20

»Mein Gott, Aubrey? Was ist denn mit dir passiert?«

Aubrey schlug die Augen auf und blinzelte Ginger Lewis an. Als erstes schoß ihm die Frage durch den Kopf, was sie wohl in der Kabine zu suchen habe, die er mit drei anderen jungen Petty Officers teilte. Als zweites die Frage, worüber sie sich solche Sorgen machte. Erst da gelangte er zu Nummer drei und begriff, daß er noch immer mit Gehirnerschütterung zur Beobachtung im Lazarett lag.

»Ich bin gestürzt«, sagte er. Die Worte klangen wegen seiner geschwollenen Lippen und der Nase, durch die er noch immer kaum Luft bekam, ein wenig undeutlich und hauchig. Eine neue Schmerzwelle brach über ihn herein, und er kniff wieder die Augen zusammen. Surgeon Lieutenant Holmes hatte versprochen, daß innerhalb der nächsten Tage die schlimmeren Schwellungen und Prellungen durch die Schnellheilung verschwinden würden. Leider hatte die Behandlung noch nicht den gewünschten Effekt erzielt, und seine gebrochene Nase und die angeknacksten Rippen würden auf jeden Fall noch eine Weile länger brauchen.

»Was du nicht sagst«, entgegnete Ginger tonlos, und Aubrey schlug wieder die Augen auf. »Erzähl mir keinen Scheiß, Wonder Boy. Jemand hat dich nach Strich und Faden zusammengeschlagen.« Aubrey stutzte über ihre mordlustige Miene. Er fühlte sich merkwürdig entfernt und überlegte, weshalb Ginger so wütend war. Schließlich war sie doch nicht verprügelt worden.

»Ich bin gestürzt«, behauptete er wieder. Selbst in seiner Desorientierung wußte er noch, daß er bei dieser Geschichte bleiben mußte. Das war wichtig, auch wenn er sich hin und wieder nicht erinnern konnte, weshalb eigentlich. Als es ihm schließlich wieder einfiel, verfinsterte sich seine Miene. »Ich bin gestürzt«, sagte er zum drittenmal. »Bin über meine eigenen Füße gestolpert und aufs Gesicht geklatscht.« Er zuckte mit den Schultern und fuhr zusammen, als die Bewegung erneut sengenden Schmerz aufflammen ließ.

»Vergiß es«, widersprach Ginger ihm mit ihrer tonlosen Stimme. »Du hast zwo angebrochene Rippen, und Lieutenant Holmes sagt, daß irgend etwas wenigstens dreimal dein Gesicht getroffen hat, Wonder Boy. Jetzt sag mir, wer das war. Dem reiß ich den Arsch auf.«

Aubrey stutzte erneut. Wie seltsam! Ginger war wütend wegen dem, was ihm passiert war. Gemocht hatte er sie immer, und trotz der eisigen Furcht, die ihn durchfuhr, wenn er an Steilman dachte, erwärmte ihn ihre Anteilnahme. Aber er durfte ihr nichts sagen, denn wenn, würde sie deswegen etwas unternehmen. Also hätte er sie dadurch in die Sache hineingezogen, und das konnte er keinem Freund antun.

»Vergiß es, Ginger.« Ohne großen Erfolg bemühte er sich um eine festere, selbstbewußte Stimme. »Das ist nicht dein Problem.«

»O doch, das ist es«, knirschte sie. »Erstens bist du mein Freund. Zwotens ist es laut Tatsumi im Maschinenraum passiert, und das ist mein Revier. Drittens haben Typen, die umherziehen und andere Leute zusammenschlagen, es nicht anders verdient, als daß man ihnen das Arschloch nachbohrt. Und viertens bin ich jetzt Senior Chief und in genau der richtigen Stimmung für ein wenig Nachbohren. Also sag mir, wer dir das angetan hat!«

»Nein.« Er schüttelte schwach den Kopf. »Kann ich nicht. Halt dich da raus, Ginger.«

»Gottverdammt noch mal, ich befehle dir, es mir zu sagen!« fuhr sie ihn an, aber er schüttelte nur erneut den Kopf. Sie betrachtete ihn wütend, mit blitzenden Augen, und wollte ihn anbrüllen, aber in diesem Moment trat Lieutenant Holmes näher.

»Das reicht, Senior Chief«, sagte der Arzt fest. »Er braucht Ruhe. Seien Sie in zehn oder zwölf Stunden wieder da, dann bekommen Sie vermutlich mehr aus ihm heraus.«

Ginger blickte Holmes ins Gesicht, dann atmete sie durch und nickte.

»Also gut, Sir«, gab sie widerstrebend nach und bedachte Aubrey mit einem weiteren sengenden Blick. »Was dich betrifft, Wonder Boy, überleg dir, was du willst. Ob du mir nun sagst, wer es war, oder nicht, ich werde schon den Schuldigen finden, und dann kann er seinen Eiern Lebewohl sagen.« Sie wandte sich ab und stolzierte aus dem Lazarett.

Holmes sah ihr kopfschüttelnd nach. Dann senkte er den Blick zu Aubrey und wölbte eine Augenbraue.

»Ich habe schon viele wütende Menschen gesehen«, sagte er milde, »aber ich kann mich nicht erinnern, in letzter Zeit jemanden so vor Zorn schäumen gesehen zu haben. Ich rate Ihnen, sich an den Namen desjenigen zu erinnern, über den Sie gestolpert sind. Andernfalls, fürchte ich, wird Ihnen der Senior Chief die Hölle heiß machen, bis Sie es sich anders überlegen.« Aubrey blickte auf, ohne ein Wort zu sagen. »Sie müssen es wissen, Wanderman – aber behaupten Sie hinterher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«

 

Aufgebracht stapfte Ginger den Gang entlang, der vom Schiffslazarett wegführte, dann blieb sie unvermittelt stehen. Sie fuhr sich mit dem Finger über eine Augenbraue, nickte heftig für sich, drehte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Den Mann, den sie suchte, fand sie in der Schiffsapotheke. Er machte eine Bestandsaufnahme und stand mit dem Rücken zu ihr, als sie hereinkam, drehte sich jedoch rasch um, als sie sich räusperte. Ein Ausdruck der Besorgnis strich ihm über das Gesicht, dann schaltete er seinen Handcomputer auf Bereitschaft und legte den Kopf schräg. »Kann ich Ihnen helfen, Senior Chief?«

»Das glaube ich«, entgegnete sie. »Sie sind doch derjenige, der Wanderman gefunden hat, oder?«

»Jawohl, Senior Chief«, bestätigte er ein wenig zu vorsichtig, und sie warf ihm ein freudloses Lächeln zu.

»Gut. Dann können Sie mir vielleicht erzählen, was Sie wissen, Tatsumi.«

»Was meinen Sie damit, Senior Chief?« fragte er wachsam.

»Sie wissen verdammt genau, was ich damit meine«, sagte sie eisern. »Er will mir nicht sagen, wer es gewesen ist, aber Sie wissen es doch auch, stimmt’s?«

»Ich …« Tatsumi unterbrach sich. »Ich habe keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen, Senior Chief.«

»Dann lassen Sie es mich Ihnen buchstabieren«, entgegnete Ginger leise und trat näher auf ihn zu. »Er sagt, er sei gestolpert, Sie sagen, Sie glauben, er wäre gestolpert, und wir wissen alle drei, was für ein Scheiß das ist. Ich will einen Namen hören, Tatsumi. Ich will wissen, wer ihm das angetan hat, und ich will es jetzt wissen.«

Ihre blaugrauen Augen bohrten sich in seine, und er mußte schlucken. Die Atmosphäre in der Schiffsapotheke war bis zum Zerreißen gespannt. Tatsumi mußte alle Kraft aufbringen, um zur Seite zu sehen.

»Hören sie«, sagte er schließlich, und seine Stimme hatte einen rauhen Unterton, »er sagt, daß er hingefallen ist, oder? Nun, ich kann Ihnen nichts anderes sagen. Ich hab’ schon alles gesagt, was ich sagen kann.«

»Nein, das haben Sie nicht.«

»Doch, das hab’ ich!« Mit gehetzter Miene schaute er ihr in die Augen. »Ich bin gerade rechtzeitig gekommen, um ihm seinen Arsch zu retten, Senior Chief, und ich habe mich dafür ganz schön weit vorwagen müssen, aber verdammt will ich sein, wenn ich meinen eigenen Kopf selber in den Fleischwolf stecke! Ich mag den Jungen, aber ich hab’ eigene Sorgen. Wenn Sie wissen wollen, wer es war, dann fragen Sie ihn doch!«

»Ich brauche keine fünf Minuten, um Sie vor die Bosun oder den Eins-O zu bringen, Tatsumi. Bei Ihrer Akte glaube ich kaum, daß Sie scharf darauf sind, oder? Besonders dann nicht, wenn Ihr Schweigen Ihnen als Beihilfe ausgelegt werden könnte.«

Der Sanitäter blickte sie wütend an und ließ die Schultern sinken. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Senior Chief«, sagte er, »aber soweit es mich betrifft, hat dieses Gespräch nie stattgefunden. Wenn Sie ihn dazu bewegen, es ihnen zu sagen, dann bestätige ich die Aussage vielleicht – vielleicht –, aber von selbst sage ich Ihnen gar nichts. Wenn ich das tue, bin ich so gut wie tot, kapieren Sie das denn nicht? Wenn Sie mich wieder in den Bunker schicken wollen, dann bitte. Gut. Tun Sie das. Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber ich nenne Ihnen keine Namen – Ihnen nicht, der Bosun nicht, und dem Eins-O nicht. Nicht einmal der Kommandantin.« Er wich ihrem Blick aus und zuckte mit den Schultern. »Es tut mir leid«, sagte er leiser. »Ganz ehrlich. Aber ich kann nicht anders.«

Ginger wippte auf den Fersen. Ihr ursprünglicher Verdacht, Tatsumi könnte sich am Zusammenschlagen Aubreys beteiligt haben, war von der offensichtlichen Tiefe der Furcht, in der der Sanitäter lebte, davongewischt worden. Diese Furcht ließ Ginger innerlich frösteln. Etwas noch Häßlicheres als das, was sie zuerst vermutet hatte, ging hier vor, und sie biß sich auf die Lippe. Aubrey wollte nicht, daß sie sich einmischte, und Tatsumi schien ehrlich um sein Leben zu fürchten. Er machte auf sie sogar den Eindruck, daß er ihr den Namen gesagt hätte, wenn es um nur eine Person gegangen wäre. Schließlich und endlich hätte die Disziplinarstrafe den Täter wie ein Schlag mit einem Hammer zu Boden geschmettert – vorausgesetzt es war ein Einzeltäter und Tatsumi und Aubrey sagten gegen ihn aus. Dann müßten sie sich um den Kerl keine Gedanken mehr machen … also hatten sie noch vor jemand anderem Angst. Und das hieß …

»Also gut«, sagte sie sehr leise. »Sie behalten Ihre Geheimnisse für sich – vorerst jedenfalls. Aber ich gehe der Sache auf den Grund, und glauben Sie bloß nicht, daß ich dabei alleine bin. Sie und Aubrey können aussagen, was Ihnen in den Sinn kommt, aber Lieutenant Holmes weiß, daß Aubrey nicht gestürzt sein kann, und Sie können darauf wetten, daß er einen umfassenden Bericht schreiben wird. Dadurch werden automatisch zumindest die Bosun und der Profos eingeschaltet, und ich glaube kaum, daß der Eins-O bloß schulterzuckend rumsitzen wird. Bei all dem Gewicht, das dann plötzlich von oben drauf drückt, wird unten etwas herausgequetscht, und wenn Sie damit zu tun haben, dann sollten Sie beten, daß ich das nicht als erste erfahre. Haben Sie das kapiert?«

»Ja, hab’ ich, Senior Chief«, sagte der Sanitäter leise, und Ginger verließ das Lazarett.

 

»… das ist die Geschichte, Bosun. Keiner will auch nur ein Wort sagen, aber ich weiß hundertprozentig, daß Wanderman nicht einfach gestürzt ist.«

Sally MacBride klappte ihren Sessel nach hinten und betrachtete den wutschäumenden weiblichen Senior Chief mit gleichmütigen braunen Augen. Ginger Lewis war zwar erst vor weniger als einem Monat in den Bund der Bootsleute an Bord der Wayfarer aufgenommen worden, aber bisher hatte Sally MacBride gemocht, was sie von ihr sah. Lewis war pflichtbewußt, arbeitete hart und wußte ihre Leute zu führen, ohne sie etwa aus Unsicherheit wegen ihrer so rasch erlangten Führungsposition von oben herab abzukanzeln. Als Maxwells und Lewis’ Beförderungen von der Alten Lady bekanntgegeben worden waren, hatte MacBride zunächst solche Bedenken gehegt, die sich aber glücklicherweise als unbegründet erwiesen hatten. Nun überlegte die Bosun, ob sie sich nicht eher Sorgen um etwas anderes hätte machen sollen, denn sie bemerkte, wie tief die Empörung in den Augen der jungen Frau reichte. Ein Unteroffizier, dem es egal war, was mit seinen Leuten geschah, war wertlos, aber jemand, der seine Handlungen von der Wut bestimmen ließ, war fast noch schlimmer.

»Setzen Sie sich«, forderte sie Ginger schließlich auf und deutete dabei auf den anderen Sessel in ihrem gemütlichen kleinen Büro. Die Bosun wartete, bis ihre Besucherin gehorcht hatte, dann stellte sie den eigenen Sessel wieder aufrecht. »Also gut, Sie haben mir nun gesagt, was Ihrer Meinung nach geschehen ist.« Ginger wollte etwas antworten, aber die Vorgesetzte hob die Hand und gebot ihr zu schweigen. »Ich habe nicht behauptet, daß Sie falsch liegen, ich habe nur festgestellt, daß unser Fall auf dem beruht, was Sie vermuten. Ist an dieser Feststellung irgend etwas unpräzise?«

Ginger biß die Zähne zusammen, dann atmete sie tief durch und schüttelte den Kopf.

»Dachte ich’s mir doch. Zufälligerweise hat nun Lieutenant Holmes bereits mit mir gesprochen, und ich habe bereits mit Profos Thomas geredet. Ich bin – wie auch der Lieutenant – zu dem gleichen Schluß gekommen wie Sie. Leider besitzen wir alle keine unumstößlichen Beweise. Lieutenant Holmes kann uns begutachten, daß Wandermans Verletzungen nicht die Folgen eines Sturzes sind, aber beweisen kann er es nicht. Solange Wanderman uns nicht von sich aus sagt, was wirklich vorgefallen ist, können wir keine offiziellen Schritte einleiten.«

»Aber er hat doch Angst, Bosun«, protestierte Ginger. Ihre Stimme war nun leiser und zeigte einen Unterton von Qual, und sie blickte MacBride bittend an. »Er ist ein Junge auf seiner ersten Reise und hat Todesangst vor dem Täter. Deshalb sagt er mir nichts.«

»Möglich, daß Sie recht haben. Möglich, daß ich sogar den einen oder anderen Verdacht hege, wer Wandermans ›Sturz‹ zu verantworten hat.« Ginger blickte sie scharf an, aber MacBride fuhr unbeeindruckt fort: »Mr. Thomas und ich werden morgen früh mit Wanderman reden. Wir werden versuchen, ihn zum Sprechen zu bewegen. Aber wenn er den Mund hält, und wenn auch Tatsumi nichts sagt, dann sind uns die Hände gebunden. Und wenn uns die Hände gebunden sind, dann gilt für Sie das gleiche.«

»Wie meinen Sie das?« Gingers Ton war ein wenig heftiger als angemessen.

»Damit meine ich, Senior Chief Lewis, daß Sie in meinem Schiff nicht die Vigilantin oder maskierte Rächerin spielen werden«, stellte MacBride sachlich fest. »Ich weiß, daß Sie und Wanderman gemeinsam ausgebildet wurden. Ich weiß auch, daß Sie in ihm so was wie einen kleinen Bruder sehen. Das ist er aber nicht, merken Sie sich das. Er ist diensttuender Petty Officer in meinem Schiff, und Sie sind Senior Chief. Sie sind beide keine Kinder mehr, und wir treiben hier auch kein Kinderspiel. Wanderman hat die Pflicht, uns zu melden, was geschehen ist, und er ist ein guter Junge. Es wird vielleicht eine Weile dauern, bis er soweit ist, aber ich glaube, am Ende wird er uns erzählen, was wir wissen wollen. Bis dahin werden Sie immer daran denken, daß Sie nicht seine ältere Schwester sind – und auch nicht sein Kindermädchen. Sie werden von jeder Handlung außerhalb des Dienstwegs absehen.«

»Aber …« begann Ginger, nur um sich selbst zu unterbrechen, als ihr MacBride einen wütenden Blick zuwarf.

»Ich bin es nicht gewöhnt, mich wiederholen zu müssen, Senior Chief«, sagte sie kühl. »Ich freue mich über Ihre Anteilnahme und Ihr Pflichtgefühl. Das sind gute Eigenschaften, die Ihr Rang von Ihnen fordert. Aber es gibt Momente, in denen man auf etwas drängen muß, und Momente, in denen man auf etwas nicht drängen darf. Es gibt auch Momente, in denen man die offiziellen Kanäle verläßt, und Momente, in denen man sich davor hütet. Sie haben mich auf den Fall Wanderman aufmerksam gemacht, und das war Ihre Pflicht. Wenn Sie Wanderman dazu überreden können, mit uns zusammenzuarbeiten – gut. Wenn nicht, werden Sie die Angelegenheit mir überlassen. Haben Sie das verstanden, Senior Chief Lewis?«

»Jawohl, Bosun«, antwortete Ginger steif.

»Fein. Dann gehen Sie jetzt besser. Ich glaube, in vierzig Minuten beginnt Ihre Wache.«

Sally MacBride blickte der jungen Frau hinterher und seufzte. Wie sie Ginger gegenüber angedeutet hatte, hegte sie einen starken Verdacht, was vorgefallen war, und gab sich selbst die Schuld daran. Sie hätte Steilman im gleichen Augenblick ablehnen sollen, in dem sie seinen Namen auf der Besatzungsliste gesehen hatte. Davon hatte sie abgesehen und fragte sich nun, inwieweit der Beweggrund dafür Stolz gewesen war. Sie hatte ihn schon einmal in die Knie gezwungen und war sich sicher gewesen, daß es ihr erneut gelingen würde, deshalb hatte sie ihn nicht abgelehnt. Nach wie vor war sie sich sicher, mit Steilman fertigzuwerden … Sie hatte nur nicht mit einkalkuliert, welchen Preis andere dafür vielleicht bezahlen würden, und das hätte sie tun müssen, besonders nach Steilmans Zusammenstoß mit Wanderman.

Finster blickte sie auf ihr abgeschaltetes Terminal. Sie hatte Steilman durchaus im Auge behalten, aber seit der letzten gemeinsamen Reise war der Kerl offenbar erheblich verschlagener geworden. Sie beide waren ja nun auch zehn T-Jahre älter, und irgendwie hatte er diese Zeit überstanden, ohne im Militärgefängnis zu landen. Eigentlich hätte es ihr dabei doch wie Schuppen von den Augen fallen sollen … Dennoch, die Bosun konnte sich nicht vorstellen, wie Steilman sich an Wanderman herangeschlichen haben sollte, ohne daß sie davon erfuhr. Es sei denn, Ginger Lewis’ Verdacht entsprach der Wahrheit. Im großen und ganzen war die Besatzung der Wayfarer so gut wie jede Crew, in der MacBride je gedient hatte, aber es gab eine kleine Gruppe von echten Unruhestiftern. Bislang war es ihr und Profos Thomas gelungen, diese Leute in Schach zu halten – das hatten sie zumindest beide geglaubt. Nun kamen der Bosun Zweifel, und sie schürzte nachdenklich die Lippen, während sie im Geiste eine Liste von Namen und Gesichtern durchging. Coulter, dachte sie. Er mußte dabei sein. Steilman und er dienten im Maschinenraum. Die Bosun hatte im Einvernehmen mit Commander Tschu dafür gesorgt, daß die beiden voneinander getrennt wurden, aber sie arbeiteten noch in der gleichen Wache in unterschiedlichen Abteilungen. Dadurch erhielten sie außer Dienst genügend Zeit, die Köpfe zusammenzustecken, und wahrscheinlich hatten sie mittlerweile ein paar Gleichgesinnte um sich geschart. Zum Beispiel Elizabeth Showforth. Sie trieb sich mit Steilman herum und war auf ihre eigene Weise nicht besser als er. Dazu kamen Stennis und Ilyushin.

MacBride knurrte. Menschen wie Steilman und Showforth ekelten sie an. Sie wußten, wie man anderen Furcht einflößte, und die Unerfahrenheit ihrer Crewkameraden verlieh ihnen um so mehr Spielraum. Zu viele Wayfarers waren noch zu jung und besaßen nicht den Mumm, um sich Steilman und Konsorten entgegenzustellen. MacBride hatte bereits Gerüchte über Einschüchterungsversuche und kleinere Diebstähle gehört, hatte jedoch geglaubt, diese Dinge würden sich von selber regeln und verschwinden, sobald die Neulinge sich eingewöhnt hatten. In Anbetracht der Eskalation im Falle Wanderman fürchtete die Bosun nun, die Lage falsch eingeschätzt zu haben. Solange der junge Mann nicht von selbst zugab, was vorgefallen war, konnte sie keine offiziellen Schritte gegen Steilman einleiten – dadurch aber würde die Bedeutung Steilmans und die seiner Spießgesellen nur vergrößert und die Lage verschlimmert.

Sally MacBride gefielen die eigenen Schlußfolgerungen wenig. Wenn es sein mußte, konnte sie Steilman und seinen Haufen wie Kakerlaken an der Wand zerquetschen, aber dazu wäre eine Ermittlung mit allen Schikanen erforderlich. Gegenüber der gesamten Crew müßte hart durchgegriffen werden, und das hätte extreme Auswirkungen auf Moral und Solidarität, beides Werte, die sie bislang mühevoll gehegt hatte. Aber wenn nichts unternommen wurde, würde das Krebsgeschwür, das innen wucherte, gewiß schwere Folgen zeitigen.

Sie brütete eine Weile darüber und nickte endlich. Wie sie Lewis gesagt hatte, gab es Momente, in denen man nicht drängen durfte – und aber auch Momente, in denen man drängen mußte. Um ein Gespür für die feinen Unterschiede zu besitzen, mußte man länger Bootsmann gewesen sein als Lewis es war. MacBride konnte nichts unternehmen, ohne ihre Absichten zu offenbaren – was schlecht gewesen wäre. Doch es gab andere Personen, durch die sie ihre Präsenz deutlich machen konnte.

Sie gab einen Code in ihr Com.

»Com-Center«, meldete sich eine Stimme, und MacBride lächelte schmal.

»Hier ist die Bosun. Ich muß mit Senior Chief Harkness sprechen. Suchen Sie ihn bitte und weisen Sie ihn an, sich in meinem Büro zu melden.«

 

Honor Harrington 6. Ehre unter Feinden
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