17
MacGuiness stapelte die Dessertteller auf sein Tablett und goß Honors Gästen frischen Kaffee ein, dann schenkte er ihr Kakao nach.
»Haben Sie sonst noch einen Wunsch, Mylady?« fragte er, und sie schüttelte den Kopf.
»Wir kommen zurecht, Mac. Lassen Sie die Kaffeekanne hier, dann können die Barbaren sich selbst bedienen.«
»Jawohl, Mylady.« Die Stimme des Stewards klang wie immer respektvoll, dennoch schoß er einen leicht mißbilligenden Blick auf seine Kommandantin ab, bevor er in die Pantry verschwand.
»›Barbaren‹ geht vielleicht ein wenig zu weit, Ma’am«, beschwerte sich Rafael Cardones mit verschmitztem Grinsen.
»Unsinn«, widersprach Honor munter. »Jeder wahrhaft kultivierte Gaumen begreift, wie überlegen der Kakao dem Kaffee als Lieblingsgetränk ist. Jeder außer den Barbaren weiß das.«
»Ich verstehe.« Cardones ließ den Blick über die anderen Dinergäste schweifen und strahlte Honor an. »Ach, Ma’am, haben Sie auch diesen Artikel in der ›Landing Times‹ gelesen – den, der sich mit Ihrer Majestät Lieblingskaffeesorte beschäftigt?«
Honor prustete in ihren Kakao, und rings um die Tafel erhob sich leises Gelächter. Honor stellte die Tasse ab und tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab, dann blickte sie ihren I.O. gespielt finster an.
»Offizieren, die Punkte gegen ihre Kommandantinnen machen, stehen grauenhafte und sehr kurze Karrieren bevor, Mr. Cardones«, erinnerte sie ihn.
»Das ist schon in Ordnung, Ma’am. Wenigstens ist Kakaotrinken nicht halb so widerlich wie Gummikauen.«
»Sie geben sich heute richtig Mühe, Ihr Unglück herauszufordern, was?« stellte Susan Hibson fest. Der I.O. grinste; Hibson griff in ihre Jackentasche und zog ein Päckchen Kaugummi hervor. Sorgfältig packte sie einen Streifen aus, rollte ihn zusammen, steckte ihn sich in den Mund und kaute ihn langsam, während ihre meergrünen Augen herausfordernd blitzten. Cardones erschauerte, wich dem Blickgefecht jedoch aus, und erneut erhob sich ringsum Gelächter.
Honor lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Das Diner an diesem Abend war in gewisser Weise eine Feier des ersten gemeinsamen Sieges, und sie war froh über die entspannte Atmosphäre. Mit Ausnahme von Harold Tschu und John Kanehama waren alle Ressortoffiziere in den behaglichen Salon gekommen, den die zivilen Planer der Wayfarer für den Kapitän vorgesehen hatten. Kanehama hatte Wache auf der Brücke, aber Tschu wäre eigentlich erschienen, wenn ein Problem in Fusion Eins ihn nicht in letzter Minute daran gehindert hätte. Das Problem klang zwar nicht ernst, aber wie Honor nahm Tschu Probleme bereits dann in Angriff, wenn sie noch unbedeutend waren.
»Wie war es an der Oberfläche, Ma’am?« fragte Jennifer Hughes, und Honors Miene verfinsterte sich.
»Ging ganz glatt – wenigstens an der Oberfläche.«
»›An der Oberfläche‹, Ma’am?« wiederholte Hughes, und Honor zuckte mit den Schultern.
»Gouverneur Hagen hat den Haufen mit Dank in Gewahrsam genommen, aber er schien es sehr eilig zu haben, uns wieder zu verabschieden.« Honor spielte mit ihrer Kaffeetasse und blickte Major Hibson an. Sie und die Marineinfanteristin hatten dem Systemgouverneur die Gefangenen in Handschellen übergeben, und sie wußte, daß Hibson ihre Befürchtungen teilte. Allerdings stand Hibson auch nicht mit einer Baumkatze in Verbindung; deshalb konnte sie die enorme Erleichterung des Piratenkapitäns beim Anblick des Gouverneurs nicht gespürt haben – nicht ganz das, was man von einem Mann erwartete, der mit einer schweren Bestrafung zu rechnen hatte …
»So war es, Ma’am«, stimmte Hibson zu. Sie verzog das Gesicht. »Ihre Entscheidung, das Schiff zu sprengen, schien ihm nicht besonders gefallen zu haben. Haben Sie das bemerkt?«
»Ja, das habe ich«, antwortete Honor. Gouverneur Hagen hatte gemurmelt, man könne das Piratenschiff ja noch als Zollpatrouillenschiff einsetzen, und »nicht besonders gefallen« untertrieb sicherlich seine Reaktion auf ihre Weigerung, das Schiff an ihn zu überstellen. Sie blickte noch einen Moment in ihre Tasse, dann zuckte sie mit den Schultern. »Na, das wäre keine Premiere. Ich fürchte, ich kann mit dem Unmut des Herrn Gouverneurs ganz gut leben. Und auf jeden Fall können wir sicher sein, wenigstens das Schiff nie wiederzusehen.«
»Darf ich sie wirklich erschießen, wenn wir sie noch einmal erwischen, Ma’am?« Honor nickte mit vorübergehend leerer Miene. »Gut«, sagte der Major leise.
Mit ihrer Körpergröße von weniger als einhundertundsechzig Zentimetern wirkte Susan Hibson zierlich, aber an ihren Augen und ihrem feingeschnittenen Gesicht war nichts Weiches. Sie war vom Scheitel bis zur Sohle Marineinfanteristin, und Marineinfanteristen mochten keine Piraten. Honors Theorie zufolge hing dieser Umstand damit zusammen, daß die Marines der Enterkommandos normalerweise diejenigen waren, die das menschliche Leid, welches die Piraten stets hinterließen, als erste zu Gesicht bekamen.
»Ich persönlich«, sagte sie dann, »würde am liebsten niemanden erschießen, Susan. Aber wenn das die einzige Möglichkeit ist sicherzustellen, daß sie aus dem Verkehr gezogen werden, dann sehe ich keine andere Wahl. Wir lassen ihnen wenigstens ein ordentliches Verfahren zukommen, bevor wir sie töten. Und aus pragmatischer Sicht könnte solch ein Exempel den nächsten Haufen davon überzeugen, daß wir es ernst meinen.«
»Wie eine Impfung, Mylady«, warf Surgeon Lieutenant Commander Angela Ryder von ihrem Platz am Ende des Tisches ein. Ryder war so dunkelhaarig wie Hibson und hatte ein schmales, gelehrtes Gesicht. Sie wirkte oft ein wenig geistesabwesend und bevorzugte gegenüber der Uniform einen weißen Kittel, aber sie war eine erstklassige Ärztin. »Mir gefällt es auch nicht, Menschen zu töten«, sagte sie, »aber wenn die anderen Piraten die Lektion kapieren, müssen im Endeffekt weniger von ihnen sterben.«
»Das ist der Gedanke dahinter, Angie«, antwortete Honor, »aber nach meinen Erfahrungen fürchte ich, daß der Menschentyp, der zum Piraten wird, niemals glaubt, es könnte auch ihn treffen. Diese Leute sind davon überzeugt, daß sie zu schlau sind – oder zuviel Glück haben –, um getötet zu werden. Und was das Glück anbetrifft, so haben viele von ihnen wohl recht. Die Konföderation durchmißt etwa einhundertundfünf Lichtjahre, das bedeutet ein Volumen von knapp sechshunderttausend Kubiklichtjahren. Ohne eine effektive – und ehrliche – Regierung, die ihnen entschlossen nachstellt, finden Raider immer irgendwo ein Plätzchen, wo sie sich einnisten können, und die meisten von ihnen sind ohnehin nur angeheuert.«
»Das habe ich nie richtig verstanden, Ma’am«, sagte Ryder.
»Von alters her sind Piraten immer von ›ehrlichen Händlern‹ finanziell unterstützt worden«, erklärte Honor. »Selbst vor der Raumfahrt auf Alterde haben vorgeblich ›respektable‹ Geschäftsleute Piraten gedeckt, und auch Sklavenhändler Rauschgiftschmuggler, alles, was Sie wollen. Mit solchen Unternehmungen läßt sich eine Menge Geld machen, und die Hintermänner waren schon immer schwieriger zu erwischen als das Fußvolk. Die Hintermänner geben sich größte Mühe, zu Stützen der Gesellschaft zu werden – etliche davon sind bekannte Philanthropen gewesen –, um durch ihre Stellung über jeden Verdacht erhaben zu sein, und wenn die illegalen Geschäfte doch enthüllt werden, können sie behaupten, sie hätten nichts gewußt und wären getäuscht worden. Davon abgesehen machen sie sich nie selbst die Hände schmutzig, und die Gerichte neigen zu großer Nachsicht, wenn man sie doch einmal erwischt.« Sie zuckte mit den Achseln. »Abscheulich, aber leider Tatsache. Und wenn die Lage so ungeordnet und verworren ist wie in Silesia, dann ist die Gelegenheit oft einfach zu verlockend. Hier draußen haftet der Piraterie zudem ein wenig Gesetzlosenromantik an, also warum sollte Gouverneur Hagen auf das Geld verzichten, wenn jemand anders für ihn das Töten übernimmt?«
»Sie haben ganz recht, Ma’am; das ist abscheulich«, sagte die Ärztin nach kurzem Nachdenken.
»Abscheu entwertet die Analyse jedoch nicht, Doktor«, warf Hughes ein. »Hier ändert sich nichts, bis jemand eine Änderung erzwingt. Manchmal wünschte ich mir wirklich, wir könnten grünes Licht geben und ihnen die Andies auf den Hals hetzen.«
»Auf kurze Sicht schon.« Honor schlürfte Kakao und senkte mit einem bitteren Lächeln die Tasse. »Auf lange Sicht ist ein Kaiserreich, das die gesamte Konföderation kontrolliert, wahrscheinlich ein noch schlimmerer Nachbar als Piraten. Jedenfalls glaube ich, daß der Herzog von Cromarty es so sehen würde.«
»Kann man ihm auch nicht verdenken«, stellte Fred Cousins fest. »Mit den Havies haben wir schon genug am Hals.«
Honor nickte und wollte antworten, aber sie verstummte, als Nimitz sich auf seinem Hochstuhl erhob und sich ausgiebig reckte. Ein träges Gähnen entblößte seine nadelspitzen Zähne, dann schaute er Honor tief in die Augen. Sie begegnete seinem Blick; zwar vermochten sie nach wie vor keine konkreten Gedanken auszutauschen, aber sie verstanden sich immer besser darauf, dem anderen Bilder zu senden. Nun lächelte Honor, als Nimitz ihr ein Bild der Hydroponikabteilung sandte, gefolgt von einem Bild Samanthas: Die Baumkatze saß unter einem Tomatenspalier, wie man sie benutzte, um die Crew mit frischem Obst und Gemüse zu versorgen, aber Honor lächelte über die Einladung, die sie Samanthas hellen Augen entnehmen konnte.
»Also gut, Stinker«, sagte sie und hob ermahnend einen Finger. »Komm nur niemandem in die Quere – und verlauf dich nicht!«
Nimitz bliekte fröhlich und hopste aufs Deck. Obwohl er normalerweise dicht bei Honor blieb, hatte er die Bedienung von automatischen Türen bereits gelernt, als Honor noch ein Kind war; den Umgang mit Liften schließlich auf der Akademie. Er konnte zwar nicht das Liftcom benutzen, um die Steuerzentrale nach Richtungsangaben zu fragen, aber er vermochte durchaus auswendig gelernte Bestimmungscodes einzugeben. Nun sah er Honor noch einmal mit lachenden Augen an, winkte ihr mit dem Schwanz zu und verschwand aus der Kabine. Als Honor aufblickte, bemerkte sie, daß Cardones sie neugierig betrachtete.
»Er will sich nur ein wenig die Beine vertreten.«
»Aha.« Cardones’ Gesicht blieb bewundernswert ernst, aber Honor benötigte nicht Nimitz’ Hilfe, um zu wissen, wie amüsiert er war.
»Nachdem wir nun einen Piratenskalp am Gürtel tragen«, sagte sie lebhafter, »möchte ich besprechen, was Susan und Jenny aus den Computern des Raiders geholt haben. Wir konnten leider nicht viel darüber erfahren, ob sie ihre Operationen mit anderen koordiniert haben oder wo sie ihre Basis hatten, aber wir wissen, wo sie gewesen sind – und wohin sie als nächstes wollten. Zufällig ist das unser nächster Halt. Die Frage ist nun, ob wir noch ein paar Tage hierbleiben oder gleich nach Schiller weiterreisen wollen. Vorschläge?«
Aubrey Wanderman trat aus dem Lift und warf einen Blick auf den Wegweiser am Schott gegenüber.
Die zivilen Konstrukteure der Wayfarer hatten viel zu wenig Quartiervolumen vorgesehen, um die gegenwärtige Militärbesatzung darin unterzubringen. In der Werft war ein großer Teil des Laderaums Zwo in ein Labyrinth aus Schlafdecks verwandelt worden, das Aubrey noch immer verwirrte. Daß auch noch die Lebenserhaltungssysteme für dreitausend Menschen dort Platz finden mußten, trug nicht gerade zur Übersichtlichkeit bei. Gänge, die ganz so aussahen, als würden sie an eine bestimmte Stelle führen, endeten unvermittelt ganz woanders. Die meisten Besatzungsmitglieder der Wayfarer fühlten sich dadurch gestört, aber Aubrey fand Freude daran, das Labyrinth zu erkunden – und die alten Kämpen zogen ihn gern damit auf. Ungeachtet ihrer Spötteleien bekam Aubrey allmählich das Gefühl, sich im Schiff auszukennen. Das war zu einem nicht geringen Teil den Decksplänen zu verdanken, die er sich in sein Memopad geladen hatte. Aber immer wenn er glaubte, eine neue Route durch die verschlungenen Pfade der Wayfarer gefunden zu haben, mußte er die Strecke dennoch ausprobieren, um sich zu versichern – und das war auch an diesem Abend der Sinn der Übung.
Er gab den Markercode ins Memopad und musterte einen Augenblick lang das Display. So weit, so gut. Wenn er diesem Gang bis zur nächsten Kreuzung folgte, konnte er den Weg zwischen dem Technischen Leitstand und LAC-Hangar Zwo abkürzen und dort den Kreuzlift zur Turnhalle nehmen – immer unter der Voraussetzung, daß er seinen Kurs korrekt geplant hatte.
Der Gedanke ließ ihn lächeln, und er machte sich pfeifend auf den Weg durch den menschenleeren Gang. Seinen Rang als diensttuender RO. hätte er nicht um alles auf der Welt gegen Gingers weitaus erlauchtere neue Position getauscht, denn mit Aubreys zeitweiliger Beförderung war auch der Dienst auf der Gefechtsstation der Brücke verbunden, und er war dabei gewesen, wie die Kommandantin den ersten Piraten aufgebracht hatte. Nie zuvor in seinem Leben war er so aufgeregt gewesen. Vermutlich war er nervöser gewesen als der Anlaß erforderte, wenn man bedachte, daß der Raider weniger als ein Prozent von den über sieben Millionen Tonnen der Wayfarer masste, aber für Aubrey spielte das nur eine untergeordnete Rolle. Sie waren hier draußen, um Raider zu fangen, und Lady Harrington hatte die erste Begegnung mit einem Piraten perfekt gemeistert. Und was noch viel wichtiger war, er, Aubrey Wanderman, hatte sein Teil dazu beitragen können. Er mochte nur ein winziges Rädchen in der gewaltigen Maschine sein, aber er war an dem Erfolg beteiligt und genoß das Gefühl, seine Pflicht erfüllt zu haben. Die Wayfarer war keine Bellerophon, aber trotzdem brauchte er sich seiner Verwendung nicht zu schämen und …
Das Deck kam hoch und schmetterte ihm mit betäubender Gewalt ins Gesicht. Der völlig unerwartete Aufprall trieb ihm mit einem schmerzerfüllten Keuchen die Luft aus den Lungen, und dann schlug ihm etwas brutal in die Rippen.
Der Stoß schleuderte ihn gegen das Schott, und instinktiv versuchte er, sich zu einem Ball zusammenzukrümmen, aber er erhielt keine Gelegenheit dazu. Ein Knie traf ihn ins Kreuz, eine kräftige Hand packte ihn beim Haar, und er schrie auf, als er mit dem Gesicht auf die Deckplatten geschlagen wurde. Er griff blind nach oben und bemühte sich, das Handgelenk zu packen, da drang ein kaltes, hämisches Lachen in sein benebeltes Bewußtsein vor.
»Na, Rotznase!« rief eine tiefe Stimme prahlerisch.
»Sieht ganz so aus, als hättest du doch noch einen Unfall gehabt.«
Steilman! Aubrey gelang es, das Handgelenk des Energietechnikers zu packen, aber Steilman wischte seine Rechte mit der freien Hand beiseite und knallte Aubreys Gesicht auf die Deckplatten.
»Mußt schon aufpassen, wenn du in den Gängen rumrennst, Rotznase. Man kann nie wissen, wann einer über beide Füße stolpert und sich weh tut.«
Aubrey schlug schwächlich nach ihm, und der Energietechniker knallte ihn wieder mit dem Gesicht aufs Deck. Aubrey schmeckte Blut, und es kam ihm vor, als wäre sein linker Wangenknochen gebrochen. Trotzdem steckte er alle Stärke verzweifelt in einen einzigen Sprung nach vorn, und es gelang ihm, sich aus Steilmans Griff zu befreien. Er wich gegen das Schott zurück und schützte sein Gesicht mit überkreuzten Armen. Steilman holte mit dem Fuß aus und rammte ihm den Stiefel brutal gegen die Schulter. Aubrey brach wieder auf dem Deck zusammen, aber er trat panikerfüllt um sich und hörte Steilman schmerzerfüllt fluchen, als er ihn am Schienbein traf.
»Du Drecksau!« fauchte der Energietechniker. »Dir werde ich …«
»He, beruhig’ dich bloß!« rief eine neue Stimme eindringlich, und Aubrey gelang es, sich schwankend auf die Knie zu erheben. Blinzelnd bemühte er sich, etwas scharf zu sehen, dann erkannte er den nervösen, stämmigen Sanitäter, den er im Schlafsaal an Bord von Vulcan zum erstenmal zu Gesicht bekommen hatte. Tatsumi hieß er. Yoshiro Tatsumi.
»Kümmer’ dich um deinen eigenen Scheiß, Pulverkopf!« fuhr Steilman ihn verächtlich an.
»Na, na! Beruhige dich!« wiederholte Tatsumi leise und unbeirrt. »Was du machst, geht nur dich was an, aber der Commander ist auf diesem Gang, Mensch, er kommt von Fusion Eins.«
»Scheiße!« Steilman drehte sich rasch in die Richtung, aus der Tatsumi gekommen war, wischte sich den Mund mit der Faust ab und blickte wütend auf Aubrey hinunter. »Wir sind noch nicht fertig miteinander, Rotznase!« versprach er. »Mit deinem ›Unfall‹ machen wir später weiter.« Aubrey starrte entsetzt zu ihm hoch. Das Blut tropfte ihm vom Mundwinkel. Der Energietechniker bedachte ihn mit einem letzten gehässigen Grinsen, dann richtete er den Blick auf Tatsumi. »Und was dich angeht, Pulverkopf, ich habe drei Mann, die Stein und Bein schwören, daß ich jetzt in diesem Augenblick in meiner Bank liege, und du hast nichts gesehen und nichts gehört. Diese beschissene Rotznase ist einfach über seine eigenen ungeschickten Füße gestolpert, ist das klar?«
»Was immer du sagst«, versicherte ihm Tatsumi und hob beschwichtigend die Hände.
»Vergiß das bloß nicht«, knurrte Steilman, dann schritt er zügig den Gang hinab. Sekunden später knallte er ein Wartungsluk hinter sich zu und verschwand in dem Labyrinth aus Kriechgängen, die der Instandhaltung der Schiffssysteme dienten. Tatsumi beugte sich besorgt über Aubrey.
»Na, du siehst ja ziemlich übel aus«, brummte der Sanitäter und kniete sich neben ihn. Aubrey zuckte vor Schmerz zusammen, als Tatsumi mit sanften Fingern die blutende Nase berührte. »Mist. Der Hundesohn hat sie dir gebrochen«, zischte er, blickte sich rasch im Gang um und schob ihm einen Arm unter die Schultern. »Komm schon, mein Junge. Wir müssen dich ins Lazarett schaffen.«
»W-was ist denn mit … Commander Tschu?« brachte Aubrey hervor. Er mußte durch den Mund atmen, der sich klebrig anfühlte, und er sprach mit belegter Zunge. Irgendwie gelang es ihm, sich mit Tatsumis Hilfe taumelnd zu erheben.
»Was soll mit ihm sein? Er steckt bis zu den Ellbogen in Fusion Eins!«
»Du meinst …« stieß Aubrey hervor, und Tatsumi zuckte die Achseln.
»Irgendwas mußte ich ihm doch sagen, Wanderman. Der Kerl wollte dich abmurksen.«
»Ja.« Aubrey wischte sich das Blut vom Kinn, aber der klebrige Film entstand sofort wieder von Neuem. »Ja, ich schätze, das wollte er. Danke.«
»Sag nicht danke zu mir«, meinte Tatsumi. »Ich seh’s nicht gern, wenn einer verletzt wird, aber gegen Steilman stehst du alleine. Das ist ein ganz fieser Hurensohn, und ich will nichts mit ihm zu tun haben.«
Aubrey blickte den Sanitäter an, der ihm zum Lift half, und bemerkte die Furcht in dessen Gesicht und Stimme. Er konnte es ihm nicht verübeln. »Du meinst, du hast nichts gesehen«, sagte er schließlich.
»Ganz genau. Ich bin vorbeigekommen und hab’ dich da liegen sehen. Was anderes gesehen oder gehört hab’ ich nicht.« Tatsumi wandte den Blick ab und schüttelte entschuldigend den Kopf. »He, es tut mir leid, ja? Ich hab’ genug eigene Sorgen, und wenn Steilman mich auf seine schwarze Liste setzt, dann …« Er zuckte mit den Schultern, und Aubrey nickte.
»Ich versteh’ schon«, murmelte Aubrey. Tatsumi verfrachtete ihn in den Lift und gab den Bestimmungscode für das Lazarett ein. Aubrey tätschelte ihm schwach den Arm. »Mach’ dir ja keine Vorwürfe«, sagte er undeutlich. »Möchte nur wissen, warum er mich so haßt.«
»Du hast ihn blamiert«, erklärte Tatsumi. »Steilman ist nicht ganz dicht, aber er sieht es so, daß du ihn damals im Schlafsaal provoziert hast, und dann hat die Bosun ihn gezwungen, klein beizugeben. Das ist nicht deine Schuld, aber er glaubt, er hätte deswegen ein Hühnchen mit dir zu rupfen. Ich schätze, deine Versetzung auf die Brücke, die du dem Ersten zu verdanken hast, ist der einzige Grund, warum er dich nicht schon längst fertiggemacht hat. Wenn ich du wäre, würde ich mich vom Maschinenraum fernhalten, Wanderman. Ganz fern.«
»Kann mich nicht für immer vor ihm verstecken.« Aubreys Knie gaben nach, und Tatsumi mußte ihn stärker stützen, damit er nicht stürzte. »Dafür ist das Schiff nicht groß genug. Wenn er will, dann findet er mich auch.« Er schüttelte den Kopf und fuhr zusammen, als die Bewegung den Schmerz in seinem Schädel neu aufflammen ließ. »Ich muß mit jemandem darüber sprechen. Muß sehen, was ich tun kann.«
»Ich würde dir gern helfen, aber auf mich kannst du nicht zählen«, sagte der Sanitäter leise. »Hast du gehört, was er zu mir gesagt hat?«
»Pulverkopf?«
»Ja. Verstehst du, ich bin vor ein paar Jahren auf Sphinxgrün gewesen. Ich war ganz unten. Absolut beschissen. Jetzt bin ich wieder sauber, aber ich hab’ genug schwarze Flecken in meiner Akte, daß ich für die nächsten fünfzig Jahre nicht mehr werde als Zwoter Klasse. Du hast ja gehört, was die Bosun zu mir gesagt hat, und bei den Offizieren habe ich schon gar keine Freunde. Außerdem hab’ ich Steilman und seinen Haufen am Hals, und wahrscheinlich verschwinde ich eines Tages durch eine Abfallschleuse.«
»Warum hat man dich nicht entlassen?« fragte Aubrey nach kurzem Zögern.
»Weil ich trotz allem meine Sache gut mache, schätze ich«, antwortete Tatsumi schulterzuckend. »Der Doktor hat sich für mich stark gemacht, nachdem sie mich beim Schnüffeln erwischt hatten. Das hat mich zwar nicht vor sechs Monaten Bunker bewahrt und auch nicht vor der vorgeschriebenen Therapie, aber wenigstens mußte ich die Uniform nicht ausziehen.«
Aubrey nickte verstehend. Er begriff, wovon Tatsumi sprach, und konnte es dem Sanitäter nicht verdenken, daß er sich aus seinen Problemen heraushalten wollte. Tatsumi hatte ihm gerade das Leben gerettet, mehr konnte er wohl kaum verlangen. Aber wenn Tatsumi bei seiner Version blieb, dann stand Aussage gegen Aussage, Aubreys Wort gegen Steilmans. In Anbetracht der kleinen Unterschiede ihrer Dienstakten konnte das ausreichen – mußte es aber nicht. Und wenn Tatsumi recht hatte und ein »Haufen« Steilman den Rücken deckte, dann reichte es vielleicht nicht, den Energietechniker in Arrest zu bringen. Steilman hatte genau gewußt, wo er Aubrey auflauern mußte, und das wies darauf hin, daß er in der Tat Helfer besaß … Jeder in Aubreys Wache wußte von seinen Erkundungszügen, und er hatte nicht gerade versucht, seine Pläne für diesen Abend geheimzuhalten. Steilman gehörte aber nicht zu seiner Wache. Deshalb konnte er nur von Aubreys Vorhaben erfahren haben, weil jemand ihm Bericht erstattete. Aubrey konnte sich nicht vorstellen, warum sich jemand freiwillig mit einem Unmenschen wie Steilman einlassen sollte, aber das war unerheblich. Wichtig war allein der Umstand, daß es so sein mußte – und daß Aubrey nicht die leiseste Idee hatte, um wen es sich dabei handeln konnte.
Er legte sich beide Hände vors Gesicht, um die Blutung zu stillen. In ihm flackerte die Panik auf. Er mußte eine Antwort finden, aber wie? Natürlich konnte er unter vier Augen mit der Bosun sprechen, aber Sally MacBride machte keine halben Sachen. Wenn sie ihm glaubte, dann würde sie handeln, aber ohne Beweis konnte sie momentan lediglich eins tun, nämlich Steilman zu verwarnen. Aber verwarnt hatte sie ihn bereits. Ganz offensichtlich glaubte der Energietechniker trotz dieser Warnung, mit seiner »Rache« an Aubrey durchzukommen, und für Aubrey bestand wenig Grund zu der Hoffnung, daß Steilman es sich nun anders überlegen könnte. Vermutlich irrte sich Steilman mit seiner Einschätzung, womit er durchkommen könnte, aber was auch immer die Bosun später mit ihm anstellte, wäre Aubrey nur ein geringer Trost, wenn er sich dazu erst von Steilman lazarettreif schlagen – oder etwas Schlimmeres antun lassen mußte.
»Da wären wir«, seufzte Tatsumi erleichtert, als der Lift anhielt und die Türen zischend beiseite fuhren. Auf dem kurzen Gangstück führte und stützte er Aubrey, der die Augen geschlossen hatte. Er brauchte Hilfe. Er mußte mit jemandem sprechen, der genug Erfahrung besaß und ihm sagen konnte, was er tun sollte. Aber er kannte niemand mit solcher Erfahrung!
»Mein Gott!« rief jemand. »Was ist denn mit dem passiert?«
»Weiß ich nicht genau«, antwortete Tatsumi. »Ich fand ihn auf dem Gang, Sir.«
»Wie heißt er?«
»Wanderman, Sir«, sagte Tatsumi. »Jedenfalls glaube ich, daß es sein Gesicht sein könnte.«
»Lassen Sie mich mal sehen.« Fremde Hände stützten sanft Aubreys Kopf, und er blinzelte, als ein Surgeon Lieutenant ihm in die Augen blickte. »Was ist passiert, Wanderman?« fragte der Arzt.
Sag’s ihm! rief eine innere Stimme. Sag’s ihm sofort! Aber wenn Aubrey dem Sanitätsoffizier die Wahrheit sagte …
»Ich bin gestürzt«, behauptete er undeutlich.