den Gegner zu richten, aber die Bedingungen waren nicht normal. Die Eloka-Systeme der Achmed zogen ebenfalls alle Register, und die gleichen Bedingungen, welche die Feuerleitung des Schlachtkreuzers störten, mußten auch dem Q-Schiff die Zielerfassung erschweren. Unter diesen Umständen ergab es durchaus Sinn, dem Gegner die verletzliche Kehle des Impellerkeils zuzuwenden, denn für den Manticoraner war das ein undeutlicheres, schlechteres Ziel als die Seitenschilde der Achmed und die volle Länge ihres Impellerkeils. Dadurch war Holte zwar auf die drei Raketenwerfer der Jagdbewaffnung beschränkt, aber das reichte ihm, um den Manticoraner anzustacheln. Wenn er das Q-Schiff dazu verleiten konnte, seine Gondeln auf weite Entfernung abzufeuern, dann hätte die Nahbereichsabwehr der Achmed es leichter – und der Manticoraner müßte ein schwieriges Ziel anvisieren.

 

»Raketenstart!« verkündete Jennifer Hughes. »Ich erfasse zwo – nein, drei näherkommende Vögelchen. Flugzeit Eins Sieben Null Sekunden. Bereithalten bei Nahbereichs-Abwehrwaffen.«

»Bereit«, meldete Lieutenant Jansen knapp.

»Bringen Sie Täuschkörper Vier und Fünf auf ein bißchen mehr Abstand, Carol«, befahl Hughes. »Mal sehen, ob wir diese Vögelchen nicht nach oben hin ablenken können.«

»Aye, aye, Ma’am.« Wolcott nahm eine Veränderung der Einstellungen vor, und Honor hob die Hand, um nach Nimitz zu tasten. Wie bei allen Besatzungsmitgliedern war auch der Helm des ‘Katers geschlossen, und er hatte die Haltegurte an ihrem Sitz in die Ringe an seinem Anzug einschnappen lassen. So gut wie ein Prallkäfig war diese Vorrichtung nicht, aber niemand stellte Prallkäfige in Baumkatzengröße her.

»Einschlag in Neun Null Sekunden«, warnte Jansen und löste Antiraketen aus, die den Beschuß abfangen sollten.

 

»Unsere Vögelchen wurden abgeschossen, Skipper«, meldete Holtz’ Taktischer Offizier, als die dritte Rakete in Fetzen gerissen wurde. Keine davon war bis in den Bereich der Laserverteidigung des Q-Schiffs vorgedrungen, stellte der Kommandant verärgert fest. Nun, andererseits war das gar nicht so erstaunlich, und wenigstens hatte der Feind keine der verfluchten Raketenbehälter eingesetzt, um sein Schiff zu vernichten.

»Anzeichen für diese Raketengondeln?«

»Keine, Bürger Captain. Überhaupt keine Feuererwiderung.« Holtz wußte, daß Bürgerin Commander Pacelot ein wenig verärgert über ihn war, weil er nach dem Offensichtlichen fragte, denn sie hatte ihn ›Bürger Captain‹ statt ›Skipper‹ genannt. Er schnitt eine Grimasse, aber er konnte ihr es nicht verdenken. Einen Moment dachte er nach, dann nickte er.

»Also gut. Wir gehen auf Dauerfeuer, Helen.«

»Aye, Skipper«, antwortete sie erheblich fröhlicher und programmierte die neuen Befehle.

 

Honor machte schmale Augen, als sich der Beschuß durch den Schlachtkreuzer änderte. Er benutzte die drei Raketenwerfer im Bug, um das Äquivalent einer Doppelbreitseite abzufeuern. Dadurch wurde der Abstand zwischen den Salven zwar verdoppelt, und die Nahbereichsabwehr erhielt mehr Zeit, die Raketenbahnen zu verfolgen, aber zugleich verdoppelte sich auch die Anzahl der Bedrohungen, und der Schlachtkreuzer konnte Störsender und Durchdringungshilfen in seine Salven mischen. Honor begriff durchaus den Gedanken dahinter; nur verstand sie nicht, weshalb der Feind sich auf die Jagdbewaffnung beschränkte. Ein Schlachtkreuzer der Sultan-Klasse hatte zwanzig Raketenwerfer in jeder Breitseite und verfügte über eine erheblich überlegenere Beschleunigung. Das Schiff hätte die Wayfarer auf Slalomkurs verfolgen können, um nach jeder Wendung eine Breitseite abzufeuern, in jeder Salve mehr als dreimal so viele Raketen.

Sie runzelte die Stirn und ging mit dem Helmcom auf Cardones’ Privatfrequenz.

»Was glauben Sie, weshalb beschränkt er sich auf die Jagdbewaffnung?« fragte sie, und Cardones rieb über die Oberseite seines Helms.

»Er sondiert uns«, antwortete er. »Er bietet uns ein kleines Ziel und versucht herauszubekommen, womit wir uns gegen ihn wehren können.«

»Mit nichts, lautet die Antwort«, stellte Honor leise fest, und Cardones bedachte sie mit einem schiefen Grinsen.

»He, Sie können nicht alles haben, Skipper.«

»Das stimmt«, sagte sie mit liebenswürdigem Lächeln. »Aber ich glaube, dahinter steckt noch mehr.« Cardones hob fragend die Augenbrauen, und sie zuckte mit den Schultern. »Mehr als nur Sondieren. Der Schlachtkreuzer muß uns auf den Gravitationssensoren gehabt haben, als wir sein Schwesterschiff vernichteten, aber er war zu weit entfernt, um zu erkennen, wie. Wahrscheinlich hat der Kommandant darauf geschlossen, daß wir Raketengondeln benutzt haben, und nun könnte es sein, daß er uns dazu bringen will, verbleibende Raketen auf weite Entfernung abzuschießen.«

»Das klingt plausibel«, stimmte Cardones ihr nach einem Moment zu. Im gleichen Augenblick vernichtete Lieutenant Jansens Nahbereichsabwehr die letzte Rakete der aktuellen Salve. »Selbstverständlich wird er schon bald wissen, daß wir keine Gondeln mehr haben können, weil wir sonst nämlich zurückschießen würden

 

In Salven zu sechs Raketen setzte sich der Lenkwaffenbeschuß auf das Heck der fliehenden Wayfarer fort. Carolyn Wolcotts Täuschkörper und Störsender trieben mit den Suchern der Raketen ihr Verwirrspiel, wenn diese ihre letzten Zielansprachen vornahmen, und Jansens Antiraketen und Lasercluster pflückten sie mit methodischer Präzision aus dem Weltraum. Aber die Gesetze der Wahrscheinlichkeit waren unerbittlich: Früher oder später mußte eine dieser Raketen die Täuschkörper ignorieren, die Störsender übertrumpfen und der aktiven Verteidigung ausweichen.

Honors Ohrhörer summte, und sie senkte den Blick auf den kleinen Combildschirm, auf dem Ginger Lewis erschienen war.

»Nachricht von Commander Tschu, Ma’am! Er hat es geschafft! Das Backbordtor hat Strom, und es öffnet sich! Es öffnet sich, Ma’am!«

Honors Herz schlug plötzlich schneller. Selbst wenn das Backbordtor einwandfrei funktionierte, konnten sie nur zwei Gondeln auf einmal aussetzen, aber eventuell reichte das aus. Der Gegner näherte sich von achtern, er lief, weil bisher keine einzige Rakete auf ihn abgefeuert worden war, direkt ins Schußfeld der Gondeln, und deshalb konnte die Wayfarer vielleicht …

In diesem Augenblick schlich sich letztlich doch eine Lenkwaffe an den Antiraketen vorbei und schlüpfte wie ein Dolchstoß durch die verzweifelten letzten Bemühungen der Lasercluster. Diese einzelne Rakete näherte sich auf 24.000 Kilometer, dann detonierte sie direkt achteraus der Wayfarer und schickte fünf Röntgenlaserstrahlen direkt in die klaffende Hecköffnung ihres Impellerkeils.

Ein gewaltiger Ruck durchfuhr die Megatonnen der Wayfarer, als die Energiestrahlen sich mit verächtlicher Leichtigkeit in ungepanzerten Rumpf bohrten und alles, auf was sie trafen, einfach verdampften. Beta-Emitter Acht des Heckimpellerrings erhielt einen Volltreffer, und die Beta-Emitter Fünf, Sechs, Sieben und Neun explodierten mit einem Energiesturm, der auch Alpha Fünf mitnahm. Im Impellerraum Zwo zerbarsten die Generatoren, töteten neunzehn Menschen auf der Stelle und sandten wilde Energieausbrüche wie Blitze kreuz und quer durch die Abteilung. Nahbereichsabwehr Neunzehn, Zwanzig und Zwoundzwanzig verglühten, gleichzeitig Radar Sechs, Werfer Sechzehn und alle Männer und Frauen, die diese Stationen bedient hatten.

Und dennoch richtete diese einzelne Rakete noch etwas erheblich Grausameres an.

Ein Laserstrahl durchbrach das Backbordtor von Laderaum Eins. Er verglühte die Motoren, die gerade zu vibrieren begonnen hatten, verwandelte zwei Raketengondeln komplett in tödliche Splitter und verbrannte die Steuerleitungen, die Honors Ingenieure in den letzten beiden Stunden so unermüdlich repariert hatten. Und nebenbei töteten sie einundsiebzig Menschen, darunter Lieutenant Joseph Silvetti, Lieutenant Adele Klontz und … Lieutenant Commander Harold Tschu.

Honor spürte Tschus Tod – spürte ihn wie ein Blitz in Samantha einschlagen, von ihr auf Nimitz übergreifen und von dem ‘Kater auf sich selbst. Rafael Cardones riß den Kopf zu ihr herum, als Honors tierhafter Schmerzensschrei aus seinem Helmcom drang und selbst das Heulen der Schadensalarme übertönte. Der Erste Offizier wurde kreidebleich, als er in ihren Augen den Verlust und die Qual, die fürchterliche, verzehrende Verlassenheit erblickte. Cardones ahnte nicht, was geschehen war; er wußte nur, daß gerade die Frau, auf die sich jede einzelne Seele an Bord der Wayfarer verließ, soeben einen Schlag erlitten hatte, der für sie so verheerend war wie der Raketentreffer für das Schiff, und er sprang entsetzt auf, um ihr beizustehen.

Doch Honor kämpfte, drängte die Qual mit zusammengebissenen Zähnen zurück. Sie mußte. Sie konnte nicht anders. Jede Faser ihres Seins schrie danach, dem Gefühl nachzugeben, ihre Trauer herauszubrüllen wie Samantha und Nimitz, sich im Augenblick des schrecklichen Verlustes mit den Freunden zu vereinen. Aber sie war eine Sternenschiffkommandantin. Sie war Offizier der Königin, und das Verantwortungsgefühl, das ihr nach zweiunddreißig Jahren in Uniform und zwanzig Jahren Kommando in Fleisch und Blut übergegangen war, packte sie bei der Kehle. Honor Harrington konnte es sich nicht leisten, menschlich zu reagieren, und deshalb ließ sie es. Ihre gelassene Stimme bot einen schrecklichen Kontrast zu dem Todesschmerz, der aus ihren Augen sprach.

»Ziehen Sie den Bug hoch, Senior Chief O’Halley. Ganz hoch – stellen Sie sie auf die Zehenspitzen!«

»Aye, Ma’am!« rief Senior Chief Coxswain O’Halley knapp, und die Wayfarer beschrieb einen Bogen nach »oben«, stellte sich auf wie ein verwundetes Pferd, um ihr Heck vom Gegner abzuwenden.

 

»Wir haben ein Stück von ihr, Skipper!« frohlockte Pacelot. »Die Antriebsstärke ist signifikant gesunken, und schauen Sie nur, wie sie steigt!«

»Ja, ich sehe es, Helen.« Holtz gab eine Anfrage in den Plot und überprüfte die Spektralaufnahmen, wobei er an der Innenseite seiner Unterlippe nagte. Offensichtlich hatten sie einen guten, soliden Treffer am Q-Schiff erzielt, aber der Verlust an Atemluft hielt sich in Grenzen. Holtz konnte nicht wissen, daß Laderaum Eins ohnehin nicht unter Druck gestanden hatte; er wußte nur, daß das manticoranische Schiff für die Mätzchen, die es anstellte, viel zuwenig Atemluft verloren hatte.

Angestrengt versuchte der havenitische Kommandant zu begreifen, wie das sein konnte. Die Kursänderung des Q-Schiffs hatte die Achmed eines günstigen Raketenziels beraubt, kostete den fliehenden Manticoraner jedoch Vorwärtsbeschleunigung. Das Q-Schiff baute Delta Vau rechtwinklig zum Basiskurs der Achmed auf, aber es fing damit bei Null an, so daß der Schlachtkreuzer sich ihm rasch nähern konnte, falls Holtz es darauf anlegte. Aber …

Der Bürger Captain überlegte noch kurz, dann blickte er auf den Combildschirm, der ihn mit Jürgens auf der Flaggbrücke verband.

»Wir sichten nur wenig Atemluftverlust, Bürger Commodore, und sie hat keinen einzigen Schuß auf uns abgefeuert, geschweige denn Gondeln ausgesetzt. Ich glaube …« Er holte tief Luft und tat den Schritt, von dem er nicht wieder zurücktreten konnte. »Ich glaube, sie erwidert das Feuer deswegen nicht, weil sie nicht kann. Ich kann mir keinen Grund vorstellen, weshalb ein Kommandant, der schießen könnte, nicht schießen sollte. Es ist möglich, daß sie deswegen so wenig Luft verliert, weil die Kerebin sie härter getroffen hat als bisher angenommen und weite Teile bereits unter Vakuum standen.«

Jürgens knurrte etwas Unverständliches und kniff die Augen zusammen. Vielleicht hatte Holtz recht. Seine Theorie paßte jedenfalls gut zu den vorliegenden Daten. Und wenn er recht hatte, konnten sie dieses zeitraubende Hinantasten aufgeben und die Sache hinter sich bringen. Aber wenn dieses Q-Schiff so schwer beschädigt war, warum …

»Skipper!« rief in diesem Augenblick Helen Pacelot mit einer Stimme, die von Überraschung und Verdruß grell klang. »Das da vor ihr ist gar nicht Ziel Eins!«

Mit einem »Wie bitte?« fuhr Holtz zu ihr herum und sah, daß sie heftig den Kopf schüttelte.

»Ich habe gerade eine gute Erfassung erhalten. Das ist eine Drohne – eine gottverdammte Drohne

Jürgens hörte Pacelots Meldung, und mit plötzlichem Begreifen traf sich sein Blick mit dem von Volkskommissar Aston. Diese Hundesöhne, dachte der Bürger Commodore. Diese armen, tapferen, verdammten Hundesöhne!

»Wir sind drauf reingefallen«, sagte er leise. »Sie haben uns absichtlich hinter sich her und vom Liner weg gelockt, weil sie wußten, daß sie uns nicht aufhalten können … und weil wir das einzige Schiff sind, das eine Chance hatte, den Liner aufzubringen.«

»Das fürchte ich auch«, gab Aston nüchtern zu. »Was unternehmen wir deswegen?«

Jürgens rieb sich das Kinn, während seine Gedanken sich überschlugen, dann zuckte er die Achseln.

»Offen gesagt, sehe ich nur eine Möglichkeit, Sir. Die Manöver des Q-Schiffs und die Beobachtungen der Taktischen Abteilung legen nahe, daß die Kerebin den Manticoraner viel schwerer beschädigt hat als ursprünglich angenommen. Es paßt sehr gut zusammen: Wenn er im Gefecht gegen uns keine Chance hat, dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als uns von dem Liner fortzulocken. Jede Minute, die wir auf die Verfolgung des Q-Schiffs verschwenden, ist eine Minute, in der wir nicht abbremsen und nach Ziel Eins suchen können.«

Er ließ sein Display den Kurs des Q-Schiffs und den der Achmed projizieren. Dann erschien fast zehn Lichtminuten achtern ein schraffierter Konus auf der Kurslinie der Achmed.

»Irgendwo in dieser Zone muß der Liner sein. Wenn die Manties sich vorsehen, ist unsere Chance, ihn noch aufzuspüren, außerordentlich gering, aber je früher wir zu suchen beginnen, desto größer. Nur müssen wir zuvor das Q-Schiff stoppen: Wenn es fliehen kann, dann ist unsere Operation genauso aufgeflogen wie in dem Fall, daß der Liner entkommt.«

»Das sehe ich genauso«, sagte Aston.

»Wir können wohl davon ausgehen, daß das Q-Schiff schwerer beschädigt ist als wir ursprünglich glaubten. Wir müssen näher ran und es rasch erledigen, dann können wir nach dem Liner suchen.«

Aston musterte für vielleicht zehn Sekunden den Plot, dann nickte er.

»Tun Sie, was Sie können, Bürger Commodore.«

 

Ginger Lewis kauerte sich innerlich zusammen, als die Flutwelle von Schadensmeldungen über die Displays des Technischen Leitstands hereinbrach. Halb hysterische Schreie von den Resten der Arbeitstrupps in Laderaum Eins hatten ihr bereits verraten, was mit den Ingenieursoffizieren der Wayfarer geschehen war. Nun waren nur noch Lieutenant Hansen in Fusionsraum Eins und zwei Ensigns am Leben. Damit lastete die Verantwortung für den TLS ganz auf Gingers Schultern, und sie mußte heftig schlucken.

»Also gut«, wandte sie sich an ihre Untergebenen, die vom Schock wie gelähmt waren. »Wilson, rufen Sie Impeller Zwo. Ich brauche Verlustzahlen und Schadensmeldungen. Tun Sie alles, was Sie können, um ihnen per Telemetrie beizustehen.« Wilson nickte knapp, und Ginger wandte sich einem anderen Petty Officer zu. »Durkey, Sie übernehmen die Notrettung. Rufen Sie das Lazarett. Steuern Sie die SAR-Teams um die schlimmsten Stellen. Hammond, Sie kümmern sich um Radar Sechs. Es sieht zwar aus, als wäre die Antenne hin, aber vielleicht ist es nur die Leitung. Finden Sie so schnell wie möglich heraus, woran es liegt. Wenn die Antenne hinüber ist, versuchen Sie Radar Vier umzuprogrammieren, daß er wenigstens einen Teil der Lücke abdeckt. Eisley, Sie überprüfen Magazin Vier. Ich sehe Druckverlust in der Abteilung – der Einschlag in Werfer Eins-Sechs könnte die Versorgung von Werfer Eins-Vier ebenfalls beeinträchtigen. Wenn ja, umleiten über …«

Und sie fuhr fort, abgehackt Befehle zu geben. Sie reagierte mit der Mischung aus Instinkt und erlernten Fertigkeiten, wegen der Harold Tschu sie für ihren Posten ausgesucht hatte. Ihre Befehle erteilte sie mit einer untrüglichen Präzision, die den toten Leitenden Ingenieur mit Stolz erfüllt hätte.

 

»Jetzt schließt er auf, Skipper!« rief Jennifer Hughes erstaunt. »Er ist wieder auf Maximalbeschleunigung gegangen und prescht vor!«

Honor mußte sich zusammenreißen, denn noch immer zitterte sie unter dem Nachhall von Tschus Tod, und blickte ins Display. Jennifer hatte recht: Der Schlachtkreuzerkommandant konnte nicht wissen, daß er soeben das wichtigste Waffensystem der Wayfarer zerstört hatte, aber offenbar war er zu dem Schluß gekommen, sie sei schwer beschädigt, und wollte sie nun erledigen. Doch seinem Kurs zufolge schloß er auf, um sie mit Energiewaffen zu vernichten.

Nur ergab das keinen Sinn. Mehr als vierzig Minuten lang hatte er die Wayfarer mit Raketen beschossen, ohne daß sie das Feuer erwidert hätte. Er mußte wissen, daß er sich an ihr Heck hängen und sie beschießen konnte, ohne sein Schiff in Gefahr zu bringen, warum so …

Die Drohne! Er mußte die Drohne identifiziert haben und wollte nun die Wayfarer so schnell wie möglich beseitigen, bevor die Artemis seinem Zugriff endgültig entkam. Nur diese Möglichkeit ergab irgendwelchen Sinn; Honor hätte an seiner Stelle genauso gehandelt und den gleichen Fehler begangen, den nun dieser Kommandant begehen würde: Er wähnte sich in Sicherheit.

»Also schön«, sagte sie mit kalter, rauher Stimme, die sämtliche Schwelbrände der Panik löschte, welche durch den einzelnen, vernichtenden Treffer entzündet worden waren. »Er kommt näher, und wir werden sicher schwer beschädigt – aber die Havies ahnen nicht im entferntesten, welche Energiearmierung wir besitzen. Jenny, es sieht ganz danach aus, als könnten wir Beschießungsplan Hawkwing am Ende doch noch in die Tat umsetzen.«

»Aye, Skipper«, antwortete der Taktische Offizier. Ihre Furcht war von grimmiger, eifriger Vorfreude verdrängt worden. Sie wußte, daß die Wayfarer mehr als ›schwer beschädigt‹ werden würde; das Q-Schiff hatte keine Chance, ein Nahgefecht mit Energiewaffen gegen einen havenitischen Schlachtkreuzer der Sultan-Klasse durchzustehen. In jeder Breitseite hatte der Schlachtkreuzer sechzehn Energielafetten – sogar achtzehn, wenn man die äußersten Jagdgeschütze mitzählte – und zwanzig Raketenwerfer, während in der stärkeren Breitseite der Wayfarer nur acht Graser und neun Raketenwerfer übrig waren. Daß der umgebaute Frachter die Geschütze eines Superdreadnoughts besaß, konnte der havenitische Kommandant allerdings nicht ahnen.

»Wenn wir den Kurs beibehalten, dann wird er unser Heck kreuzen«, sagte Honor nun ebenso zu Cardones und Senior Chief O’Halley wie zu Hughes. »Rafe, legen Sie das Ruder auf ihre Station – halten Sie sich zum Ersatz bereit, falls wir die primäre Steuerung verlieren. Wir werden den gegenwärtigen Kurs beibehalten, bis der Havie nicht mehr zurück kann, und dann rollen wir und wenden hart Steuerbord – so hart Sie nur können, Chief. Unsere Steuerbordbreitseite muß auf ihn zeigen, wenn er unter uns vorbeizieht, und dann überqueren wir sein Heck und schießen ihm den Kilt rauf. Verstanden?«

Cardones und O’Halley nickten.

Honor sah Hughes direkt an. »Geben Sie es ein, Jenny«, sagte sie leise, »und denken Sie dran: Wir haben nur einen Versuch.«

 

»Sie behält Kurs und Beschleunigung bei«, meldete Pacelot. Holtz antwortete mit einem Nicken. Noch ein Zeichen für die Schwierigkeiten, die das Q-Schiff hatte: Wäre noch eine der beiden Breitseiten gefechtsklar gewesen, so hätte es gerollt und diese Breitseite auf die Bugöffnung im Impellerkeil der Achmed gerichtet. Offenbar hoffte der Kommandant, mit seiner Schleife das Dach seines Keils auf die Achmed zeigen zu lassen, während der Schlachtkreuzer das Q-Schiff unterhalb passierte. Vielleicht gelang es ihm sogar. Das war durch den Massenunterschied zwar unwahrscheinlich, aber selbst wenn es gelang, erhöhte der zweifellos folgende Kurvenkampf voller Ausweichmanöver nur die Vorteile des wendigeren Schlachtkreuzers. Früher oder später – eher früher – würde die Achmed die Blöße schon finden, die sie brauchte, um den Frachterrumpf zu Schrott zu schießen. »Wir machen weiter wie geplant, Helen«, sagte er. In seinen Augen brannte das Verlangen nach Rache für die Kerebin.

 

»Da kommen sie«, sagte Honor mit leiser, fast begütigend klingender Stimme. Der Abstand verringerte sich in rasendem Tempo, und der Schlachtkreuzer begann zu rollen, um seine Steuerbordbreitseite ins Spiel zu bringen. Honor blickte SCPO O’Halley und Rafe Cardones an. Das letzte Manöver in Honors Laufbahn sollte perfekt sein – selbst wenn niemand überlebte und sich daran erinnerte.

Auf beiden Seiten nicht.

»Gut«, sagte sie betont, »ruhig … ruuuhig - jetzt

 

Als die Achmed heranbrauste, zog Kendrick O’Halley seinen Joystick zurück und legte ihn mit aller Gewalt nach rechts. Die Wayfarer bockte wie ein wildgewordenes Tier, als kämpfte sie selbst darum, ihrer Vernichtung zu entrinnen. Aber sie gehorchte dem Ruderausschlag, sie krängte und rollte und kehrte dem Feind die Steuerbordseite im gleichen Augenblick zu, als sich die Waffen des Schlachtkreuzers auf sie richteten.

Für einen winzigen Zeitraum hatten beide Schiffe freies Schußfeld, und in diesem Augenblick aktivierten sich die Beschießungspläne in den beiden Computern.

Kein menschlicher Sinn hätte erfassen können, was als nächstes geschah; kein menschliches Gehirn hätte Ursache und Wirkung klar zuordnen können. Der Abstand zwischen beiden Schiffen betrug gerade zwanzigtausend Kilometer, und wie erzürnte Dämonen schleuderten Laser, Graser und Raketen Vernichtung über diesen winzigen Abgrund aus Vakuum.

Die Achmed machte einen Satz, als der erste schwere Graser mühelos ihren Seitenschild durchbohrte. Ein Panzer von einem Meter Dicke schützte die Flanken des Schlachtkreuzers, die zäheste Legierung aus Keramik und Verbundstahl, die der Mensch schmieden konnte, aber der Graserstrahl durchschnitt sie mit lässiger Überheblichkeit. Gewaltige Splitter lösten sich aus der scheußlichen Wunde, und die Relativbewegung verwandelte den sauberen Stich in einen riesigen, klaffenden Spalt. Der Strahl weidete das Sternenschiff förmlich aus. Atemluft, Wrackteile und Menschen wirbelten in einem heulenden Zyklon davon.

Und das war nur einer von acht Grasern. Jeder einzelne erzielte einen Volltreffer. Niemand an Bord des Schlachtkreuzers hätte geahnt, daß ein umgebauter Frachter solche Waffen tragen könnte. Die Intercomkanäle wurden mit Schreien überflutet – Schmerzensschreie, Angstschreie, Entsetzensschreie –, während die Wut der Wayfarer das Großkampfschiff wie ein Spielzeug zerfetzte. Dann waren die Raketen des Q-Schiffs heran und durchbohrten den Schlachtkreuzer immer wieder mit bombengepumpten Röntgenlasern, um das Vernichtungswerk der Graserstrahlen zu vollenden. Waffenschächte explodierten, Energieüberschläge durchfuhren das ganze Schiff, Kabelbäume schmolzen und zerplatzten und verglühten. Der vordere Impellerraum detonierte, als ein Graser die Generatoren durchschnitt, und die Druckwelle verwandelte den Rumpf im Umkreis von einhundert Metern in zerfetzte Trümmer. Alle drei Fusionskraftwerke nahmen Notabschaltungen vor, und im ganzen Schiff schlossen sich mit lautem Knall die Notschotte. Aber im Grunde war nicht mehr viel übrig, worin diese Schotte noch Luft einschließen konnten, denn die Graser der Wayfarer hatten den Rumpf auf gesamter Breite durchbohrt und waren auf der anderen Seite wieder ausgetreten. Die Achmed taumelte davon, ein antriebsloses, dem Untergang geweihtes Wrack.

Doch starb der Schlachtkreuzer nicht allein.

Die Wayfarer hatte einen Sekundenbruchteil vor der Achmed das Feuer eröffnet – aber nur einen Sekundenbruchteil, und im Gegensatz zu dem Großkampfschiff besaß sie keinen Panzer und keine enge Unterteilung in druckfeste Segmente. Die Wayfarer war ein ehemaliger Frachter, eine dünne Haut um einen großen Hohlraum, in dem Fracht untergebracht werden sollte. Daran vermochte auch der weitgehendste Umbau nichts zu ändern. Die Waffen der Achmed, die noch lange genug existierten, um auf das Q-Schiff zu feuern, waren viel leichter als die, die den Schlachtkreuzer ausgeweidet hatten, aber gegen ein so verwundbares Ziel wie die Wayfarer entfalteten sie eine fürchterliche Wirkung.

Zwischen Spant Einunddreißig und Sechsundfünfzig wurde ihr die Steuerbordseite komplett in Trümmer gelegt. Die leeren LAC-Hangars wurden zerschmettert wie Eierschalen unter einem Hammerschlag. Die Magazine Zwo und Vier verschwanden einschließlich aller Raketenwerfer außer der Nummer Zwo. Sechs der acht Graserlafetten explodierten und töteten die Geschützbedienungen ohne Ausnahme. Ein Laser traf den Rumpf mittschiffs, zerstörte Fusionsraum Eins und durchschlug die Arrestzellen; Randy Steilman und seine Komplizen sollen nie vor ein Kriegsgericht treten müssen. Ein weiterer Volltreffer verheerte das Kommandodeck. Stöße und Druckwellen durchfuhren die Brücke; Schotte und Rumpfträger rissen wie Papier. Ein Wirbelsturm entweichender Atemluft packte Jennifer Hughes, riß sie trotz ihres Prallkäfigs vom Sessel und schleuderte sie in den Weltraum. Niemand sollte je ihre Leiche finden, aber das spielte keine Rolle, denn sie schlug mit dem Helm gegen die Kante des Lochs im Rumpf, und der Helm zersplitterte sofort. John Kanehama kreischte auf, als ein umherwirbelnder Speer aus Stahl ihn aufspießte; Senior Chief O’Halley wurde von einem Splitter in zwei Hälften gehackt, der genauso groß war wie er selbst; Aubrey Wanderman erbrach sich in den Helm, als der gleiche Splitter ihn knapp verfehlte und Carolyn Wolcott und Lieutenant Jansen zerfetzte.

In dieser Weise wiederholte sich die höllische Szene überall im gewaltigen Rumpf der Wayfarer. Trümmer töteten Crewmitglieder, die von den Geschützen der Achmed verschont geblieben waren, als wollte das sterbende Schiff sich an den Menschen rächen, denen es die Schuld an seinem Tod gab. Mit funktionsuntüchtigem Antrieb und zerstörtem Hypergenerator torkelte HMS Wayfarer durch den Hyperraum, und in ihren zerschmetterten Abteilungen befanden sich achthundert Tote und Sterbende.

 

Honor Harrington 6. Ehre unter Feinden
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