27
Honor stand in der Hangargalerie und beobachtete mit gemischten Gefühlen das Andocken der Pinasse. Zwei Stunden hatte sie darauf verwendet, die Raider hinter der Wayfarer herzulocken, und die Frage, ob sie alle drei besiegen könnte, hatte ihr starke Kopfzerbrechen bereitet. Die Kampfkraft des Q-Schiffs war dazu mehr als ausreichend, aber wenn die Piraten nicht in enger Formation massiert angriffen, konnte eines der Feindschiffe die Wayfarer aus der Distanz mit schwerem Feuer belegen, bevor sie oder die LACs ihn ausschalteten. Und dann war aus dem Nichts ein Leichter Kreuzer gekommen, um die Wayfarer zu retten – und zu allem Überfluß auch noch ein havenitischer. In keinem der zahlreichen Szenarien, die Honor mit der taktischen Abteilung aufgestellt hatte, war ein solcher Fall vorgesehen gewesen. Honor empfand ein tiefes Schuldgefühl wegen der Hinterhältigkeit, mit der sie den Havie direkt in die Falle gelockt hatte, der zudem auch noch Treffer von den Piraten hatte einstecken müssen. Wenn Hibsons und Tremaines vorläufige Berichte zutrafen, hatte der havenitische Kommandant bei dem Versuch, einen feindlichen Frachter vor Piraten zu schützen, mehr als fünfzig Leute verloren, und ihm seinen Mut dadurch zu lohnen, daß sie ihm das Schiff nahm, erschien ihr als grausame Undankbarkeit.
Doch Honor blieb keine Wahl: Schon die Gegenwart eines havenitischen Leichten Kreuzers in Silesia erforderte eine Überprüfung, und außerdem handelte es sich noch immer um ein Schiff des Feindes. Honor wollte jedoch alles in ihrer Macht stehende tun, um die Verwundeten zu versorgen, die ihre Helfer aus dem ungleichen Gefecht davongetragen hatten. Gleich mit der ersten Pinasse waren Angela Ryder, beide Assistenzärzte und ein Dutzend Sanitäter an Bord des Leichten Kreuzers gegangen.
Nun brachten die Sanitäter mit grimmigen Gesichtern die ersten Schwerverwundeten in die Wayfarer, und Honor trat zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Die auf der Galerie allgegenwärtigen Marines bahnten einen direkten Pfad zu den Lifts, und mit Lieutenant Holmes an der Spitze eilten die Sanitäter darauf zu.
Für eine schrecklich lange Zeit hielt der Zug aus zerschmetterten Leibern an, und Honor atmete tief durch, als die nächste Gruppe durch die Zugangsröhre kam. Der Mann an der Spitze trug einen havenitischen Raumanzug mit den Rangabzeichen eines Commanders, und Honor stellte sich vor ihn, als er sich ins interne Schwerefeld der Wayfarer schwang.
»Captain«, sagte sie sehr ruhig. Der drahtige, dunkelhaarige Mann blickte ihr kurz ins Gesicht. Sein Antlitz war kreidebleich, und in seinen Augen stand noch der Schock. Schließlich salutierte er mit äußerster Präzision.
»Warner Caslet, Bürger Commander, VFS Vaubon«, stellte er sich mit monotoner Stimme vor, als durchlitte er einen Alptraum, räusperte sich und wies auf den Mann und die beiden Frauen, die hinter ihm standen. »Volkskommissar Jourdain; Bürgerin Lieutenant Commander MacMurtree, mein Erster Offizier; und Bürgerin Lieutenant Commander Foraker, mein Taktischer Offizier«, sagte er rauh. Honor nickte ihnen nacheinander zu, dann reichte sie Caslet die Hand. Der Havenit blickte mehrere Sekunden lang auf Honors Hand, dann straffte er die Schultern und ergriff sie.
»Commander«, sprach Honor ihn mit gleichbleibend ruhiger Stimme an, während Nimitz reglos auf ihrer Schulter saß, »es tut mir sehr leid. Indem Sie einem Schiff zu Hilfe eilten, obwohl es unter feindlicher Flagge fuhr, haben Sie sowohl Mut als auch Mitgefühl unter Beweis gestellt. Daß Sie von unserer Armierung nicht wissen konnten, macht Ihre Tat angesichts der Chancen gegen Sie nur um so bemerkenswerter. Persönlich bin ich aufrichtig davon überzeugt, daß Sie es mit allen drei Feindschiffen hätten aufnehmen können. Sie dadurch ›belohnen‹ zu müssen, daß ich Ihnen Ihr Schiff nehme, bedaure ich außerordentlich. Sie hätten etwas Besseres verdient, und mir wäre es nur recht, wenn ich es Ihnen geben könnte. So aber kann ich Ihnen nur den Dank meiner Königin und meinen eigenen aussprechen – was auch immer das wert ist.«
Caslet verzog den Mund und nickte steif. Was sollte er auch sagen; über Nimitz empfand Honor sein bitteres Verlustgefühl. In seiner Verlorenheit lag tiefe, bohrende Wut, die sich weniger gegen Honor als vielmehr gegen diesen bitteren Streich des Schicksals richtete, und außerdem empfand er Furcht. Diese Furcht erstaunte sie einen Moment lang, dann hätte sie sich am liebsten selbst getreten. Natürlich: Caslet fürchtete sich nicht etwas, das sie ihm oder seinen Leuten antun könnte; er fürchtete sich vor der Strafe, die seine eigene Regierung ihnen – oder ihren Familien – auferlegen würde. Nun empfand Honor selbst jäh aufflackernde Wut. Dieser Kommandant war ein gewaltiges Risiko eingegangen, um zu tun, was er für seine Pflicht hielt, und dafür sollte er nun einen schrecklichen Preis bezahlen.
Eine Weile schwieg Caslet, dann holte er Luft. »Vielen Dank für Ihren schnellen medizinischen Beistand, Captain Harrington«, sagte er. »Meine Leute …« Ihm versagte die Stimme, und Honor nickte mitfühlend.
»Wir kümmern uns um alle, Commander«, versprach sie ihm. »Mein Wort darauf.«
»Vielen Dank«, sagte er wieder und räusperte sich noch einmal. »Ich weiß nicht, ob Sie schon informiert worden sind, daß wir zwo Manticoraner an Bord haben, Captain. Wir fanden sie in einem anderen Piratenschiff; sie hatten einiges durchgemacht.«
»Manticoraner?« Honor zog die Augenbrauen hoch und wollte weitere Fragen stellen, da fiel ihr auf, wie erschöpft Caslet und seine Begleiter waren. Also zügelte sie sich; sie wollte ihren Gefangenen wenigstens Zeit geben, sich zu sammeln. Zweifellos hätte ein hartgesottener Mitarbeiter des ONI angeführt, es sei besser, sie zu verhören, solange sie noch unter Schock ständen, weil sie dann eher etwas ausplaudern würden, das sie andernfalls verschwiegen hätten. Zu schade, beschied Honor; der Krieg zwischen dem Sternenkönigreich und der Volksrepublik war gräßlich, aber dennoch wollte Honor Harrington diese Menschen mit dem schuldigen Respekt behandeln.
»Commander Cardones, mein Erster Offizier«, sagte sie und winkte Rafe nach vorn. »Er wird Sie zu Ihren Quartieren führen. Ihre persönlichen Habe lasse ich Ihnen so schnell wie möglich bringen, damit Sie aus den Raumanzügen herauskommen. Später, beim Abendessen, werden wir weiterreden.«
»Meine Leute …« begann Caslet und brach ab. Das waren nicht mehr »seine« Leute, sondern Kriegsgefangene, und für sie war nicht mehr er, sondern nun Captain Harrington verantwortlich. Immerhin hatte er den Eindruck, daß die Manticoraner sie anständig behandeln würden, und so nickte Caslet. Dann verließen er und seine Begleiter hinter Cardones die Galerie. Zwei Marines folgten der Gruppe, und Honor sah ihnen bedauernd hinterher.
»Was wollen wir mit der Vaubon anfangen?« erkundigte sich Cardones. Er stand mit Honor auf der Brücke der Wayfarer, blickte in den Plot und fragte sich, was die Behörden des Schiller-Systems wohl dachten. Selbst silesianische Überwachungssensoren mußten die Emissionen des kurzen, heftigen Gefechts aufgefaßt haben, doch kein einziges Schiff näherte sich, um Fragen zu stellen. Möglicherweise bedeutete diese Zurückhaltung, daß der Systemgouverneuer von Schiller ähnlich wie Hagen eine »Vereinbarung« mit den Piraten hatte, vielleicht handelte es sich aber auch schlicht um Besonnenheit. Nach Erkenntnissen des manticoranischen Nachrichtendienstes war das größte Schiff der Systemverteidigung von Schiller eine Korvette, und ein derart leichtes Schiff sollte niemanden reizen, der die Graser eines Großkampfschiffes an Bord hatte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. Nimitz, der auf der Lehne des Kommandosessels lag, keckerte, und so griff sie nach oben, um ihn zu streicheln, ohne die Augen vom Plot zu nehmen.
Caslet war der üblichen Prozedur für die Kapitulation eines Schiffes gefolgt. Wenn ein Kommandant genügend Zeit hatte, sollte er die Crew in Beibooten dem feindlichen Zugriff entziehen und sodann die Sprengladungen zünden, aber in einer taktisch aussichtslosen Situation galten andere Regeln. Der Feind mußte eine Gelegenheit zur Kapitulation geben, und der besiegte Kommandant sollte sie annehmen, statt seine Crew sinnlos zu opfern. Denn schließlich gab es in einem Schiff, das im Nahgefecht kampfunfähig geworden war, normalerweise nur wenige Überlebende, und der Preis dafür, lebend von Bord zu kommen, bestand darin, dem Gegner das Schiff zu übergeben, das diesem wiederum als intakte Prise erhalten blieb.
Doch bevor das besiegte Schiff geentert wurde, mußte sein Kommandant die Massenspeicher der Computer löschen und zerstören, dazu sämtliches Gerät, das der Geheimhaltung unterlag – was Caslet getan hatte. Zweifelsohne wollte das ONI die Vaubon trotzdem unter die Lupe nehmen, und vorher würden Honors Suchmannschaften auch noch den letzten Winkel nach etwaigen Ausdrucken und Speicherchips durchforsten. Trotzdem stand keine überwältigende Datenausbeute zu erwarten. Die RMN hatte ohnehin genügend Volksflottenschiffe erbeutet, um mit der havenitischen Technologie mehr oder weniger vertraut zu sein. Honor rechnete mit keinem überwältigenden Schatzfund in der Vaubon. Eine Entscheidung stand nun jedoch an: was mit der Prise und mit den Gefangenen zu geschehen hatte.
»Am wichtigsten scheint mir«, dachte sie laut, »daß Haven nichts vom Ausgang dieses Gefechts ahnt. Die Verlustziffern in Poznan weisen ja deutlich darauf hin, was die Vaubon hier zu suchen hatte, aber wenn sie zum Handelskrieg eingesetzt war, dann ist sie nicht allein. Deshalb müssen wir zunächst dafür sorgen, daß unsere Leute vor den Havies von der Kaperung erfahren.«
»Durchaus vernünftig, Ma’am. Aber wir müssen Haven doch informieren?«
»Diese Sache …« stimmte Honor ihm unwillig zu. Die Übereinkunft von Deneb verlangte von Kombattanten, die Namen aller Gefangenen – und feindlichen Gefallenen – unverzüglich der Gegenseite mitzuteilen. Diese Mitteilung wurde normalerweise den mächtigsten Neutralen übertragen, in den meisten Fällen war dies die Solare Liga. Haven war in dieser Hinsicht stets nachlässig gewesen, Manticore nie, aber wenn der Volksrepublik nun mitgeteilt würde, daß Caslet und seine Crew in Gefangenschaft geraten waren, dann wüßte Haven, daß auch das Schiff aufgebracht worden war.
»Wir können die Mitteilung durchaus eine Weile zurückhalten«, entschied Honor. »Man verlangt von uns, daß wir die havenitische Regierung innerhalb eines ›angemessenen Zeitrahmens‹ informieren und nicht so schnell, wie es physikalisch möglich wäre. Angesichts unserer operativen Sicherheit erlaube ich mir diesbezüglich eine gewisse Auslegungsfreiheit.« Cardones tat seine Zustimmung kund, und Honor brütete noch kurz über dem Display, dann nickte sie ebenfalls. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.
»Die Vaubon ist nach wie vor hyperraumtüchtig, deshalb geben wir ihr eine Prisenmannschaft – Lieutenant Reynolds kann das Kommando übernehmen. Er soll über Gregor Station den Weg nach Manticore nehmen. Unterwegs kann er die andermanische Flottenstation im Sachsen-System und Neu-Berlin unterrichten, denn der Herzog von Ravenheim sollte von dieser Neuigkeit erfahren. Wir können unseren Botschafter im Sachsen-System bitten, die Information an unsere Stationen innerhalb der Konföderation weiterzugeben. Unserem Flottenattaché hier im Schiller-System geben wir eine Depesche zur Weiterleitung an die übrigen Schiffe des Geschwaders, schließlich kommen sie alle einmal hierher. Schneller können wir die Nachricht vermutlich nicht verbreiten, ohne die Geheimhaltung zu verletzen.«
»Jawohl, Ma’am. Was soll mit den Gefangenen geschehen?«
»Wir haben nicht genügend Raum, um sie in sicheren Gewahrsam zu nehmen«, überlegte Honor und rieb sich dabei die Nasenspitze. »Mir wäre es sehr lieb, wenn sich so bald wie möglich ein richtiges Krankenhaus um die Verwundeten kümmern würde. Das sind wir ihnen schuldig.« Sie nahm Nimitz von der Sessellehne und wiegte ihn beim Nachdenken in den Armen, dann faßte sie ihren Entschluß und nickte erneut. »Das Lazarett der Vaubon ist unbeschädigt geblieben, das Lebenserhaltungssystem weiterhin funktionstüchtig. Wir behalten die Offiziere hier und schicken die meisten Unteroffiziere und Mannschaften – und natürlich sämtliche Verwundeten – mit dem Schiff auf den Weg. Reynolds soll die Andermaner im Sachsen-System ersuchen, ihm die Verwundeten abzunehmen.«
Cardones pflichtete ihr bei. Ganz eindeutig mußten die Offiziere der Vaubon aus dem gekaperten Kreuzer entfernt werden; wenn jemand auf der bevorstehenden Reise versuchen könnte, das Schiff wieder zurückzuerobern, dann die Offiziere. »Ich werde Major Hibson bitten, ein ausreichendes Sicherungskommando abzustellen«, merkte er an.
Honor gab ihre Zustimmung, und der I.O. fuhr energischer fort: »Damit wäre für die Havies gesorgt – was ist mit den Piraten?«
»Die erhalten die übliche Behandlung«, antwortete Honor. Ganz ungefährlich war es nicht, die Handvoll Piraten, welche das Gefecht überlebt hatten, dem Systemgouverneur zu übergeben. Sogar wenn er ein ehrenwerter Mann war, konnten die Gefangenen ihm die Kaperung der Vaubon verraten. Andererseits gab es nicht viele Gefangene. An Bord der beiden kleineren Schiffe hatte niemand überlebt, im Leichten Kreuzer kein einziger Brückenoffizier. Die Überlebenden wußten zwar, daß sie gegen einen anderen Leichten Kreuzer gekämpft hatten, aber wahrscheinlich war ihnen nicht mitgeteilt worden, daß es sich dabei um ein havenitisches Schiff handelte. Seitdem hatte sich für die Piraten keine Gelegenheit ergeben, davon zu erfahren. Aber trotzdem … »Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, ein wenig damit zu prahlen, wie leicht die Piraten auf den Hinterhalt unseres Leichten Kreuzers reingefallen sind«, fügte sie hinzu.
»Dafür werde ich sorgen, Ma’am«, stimmte Cardones zu. Er ging, um entsprechende Befehle zu erteilen. Honor blieb vor dem taktischen Display stehen und betrachtete es nachdenklich.
So viele unbeantwortete Fragen … Die Piratenschiffe waren erstaunlich zahlreich gewesen und außerdem unerwartet schwer bewaffnet. Weil Frachter so gut wie immer unbewaffnet fuhren, bedurfte es keiner großen Feuerkraft, um sie zur Aufgabe zu zwingen. Aber an Bord dieser Piratenschiffe befanden sich so viele Waffensysteme, daß kaum noch Raum für die überdimensionalen Lebenserhaltungsanlagen blieb, welche für die sehr umfangreichen Besatzungen von Raidern unerläßlich waren.
Nun, wenigstens erschien es sehr wahrscheinlich, daß man schon bald mehr darüber in Erfahrung brächte. An Bord des ersten Opfers der Vaubon hatte es keine Überlebenden gegeben; Kompensatorversagen und einundfünfzig Sekunden Fluchtbeschleunigung mit über vierhundert Gravos hatten dafür gesorgt. Die Computer des Schiffes waren hingegen intakt. Drei von Commander Harmons LACs hatten fünf Stunden benötigt, um das Wrack einzuholen und zur Wayfarer zu schleppen, und nun werkelten Kommandos aus den Abteilungen von Harold Tschu und Jennifer Hughes in den Systemen. Honor verdrängte den Gedanken an die menschlichen Überreste, zwischen denen die Ermittlungscrews arbeiten mußten, und wandte sich vom Plot ab. Hoffentlich würde sie bald wenigstens ein paar Antworten erhalten.
Mit angespannten Schultern folgte Warner Caslet dem Lieutenant der Marines durch den Gang. Es fiel ihm nicht leicht, sich aufrecht zu halten, und er verfluchte sich für seine Dummheit. Er hatte sein Schiff verloren – die allerschlimmste Sünde, die ein Kommandant überhaupt begehen konnte –, für nichts!
Er biß die Zähne zusammen, bis ihm die Kiefermuskeln schmerzten. Daß er auf Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Informationen das Richtige getan hatte – das moralisch Richtige, dachte er bitter –, war kaum ein Trost. Der Nachrichtendienst hatte nicht einmal davor gewarnt, daß die Manties Q-Schiffe benutzen könnten. Ich habe jede Veranlassung gehabt zu glauben, daß die Wayfarer ein wehrloser Kauffahrer sei, dem ich zu Hilfe gekommen bin, dachte Caslet. Trotz seines Selbsthasses war er nach wie vor überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben – auf Grundlage seines Wissens.
Dennoch vermochte diese Überzeugung ihn weder vor der Selbstverachtung zu bewahren – noch vor den Folgen seines Tuns.
Bis dahin dauert es wenigstens noch etwas, dachte er sarkastisch. Die Volksrepublik verweigerte für die Dauer dieses Krieges den Austausch von Gefangenen. Da die Bevölkerung des Sternenkönigreichs viel kleiner war als die der Republik, nützte ein Austausch Manticore viel mehr als der Volksrepublik, und im übrigen sah Haven keine Veranlassung, der RMN ausgebildetes Personal zurückzugeben. Außerdem müßten wir, um gleichzuziehen, in einem Verhältnis von zwanzig zu eins austauschen! dachte Caslet mit einem Aufblitzen bitterer Belustigung.
Auch wenn es hieß, Manticore behandele Gefangene besser als die Republik, erschien Warner Caslet die Aussicht auf etliche Jahre in einem Lager alles andere als reizvoll. Trotzdem wäre es für seine Gesundheit besser, wenn er dauerhaft in Gefangenschaft bliebe. Die Manticoraner würden ihn immerhin nicht für seine Dummheit erschießen.
Er hatte bereits erwogen, um Asyl zu ersuchen, aber das brachte er nicht über sich, obwohl er wußte, daß viele Volksflottenoffiziere diesen Schritt getan hatten – wie Alfredo Yu, der nunmehr ein Admiral in der Navy von Grayson war. Jeder einzelne dieser Überläufer war ein toter Mann, wenn er je in republikanische Hände fiel; das brauchte nicht eigens ausgesprochen zu werden. Caslet aber konnte aus einem anderen Grund nicht überlaufen. Trotz aller Exzesse des Komitees für Öffentliche Sicherheit, trotz der irrwitzigen Hemmnisse, die das Komitee, seine Kommissare und die SyS der Volksflotte auferlegten, hatte Warner Caslet einen Eid geschworen, als er sein Offizierspatent entgegennahm, und er war ebensowenig imstande, diesen Schwur zu brechen, wie er hätte zulassen können, daß Warneckes Schlächter die scheinbar zivile Crew der Wayfarer vergewaltigte und ermordete. Wie ein Schock übermannte ihn die Erkenntnis, daß er sich für seine Überzeugungen auch von seiner eigenen Sternennation an die Wand stellen ließe.
Caslet blickte auf, als sein Begleiter vor einer geschlossenen Luke stehenblieb. Daneben stand ein Mann, der gewiß kein Manticoraner war. Er trug eine Uniform in zwei Grüntönen und schaute den Lieutenant fragend an.
»Comman … – Bürger Commander Caslet für die Kommandantin«, meldete der Marine. Caslets Lippen zuckten, als der Manticoraner sich verbesserte. Die Rangbezeichnung klang nach wie vor albern, stellte jedoch eine seltsam tröstliche Verbindung her zwischen dem, der er jetzt, und dem, der er noch wenige Stunden zuvor gewesen war.
Der Grünuniformierte nickte und sprach knapp ins Intercom, dann öffnete sich die Luke, und er trat zur Seite. Der Lieutenant machte mit einem respektvollen Nicken einen Schritt zurück. Caslet erwiderte die freundliche Geste, durchquerte die Luke und blieb stehen.
Auf ihn wartete eine lange Tafel mit einer schneeweißen Tischdecke, schimmerndem Porzellan und glitzernden Gläsern. Ein köstlicher Duft hing in der Luft. Am Tisch saßen bereits Denis Jourdain, Allison MacMurtree, Shannon Foraker und Harold Sukowski mit einem halben Dutzend manticoranischer Offiziere einschließlich Commander Cardones und dem jungen Lieutenant, der beim Entern der Vaubon die Pinassen kommandiert hatte. An einem Schott stand ein weiterer Grünuniformierter, und ein dritter – mit rötlichbraunem Haar und wachsamen grauen Augen, die deutlich seine Funktion als Leibwächter verkündeten – begleitete Captain Harrington, die gerade auf Caslet zutrat.
Der Bürger Commander blickte ihr mißtrauisch entgegen. In der Hangargalerie hatte er noch zu sehr unter Schock gestanden, um sich ein Bild von ihr zu machen. Trotz der Stichhaltigkeit dieser Entschuldigung war er darüber verärgert, aber nun hatte er sein Gleichgewicht zurück und musterte sie sorgfältig. Ihrem Ruf zufolge hätte sie drei Meter groß sein müssen und Feuer speien sollen. Ihre Gegenwart flößte Caslet profundes Unbehagen ein: Diese Frau war eins der Schreckgespenster der Volksflotte, sie rangierte in einer Klasse mit Admiral White Haven oder Admiral Kuzak. Caslet begriff nicht, daß sie so weit abseits der Front ein einzelnes Q-Schiff kommandierte. Vermutlich sollte er dankbar sein, daß Manticore Honor Harringtons Fähigkeiten derart verschwendete, aber das fiel ihm in diesem Augenblick doch recht schwer.
Sie war hochgewachsen und bewegte sich wie eine Tänzerin. Unter ihrem weißen Barett schaute ein Zopf hervor; sie trug ihr Haar also viel länger als auf dem einzigen Foto in ihrem Dossier, und von Angesicht zu Angesicht waren ihre mandelförmigen Augen erheblich … irritierender. Caslet wußte, daß eins davon künstlich war, aber die Manticoraner bauten so hervorragende Prothesen, daß er nicht sagen konnte, welches. Merkwürdig: Er wußte von ihren Fertigkeiten im unbewaffneten Kampf, und deshalb hatte er erwartet, sie wäre … stämmiger? Untersetzter? Das passende Wort wollte ihm nicht einfallen, aber wie es auch lautete, es traf auf Harrington ohnehin nicht zu. Sie besaß die kräftige Geschmeidigkeit aller Menschen, die auf einer Welt mit hoher Schwerkraft geboren sind, und ihre langfingrigen Hände waren stark und sehnig, trotzdem wirkte sie behende und graziös – eine Turnerin, keine Schlägerin – und hatte nirgendwo zuviel Masse.
»Bürger Commander.« Sie reichte Caslet die Hand und lächelte, als er sie ergriff. Dieses Lächeln war warm, aber schief. Die linke Mundhälfte bewegte sich mit kaum merklicher Verzögerung, und die ›Rs‹ in ›Bürger‹ und ›Commander‹ sprach sie ein wenig zu undeutlich aus. Ein Souvenir der Kopfverletzung, die sie auf Grayson erlitten hatte?
»Captain Harrington.« Unter dem Eindruck des aggressiven Egalitarismus der neuen Herrscher in der Volksrepublik hatte sich Caslet bereits im Vorfeld entschieden, zu Harringtons militärischem Dienstgrad Zuflucht zu nehmen und keinen ihrer diversen ›elitären‹ Titel zu benutzen.
»Bitte, setzen Sie sich zu uns«, lud sie ihn ein, führte ihn an den Tisch und plazierte ihn zu ihrer Rechten, dann ließ sie sich mit einer graziösen Sparsamkeit an Bewegungen nieder. Dem Bürger Commander gegenüber saß ihr Baumkater, und als Caslet die kluge Intelligenz in den grasgrünen Augen des vermeintlichen Tieres bemerkte, durchfuhr ihn die Überraschung. Dieser eine Blick reichte aus; Caslet wußte nun, daß es ein großer Fehler war, den Baumkater, wie es in Harringtons Dossier stand, als dummes Haustier abzutun. In der Volksrepublik wußte man nur wenig über Baumkatzen; die verschiedenen Gerüchte stimmten nicht im geringsten miteinander überein. Ein Steward mit sandfarbenem Haar schenkte Wein aus, und Harrington lehnte sich zurück und suchte offen Caslets Blick.
»Wie ich bereits Kommissar Jourdain und den Bürgerinnen Commander MacMurtree und Foraker gesagt habe«, sprach sie Caslet an, »bin ich Ihnen in höchstem Maße dankbar für das, was Sie versucht haben. Wir sind beide Raumoffiziere, Bürger Commander. Sie wissen daher, was meine Pflicht von mir verlangt, und ich bedaure zutiefst, was ich tun muß. Mir tut es auch um die Besatzungsmitglieder leid, die Sie verloren haben. Ich mußte abwarten, bis sich die Raider tief genug innerhalb meiner Energiereichweite befanden, um sicherzugehen, daß die Treffer vernichtend waren – und um zu gewährleisten, daß Ihr Schiff nicht mehr entkommen konnte.« Ihre Offenheit war entwaffnend. Harrington sprach ohne mit der Wimper zu zucken, und wider Willen empfand Caslet Respekt. »Hätte ich das Feuer früher eröffnen können, dann würden einige Ihrer Leute noch leben, und ich bedaure aufrichtig, daß ich nicht anders handeln konnte.«
Caslet nickte steif. Er wußte nicht, ob er seiner Stimme trauen konnte. Oder ob er vor Jourdain eine offene Antwort riskieren durfte. Der Volkskommissar steckte zwar ebenso tief in der Tinte wie er, aber Jourdain war noch immer ein Kommissar und neigte zum gleichen starrsinnigen Pflichtbewußtsein wie Caslet. Waren sie deshalb so viel besser miteinander zurechtgekommen als er je erwartet hätte?
»Außerdem möchte ich Ihnen dafür danken, daß Sie sich um Captain Sukowski und Commander Hurlman gekümmert haben«, fügte Harrington nach kurzer Pause hinzu. »Ihre Dr. Jankowski habe ich zusammen mit Ihrer übrigen Crew fortgeschickt, damit sie sich um die Verwundeten kümmern kann, aber unsere eigene Schiffsärztin versichert mir, daß Dr. Jankowski alles Menschenmögliche für Commander Hurlman getan hat, und dafür möchte ich Ihnen aufrichtig danken. Ich habe früher einmal gesehen, was verrohte Unmenschen mit Gefangenen anstellen« – ihre braunen Augen wurden für einen kurzen Augenblick steinhart –, »und deshalb weiß ich den von Ihnen unter Beweis gestellten Anstand zu schätzen.«
Caslet nickte wieder, und Harrington hob ihr Weinglas. Einige Sekunden blickte sie sinnend hinein, dann sah sie wieder ihrem »Gast« ins Gesicht.
»Ich beabsichtige selbstverständlich, die Volksrepublik über Ihren gegenwärtigen Status zu informieren, aber unsere operative Sicherheit erfordert, daß ich diese Mitteilung für kurze Zeit verzögere. Im Augenblick muß ich Sie und Ihre Ressortoffiziere an Bord der Wayfarer behalten, aber Sie alle können jederzeit mit aller Höflichkeit rechnen, die Ihnen nach Ihrem Rang und Ihrem Handeln zustehen. Man wird Sie nicht unter Druck setzen, vertrauliche Informationen preiszugeben.« Caslets Augen wurden schmal, und Harrington lächelte ihn erneut schief an. »Nun, wenn jemand von Ihnen irgend etwas fallenläßt, werden wir es selbstverständlich melden, aber Gefangenenbefragung fällt in das Metier des ONI, nicht in meines. Angesichts der Umstände bin ich darüber sehr froh.«
»Vielen Dank, Captain«, sagte Caslet.
Harrington nickte und sagte: »Inzwischen hatte ich Gelegenheit, mit Captain Sukowski über seinen Aufenthalt an Bord Ihres Schiffes zu sprechen. Mir ist klar, daß Sie mit ihm keine operativen Einzelheiten besprochen haben, aber aus dem, was er von Ihnen erfahren hat, und den Informationen aus den Computerspeichern des Raiders kann ich folgern, was Sie im Schiller-System wollten – und weshalb Sie uns zu Hilfe gekommen sind.« Wieder verhärteten sich ihre Augen zu glitzernden Feuersteinen, und Caslet war erleichtert, daß diese kalte Wut sich nicht gegen ihn richtete. »Es wird wohl Zeit«, fuhr Harrington in ruhigem Ton fort, der ihren Zorn nicht im geringsten kaschierte, »sich ein für allemal um Mr. Warnecke zu kümmern, und dank Ihnen müßten wir dazu in der Lage sein.«
»Dank uns, Ma’am?« Nur die Überraschung entlockte Caslet diese Frage, und Harrington nickte.
»Wir konnten den gesamten Datenbestand des Schiffes retten, das Sie kampfunfähig geschossen haben. Die beiden anderen Wracks gaben überhaupt nichts her, aber dieses eine dafür alles – einschließlich der astrographischen Daten. Wir wissen nun, wo Warnecke sitzt, Bürger Commander, und wir beabsichtigen, ihm einen kleinen Besuch abzustatten.«
»Mit nur einem Schiff, Captain?« Das war eine riskante Frage, und Caslet warf Jourdain einen unsicheren Seitenblick zu; auch wenn er selbst sich an Bord befand, war es eindeutig seine Pflicht, alles in seiner Macht stehende zu tun, um die Vernichtung der Wayfarer auszulösen. Doch die Untaten, die Warneckes Schlächter an den Erewhons verübt hatten, gingen ihm nicht aus dem Sinn – und Sukowski und Hurlman ebensowenig. Jourdain blickte ihm ganz kurz in die Augen und nickte fast unmerklich. Caslet wandte sich wieder Harrington zu. »Entschuldigen Sie, Ma’am«, sagte er bedächtig, »aber unsere Daten weisen darauf hin, daß die Piraten noch weitere Schiffe besitzen. Wenn Sie die Kerle finden, könnte es sein, daß Sie sich mehr abgebissen haben als Sie kauen können.«
»Die Zähne der Wayfarer sind aber ziemlich scharf, Bürger Commander«, entgegnete die manticoranische Kommandantin mit einem schmalen, drohenden Lächeln. »Und wir besitzen komplette Datensätze von der Piratenflotte. Sie haben den Planeten Sidemore im Marsh-System übernommen. Marsh ist – oder war vielmehr – eine unabhängige Republik außerhalb der Konföderation, und vermutlich haben die Silesianer deshalb nie dort nach Warnecke gesucht, wenn sie überhaupt wissen, daß er davongekommen ist. Das Sonnensystem war bereits unbedeutend, als die Piraten es erobert haben, und die einzige logistische Unterstützung besteht aus einem einzelnen Reparaturtender, den sie aus dem Kelch mitgebracht haben. Die Ressourcen der Piraten sind sehr beschränkt, nach unserer Zählung haben – hatten – sie insgesamt zwölf Schiffe. Davon haben Sie zwo eliminiert, wir ebenfalls zwo, damit sind es noch acht, von denen einige nicht kampftüchtig sein werden. Nach den Daten des Wracks sind die Orbitalbefestigungen kaum der Rede wert, und auf dem Planeten haben die Piraten nur ein paar tausend Mann. Glauben Sie mir, Bürger Commander – mit denen werden wir fertig.«
»Ich kann nicht behaupten, ich wäre traurig, das zu hören, Captain«, antwortete Caslet nach kurzem Zögern.
»Das habe ich auch nicht erwartet. Und obwohl es keinen Ausgleich für den Verlust Ihres Schiffes bedeutet, möchte ich Ihnen einen Logenplatz anbieten, von dem Sie zuschauen können, was mir mit Warneckes Psychopathen anstellen. Um genau zu sein, lade ich Sie und Kommissar Jourdain für den Angriff auf die Brücke ein.«
Caslet zuckte überrascht zusammen. Einen feindlichen Offizier, selbst einen Kriegsgefangenen, auf die Brücke zu bitten, war ohne Beispiel. Die Augen eines ausgebildeten Raumoffiziers sahen immer zumindest ein wenig von dem, was die Admiralität des Gegners ihn garantiert nicht sehen lassen wollte. Andererseits würde er vorerst wohl kaum jemandem in der Heimat von alledem Bericht erstatten können …
»Ich danke Ihnen sehr für dieses Angebot, Captain«, sagte er. »Ich weiß es zu schätzen.«
»Das ist das Mindeste, was ich tun kann, Bürger Commander«, entgegnete Harrington mit einem bedauernden, leisen Lächeln. Sie prostete ihm zu, und automatisch hob er das Glas. »Trinken wir auf etwas, in dem wir übereinstimmen, meine Damen und Herren«, sprach sie in die Runde. »Auf André Warnecke. Möge er bekommen, was er verdient.«
Sie hob das Glas, und ringsum erhob sich zustimmendes Gemurmel. In dieser Antwort hörte Warner Caslet seine eigene Stimme – und die Denis Jourdains.