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»Sie kommen zurück!« fauchte Lieutenant Commander Hughes, als eine weitere Raketensalve auf die Gudrid zuschoß. »Wir brauchen die Sensoren jetzt

ET/1c Wanderman lief der Schweiß das Gesicht hinunter. Er kauerte über seiner Diagnosesonde, und das schrille Schnattern der Gefechtsmeldungen umgab ihn. Die Kommandanten der überlebenden LACs wechselten scharf den Kurs, um den neuesten Schlag der Raider abzufangen. Der Angriff war völlig überraschend gekommen, und offensichtlich hatten sie es mit einem kompletten Geschwader Freibeuter zu tun, und keinen gewöhnlichen Piraten. Die erste Warnung, die Hughes’ taktisches Team erhalten hatte, bestand in der Raketensalve, die einen der Geleitzerstörer in Fetzen riß, und im Kielwasser der Raketen war der Feind herangeschossen.

»Ich weiß, daß sie irgendwo da draußen sind«, knirschte Lieutenant Wolcott, Zwoter Taktischer Offizier der Wayfarer. Aubrey durchfuhr ein Stich – er kam sich unzulänglich vor. Die unbekannten Angreifer verfügten über eine ausgezeichnete Elektronische Kampfführung, und diese Eloka brachte die Ortungsgeräte der Wayfarer ins Schleudern. Außerdem besaßen sie wenigstens eine schwere Plattform, von der aus sie Raketen starteten, vermutlich ein Schiff, das aus einer Entfernung jenseits der aktiven Erfassungsreichweite Lieutenant Wolcotts die Geleitschiffe des Konvois bestrich. Im Hyperraum war die Ortungsreichweite ohnehin schlecht, und Wolcott brauchte unbedingt die Gravitationssensoren, um die feindlichen Impeller vor den Hintergrundstörungen durch geladene Partikel, Eloka und die elektromagnetischen Impulse detonierender Laser-Gefechtsköpfe ausmachen zu können. Aber das gesamte System zur Gravitationsdetektion war ausgefallen, und Aubrey gelang kein Neustart.

»Wir haben die Thomas verloren!« verkündete jemand, und diesmal stieß Hughes einen lauten, lästerlichen Fluch aus. Drei Raider waren bereits vernichtet, aber die Thomas war schon das vierte LAC, das der Feind erwischt hatte. Außerdem hatte Captain MacGuires Gudrid schwere Treffer einstecken müssen.

»Neue Zielsituation! Backbordbatterien fertig zum Feuern!« zischte der Taktische Offizier und schlug auf ihrer Konsole in die Tasten. Die schweren Strahlerbatterien der Wayfarer suchten sich hungrig ein Ziel, und endlich kam ein Gegner in ihre Reichweite.

»Störung bei Graser Fünf!« bellte jemand rauh, und Aubrey hörte das Rattern von Terminaltasten. »Verdammt, verdammt, verdammt! Bedienungsfehler!«

»Scheiße!« Hughes beugte sich über ihr eigenes Terminal. Die Crew der Wayfarer war noch immer zu unausgegoren, und das zeigte sich jetzt. Sie gab eine Anfrage ein und spie einen stillen Fluch aus. »Fünf übersteuern! Mit der zentralen Feuerleitung übernehmen!«

»Versuchen zu übernehmen«, meldete die erste Stimme. »Achtung – jetzt! Wieder funktionstüchtig, unter Zentralkontrolle!«

»Verfolgen den Gegner!« rief Hughes’ Obermaat. »Verfolgen … verfolgen … Aufschaltung!«

»Feuer!«

Acht Graser, jeder so schwer wie bei einem Wallschiff, feuerten gleichzeitig durch die »Geschützpforten« im Seitenschild der Wayfarer, und gleich darauf verging ein Raider von Schlachtkreuzergröße im strahlenden Blitz eines explodierenden Fusionsreaktors.

»Den haben wir erwischt!« knurrte jemand.

»Ja, und jetzt wissen sie, welche Waffen wir haben«, erwiderte jemand grimmig.

»Erlaubnis, Gondeln abzusetzen?« fragte Wolcott abgehackt, aber Hughes schüttelte heftig den Kopf.

»Negativ. Wir haben ihre Raketenplattformen immer noch nicht gefunden.«

Wolcott nickte freudlos. Durch einen Zufallstreffer hatte die Gudrid schon früh während des Gefechts die Beweglichkeit ihrer achteren Frachtraumtore eingebüßt, und dadurch war ihr Raketengondelsystem lahmgelegt. Deshalb konnte nur noch die Wayfarer schwere Raketen abfeuern, aber wenn Hughes die Gondeln gegen die Ziele einsetzte, die sie geortet hatte, dann würden die anderen, nicht erfaßten Ziele ihren Beschuß auf sie konzentrieren. Zerbrechlich wie die Wayfarer war, mußte das eine Katastrophe bedeuten, und Aubrey fluchte tonlos. Der Bildschirm seiner Diagnosesonde flackerte, Zahlen und Rißzeichnungen huschten eine nach der anderen darüber, während die Sonde die Software des Gravdetektionssystems abfragte und Testprogramme die Hardware inspizierten. Er könnte Ginger und ihren Sechsten Sinn für das Problemlösen brauchen, aber Ginger lag verwundet oder tot in Gravsensor Eins, und …

Ein rotes Licht blitzte auf, und das Display erstarrte. Aubreys Augen huschten über die Schemazeichnung, und wieder fluchte er. Der Treffer, der Gravsensor Eins verwüstet hatte, war auf die Antennenanlage übergeschlagen. Die Antennen waren von den Sicherungen gerettet worden, aber der Energieimpuls hatte sich durch die Datenleitungen fortgepflanzt und die primäre Datenkopplung durchbrennen lassen. Dieses Problem konnte nur behoben werden, indem man die gesamte Anlage ersetzte, und das dauerte Stunden.

»Das war die Linnet!« rief ein Plotgast, als der zweite, letzte Geleitzerstörer des Konvois explodierte.

»Jetzt sind sie hinter uns her, Ma’am!« rief Wolcott plötzlich. »Bandit Sieben und Acht nähern sich von unten achteraus, Zwo Vier Null zu Zwo Drei Sechs.« Ihre Stimme hatte bereits zuvor gepreßt geklungen; nun, als sie die Meldung beendete, wirkte sie noch rauher. »Dreizehn und Vierzehn drehen von oben steuerbords ebenfalls ein, Ma’am – Eins Eins Neun zu Null Drei Drei. Sieht ganz so aus, als wollten sie uns überholen und uns den Strich übers T ziehen!«

»Zeigen Sie!« verlangte Hughes barsch, und Wolcott gab ihre Daten auf den taktischen Hauptplot. Der Lieutenant Commander betrachtete einen Augenblick lang die Lichtkennungen, dann nickte sie. »Nach backbord rollen und in der Ebene auf Drei Drei Null.«

»Rollen nach backbord, Drei Drei Null liegt an, gleiche Ebene, aye«, wiederholte Senior Chief O’Halley, und schwerfällig beschrieb die Wayfarer einen Bogen.

»John und Andrew haben soeben Bandit Neun erwischt«, meldete Hughes’ Maat, aber der Taktische Offizier gab keine Antwort. Ihre Augen klebten an ihrem Display. Der plumpe umgebaute Frachter legte sich auf die Backbordseite und bot der Gefahr von Steuerbord den Bauch dar. Allmählich kehrte die Wayfarer um und überquerte dabei die Spur des Konvois. Das Manöver brachte die Backbordseite nach unten, in Richtung der beiden kreuzergroßen Raider, die sich von ›unten‹ näherten. Hughes’ Finger flogen über die Tastatur.

»Radaraufschaltung Bandit Sieben und Acht«, meldete der Maat.

»Feuer frei!« antwortete Hughes grimmig.

»Die Gudrid!« stöhnte jemand. »Sie bricht auseinander!«

»Carol, finden Sie mir diese Raketenschiffe!« rief Hughes, und Aubrey schloß die Augen. Seine Gedanken überschlugen sich.

Die Raider hatten sich an einer Stelle auf den Konvoi gestürzt, wo er am verwundbarsten war, beim Übergang zwischen den Gravwellen in den Tiefen des Hyperraums. An dieser Stelle, an der sich die Wellen am dichtesten näherten, waren sie über einen halben Lichttag voneinander entfernt. Bei der Hyperraumgeschwindigkeit des Konvois dauerte es dreißig Stunden, von einer Welle zur anderen zu gelangen. Weil die Raider den Konvoi hier überfielen, konnten sie die Impellerantriebe benutzen. Nicht nur hatten sie die Frachter abgefangen, wo sie am langsamsten und unbeweglichsten waren, die Bedingungen erlaubten zudem den Einsatz von Raketen und Seitenschilden. Und wegen der schlechten Ortungsverhältnisse und der erstaunlich guten Elektronischen Kampfführung der Raider hatte der Konvoi sie erst »bemerkt«, als ihre ersten Salven die Geleitzerstörer anfielen und die Frachttore der Gudrid ausschalteten. Weil sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht in einer Gravwelle befanden, hatte Hughes wenigstens ihre LACs starten können, und deren unerwartetes Auftauchen – und ihre Feuerkraft – hatten eine Kampfpause bewirkt, den Feind jedoch nicht vertrieben. Offenbar waren die Freibeuter zu dem Schluß gekommen, daß etwas, das so heftig verteidigt wurde, die Eroberung lohne, und trotz ihrer Verluste griffen sie weiterhin zäh an. Wenn die Raider nicht von jenen unentdeckten Raketenplattformen unterstützt worden wären, hätten die Wayfarer und die überlebenden LACs durchaus mit ihnen fertig werden können, doch um diese Plattformen anzugreifen, mußte man sie zunächst orten, und wie sollte Aubrey denn ohne die Kopplung …

Augenblick mal! Aubrey riß die Augen auf und gab hastig eine Anfrage in die Sonde, dann grinste er wild. Es würde zwar gegen die Regeln verstoßen und mochte außerdem recht umständlich sein, aber wenn er Radar Sechs abschaltete und den Input von Grav Zwo durch die freiwerdenden Systeme zum Hilfsradar bei Kreuzpunkt 361 umleitete, dann die festverdrahtete Abzweigung bei Hilfsradar …

»Backbordbatterie feuert – jetzt!« bellte Hughes’ Maat, und die Graser der Wayfarer spien Feuer, als das Ziel im Schußfeld lag. Zwei weitere Raider explodierten, aber einer davon existierte noch lange genug, um zurückzufeuern. Die schwächeren Laserstrahlen bohrten sich durch den schwachen Seitenschild des Q-Schiffs und die vernachlässigbare Panzerung und vernichteten Graser Drei, Graser Fünf, Werfer Sieben und Werfer Neun; an beiden Energielafetten waren die Verluste beinahe komplett. Aubreys Finger flogen über die Tasten und gaben die nötigen Befehle ein. Er arbeitete ebensosehr nach Gefühl wie mit dem Verstand, denn niemand hatte bislang etwas Ähnliches versucht, soweit er wußte jedenfalls nicht, aber er hatte einfach keine Zeit, alles säuberlich aufzuschreiben. Seine Befehlsdateien waren schmutziges Flickwerk, aber sie sollten tun, was er von ihnen verlangte. Er legte die Kontrolleinheit beiseite und riß den Werkzeugkasten auf.

»Behaltet die Mistkerle auf Steuerbord im Auge!« befahl Hughes.

»Feindliches Raketenfeuer wird von der Gudrid auf uns verlegt«, meldete Lieutenant Jansen von der Raketenabwehr.

»Tun Sie, was Sie können«, entgegnete Hughes grimmig, und Aubrey warf sich unter das Radardisplay. Er grub sich so rasch in die Enge, daß Jansen keine Zeit hatte, ihm auszuweichen. Der Lieutenant stieß einen abgehackten Überraschungsschrei aus und riß die Füße weg; Aubrey riß die Abdeckung von der Hauptkonsole. Er zwang sich, einen Augenblick innezuhalten und seine Identifikation einzugeben, dann brachte er die schweren Krokodilklemmen an den Input-Terminals an. Er rollte sich auf den Rücken, setzte sich auf, packte die Kante der Konsole und stieß sich ab, so daß er auf dem Hosenboden über die Decksohle schlitterte, dann rollte er sich unter Wolcotts Konsole.

Anders als Jansen hatte der 2. Taktische Offizier ihn kommen sehen und drehte sich mit ihrem Sessel beiseite, so daß er Platz zum Arbeiten hatte, während sie gleichzeitig weiter die Ortungsgeräte bediente.

»Paul meldet Verlust des Impellers, die Galactic Traveler hat zwo Treffer im achteren Impellerring. Beschleunigung fällt.«

»Bringen Sie uns schnellstmöglich zur Traveler, Ruder!« fauchte Hughes. »Steuerbordbatterien, bereithalten! Elf und Dreizehn nähern sich uns von vorn!«

»Hereinkommende Vögelchen erfaßt!« verkündete Jansen und fluchte, als Aubrey den Arm ausstreckte, die Kabel mit den Terminals unter Wolcotts Konsole verband und sein improviertes Programm ausführte. »Wir haben Radar Sechs verloren! Gehe auf Notprogramm Bravo-Drei!«

»Gravitationssensoren sind wieder da!« rief Wolcott in plötzlichem Triumph. »Feindliche Raketenplattformen auf Null Eins Neun zu Zwo Null Drei, Entfernung Eins Komma Fünf Millionen Kilometer! Bezeichnung als Bandits Vierzehn und Fünfzehn! Sehen aus wie zwo umgebaute Frachter, Ma’am!«

»Hab’ sie!« bellte Hughes zurück. »Bereithalten zum Auswerfen der Gondeln!«

»Programmiere Feuerleitung«, antwortete Wolcott. Eine Handvoll Sekunden verstrich, dann verkündete sie: »Lösung akzeptiert und gespeichert. Gondeln bereit.«

»Raus damit!« fauchte Hughes, und aus dem Heck der Wayfarer fielen sechs Raketengondeln. Ihr plötzliches Erscheinen überraschte die Raider komplett, und niemand eröffnete auch nur das Feuer darauf, bevor die Lagedüsen die Gondeln in die gewünschte Richtung drehten und sie ihre Raketen feuerten. Sechzig Raketen, die erheblich schwerer waren als alles, was die Freibeuter im Arsenal hatten, sausten auf ihre Ziele zu. Aubrey rollte sich keuchend auf die Knie, damit er ihren Kurs auf dem Hauptplot verfolgen konnte. Die Laser-Gefechtsköpfe gelangten in Angriffsreichweite und detonierten, Dutzende Röntgenlaser schlugen in die Raketenschiffe ein. Ihre Abwehr war noch schwächer als die der Wayfarer; sie hatten keine Chance, und beide explodierten, nachdem sie etliche Volltreffer erhalten hatten.

»Jawoll!« brüllte jemand.

»Steuerbord aufgepaßt!« schnappte Hughes. Die beiden Raider, die hoch steuerbords voraus der Wayfarer standen, konnten ihr noch immer gefährlich werden, aber nun hatten die Freibeuter bereits das halbe Geschwader verloren, und bei der unerwarteten Enthüllung der Raketenbewaffnung des Q-Schiffs im Verein mit dem Verlust der Raketenplattformen sank ihnen der Mut. Sie drehten ab und rollten auf die Seite, um sich mit dem Impellerkeil vor Beschuß zu schützen. Hughes fletschte die Zähne. »Weitere Gondeln aussetzen, Carol! Ich will diese Bastarde erwischen!«

»Aye, Ma’am. Neue Lösung eingegeben. Starten – jetzt!«

Eine neue Kette aus sechs Gondeln fiel aus den achteren Frachttoren der Wayfarer. Die fliehenden Raider waren schwierigere Ziele als die Raketenschiffe, aber nicht schwierig genug, um derartigem Beschuß zu widerstehen. Es waren nur fünf weitere Salven erforderlich, um sie zu vernichten, und Hughes lehnte sich mit einem Stoßseufzer zurück, als die Raider auf der anderen Seite des Konvois ebenfalls abdrehten und wie irrsinnig flohen.

Aubrey setzte sich auf die Fersen und fuhr sich mit dem Unterarm über die schweißige Stirn, dann erloschen plötzlich alle Displays. Einen Moment später schalteten sie sich wieder ein und zeigten die unangetasteten Schiffe des Konvois, der noch immer gleichmütig in Gravwelle MSY-002-91 fuhr, und Hughes strich sich mit der Hand durchs Haar, bevor sie sich ihrer taktischen Crew zuwandte.

»Gar nicht mal so übel, Leute«, sagte sie, als ein Ton das Ende der Simulation verkündete. »Wir haben sie zwar erst spät erfaßt, aber als wir endlich schießen konnten, haben Sie sich gut geschlagen.«

»Das haben sie«, stimmte eine Sopranstimme zu, und Aubrey zuckte zusammen und sprang auf. Captain Harrington stand in der offenen Luke zwischen Alpha- und Beta-Simulator; in letzterem hatte Commander Cardones die »Raider« geführt. In den Armen hielt die Kommandantin ihren Baumkater und streichelte ihm die Ohren – Aubrey wußte nicht, wie lange die Kommandantin dort schon gestanden hatte, und nach dem Ausdruck auf Lieutenant Commander Hughes’ Gesicht zu urteilen war er mit dieser Frage nicht allein.

Als Captain Harrington in die Abteilung trat, erhoben sich alle, aber sie schüttelte den Kopf.

»Weitermachen, Herrschaften. Sie haben es sich verdient, sitzen zu bleiben.«

Erfreute Lächeln beantworteten das Kompliment, und die Kommandantin ging zu Hughes’ Konsole und gab einen Befehl ein. Der Augenblick, an dem die Raketenschiffe plötzlich auf dem Plot erschienen, leuchtete als Standbild wieder im Display auf. Captain Harrington nickte.

»Ich dachte, Rafe hätte Sie mit dem Treffer in Grav Eins erwischt, Waffen«, meinte sie.

»Jawohl, Ma’am. Das dachte ich auch«, antwortete Hughes mit Nachdruck, und Lady Harrington lachte leise.

»Nun, wenn sogar er Ihnen nicht beikommen konnte, dann werden die bösen Buben aber wirklich in Schwierigkeiten geraten, stimmt’s?« stellte sie fest, und ihr ‘Kater gab ein leises, zustimmendes Blieken von sich.

»Ohne Carol hätte er uns erwischt«, erklärte Hughes, aber Wolcott schüttelte den Kopf.

»Ich war’s nicht, Skipper«, sagte sie zum Captain. »Wanderman ist es gewesen.« Sie deutete mit ihrem kastanienbraunen Schopf auf Aubrey und grinste. »Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber geklappt hat es jedenfalls.«

»Das ist mir auch aufgefallen«, murmelte Lady Harrington und wandte ihre Aufmerksamkeit Aubrey zu. Der Elektroniktechniker spürte, wie sein Gesicht puterrot anlief, aber er nahm Haltung an und sah ihr so fest in die Augen, wie er konnte. »Wie haben Sie das geschafft?« wollte sie gespannt wissen.

»Ich … äh, ich habe die Daten umgeleitet, Ma’am – ich meine, Mylady«, antwortete Aubrey und wurde noch röter, als er sich verbessern mußte, aber sie schüttelte nur leicht den Kopf.

»›Ma’am‹ ist schon in Ordnung. Wohin haben Sie die Daten umgeleitet?«

»Ja, also, die Antennen waren ja noch in Ordnung, kaputt war nur die Kopplung. Aber die Daten aus allen Antennen laufen durch Kreuzpunkt Drei Sechs Eins, das ist ein Vorverarbeitungsknoten, und der zerstörte Bereich war weiter unten.« Er schluckt. »Deshalb … ähem, übersteuerte ich die Hauptcomputer, programmierte die Datenbusse neu und leitete alles durch Radar Sechs.«

»Sie waren das also!« rief Lieutenant Jansen aus. »Wissen Sie eigentlich, daß Sie mir damit die Hälfte des Nahbereichs-Abwehrradars abgeklemmt haben?«

»Ich …« Aubrey sah den Raketenabwehroffizier an und schluckte mühsam erneut. »Daran habe ich nicht gedacht, Sir. Das war nur … Nun, das war das einzige, was mir eingefallen ist, und …«

»Und es war keine Zeit, darüber zu diskutieren«, beendete Lady Harrington den Satz für ihn. »Gut gemacht, Wanderman. Sehr gut gemacht. Sie haben rasch geschaltet – und Initiative bewiesen.« Nachdenklich musterte sie Aubrey, und ihr ‘Kater drehte den Kopf, um seine grünen Augen auf den Elektroniktechniker zu richten. »Ich glaube nicht, daß ich den Trick schon vorher einmal gesehen habe.«

»Das liegt daran, daß es eigentlich gar nicht klappen sollte«, erklärte Hughes. Sie gab etwas in ihr Terminal und betrachtete einen Moment den Bildschirm, dann pfiff sie leise. »Bei Drei Sechs Eins ist tatsächlich eine Querverbindung, aber ich begreife nicht, wie er die Datenkompatibilität erzwungen hat. Dazu mußte er nämlich den Gefechtscomputer überzeugen, mit Daten aus drei verschiedenen Bussen zurechtzukommen.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf, und aller Augen richteten sich auf Aubrey, der am liebsten im Deck versunken wäre. Nur der Captain lächelte und zog eine Augenbraue hoch.

»Wo hatten Sie die Software dazu her?« fragte sie, und Aubrey zuckte unbehaglich die Achseln.

»Ich … ich hab’ sie mir schnell geschrieben … Ma’am«, gab er zu, und sie lachte auf.

»Sie haben sie sich schnell geschrieben?« Sie warf Hughes ein Zwinkern zu. »Auf den Batteriedecks haben wir ja noch einige Probleme, aber Sie haben hier schon ein gutes Team zusammen, Ms. Hughes. Ich gratuliere Ihnen allen.«

Aubrey konnte die Zufriedenheit, die plötzlich den Simulator erfüllte, förmlich spüren, und der Captain hob sich den ‘Kater auf die rechte Schulter. Dann wandte sie sich zur Hauptluke um, hielt inne und blickte zurück.

»Heute abend gehen Sie mit mir und dem Eins-O die Chips durch, Ms. Hughes. Können Sie und Ms. Wolcott sich zum Abendessen zu uns gesellen?«

»Selbstverständlich, Mylady.«

»Gut. Und bringen Sie eine Kopie von Wandermans Improvisation mit. Wir wollen doch mal sehen, ob wir sie nicht bereinigen und permanent speichern können – nur für den Fall, daß wir sie noch einmal brauchen.«

»Jawohl, Ma’am.«

»Hat sie sich schnell geschrieben«, wiederholte Lady Harrington leise, lächelte Aubrey an, schüttelte den Kopf, lachte auf und marschierte aus dem Simulator.

 

Honor lehnte sich in den Kommandosessel zurück, als die Wayfarer gleichzeitig mit den anderen Schiffen des Konvois das Bremsmanöver einleitete. Mit vierhundert Gravos Gegenbeschleunigung näherten sie sich innerhalb von Gravwelle MSY-002-91 der Beta-Mauer und der Rückkehr in den Normalraum. Unter Impellerantrieb hätte die gleiche Beschleunigung sie und ihre gesamte Crew auf der Stelle getötet, aber selbst die schwächste Gravwelle des Hyperraums war weitaus stärker als jedes Feld, das von Menschenhand erzeugt werden konnte, und entsprechend tiefer waren ihre »Schwerkraftsenken«. Es war noch nicht einmal erforderlich, vor der Transition abzubremsen, denn ein Schiff verlor mehr als neunzig Prozent seiner Geschwindigkeit, wenn es eine Hypermauer durchbrach. Dieser Effekt eignete sich als taktisches Manöver. Gewalttransitionen bedeuteten allerdings eine hohe Belastung für Mensch und Material, und deshalb bevorzugten Frachterkapitäne den sanfteren und sichereren Übergang mit niedriger Geschwindigkeit. Nicht nur wurden dadurch die heftigen Übelkeitsanfälle vermieden, unter denen die Besatzungsmitglieder bei einer Gewalttransition litten, auch wurde die Abnutzung der Alpha-Emitter um ein beträchtliches Maß gemindert, und darum gaben auch die Buchhalter der Reedereien einer sanften Transition den Vorzug.

Der Konvoi näherte sich nun Neu-Berlin, der Hauptsonne des Anderman-Reiches, die etwa neunundvierzig Lichtjahre von Gregor entfernt war. Wären Commander Elliots Geleitzerstörer allein unterwegs gewesen, so hätten sie die Reise binnen sieben Tagen nach den Uhren des Universums hinter sich bringen können (und dank der Zeitdilatation in fünf subjektiven Tagen), aber dazu hätten sie bis in die Eta-Bänder transistieren müssen. Angesichts des Alters einiger ihrer Schützlinge beließ Elliot den Geleitzug jedoch auf den niederen Delta-Bändern, wo die maximale scheinbare Geschwindigkeit bei wenig mehr als 912 c lag, so daß die Reise fast zwanzig Tage objektiver und siebzehn Tage subjektiver Zeit gedauert hatte. Der Commander hatte diese Entscheidung mit Honor abgesprochen, die, ob es nun jemand wußte oder nicht, der ranghöchste Offizier des Konvois war und eigentlich den Befehl darüber innehatte, aber Honor hatte nicht einmal in Erwähnung gezogen, Elliot Vorschriften zu machen. Im Gegenteil hätte es sogar verdächtig gewirkt, wenn Elliot auf einer zu hohen Verbandsgeschwindigkeit bestanden hätte. Außerdem schenkte die längere Reisedauer Honor mehr Zeit für Simulationen, wie etwa die, in der Rafe von Jennifer Hughes den Kopf gründlich gewaschen bekommen hatte.

Als sie sich daran erinnerte, mußte sie unwillkürlich lächeln und blickte quer durch die Brücke zu ihrem I.O., der gerade eine Nachricht auf dem Pad eines Schreibersmaaten studierte und schließlich eine Unterschrift auf das Eingabepad kritzelte. Trotz seines Talents als Taktischer Offizier war Rafe ein wenig zu übereifrig geworden, als er bemerkte, das die Wayfarer ihre Gravitationssensoren verloren hatte, und die Gudrid keine Kontrolle mehr über ihre Raketentore besaß. Die Regeln der Simulation verboten, daß er sein Wissen über die Armierung der Q-Schiffe benutzte, bevor es ihm enthüllt wurde, und er hatte sich größte Mühe gegeben, der Vorgabe zu entsprechen, aber als Hughes seine Raketenschiffe nicht zerstörte, hatte er gewußt, daß mit ihrer Feuerleitung etwas nicht stimmen konnte. Also hatte er sich auf sie gestürzt, um sie rasch auszuschalten, und die Improvisation des Elektroniktechnikers Wanderman hatte ihn den Sieg gekostet.

Mancher Offizier hätte diesen Mannschaftsdienstgrad fortan auf dem Kieker gehabt, aber Cardones war geradezu entzückt gewesen. Mit Honors Zustimmung hatte er den jungen Mann von seiner normalen Gefechtsstation auf die Brücke versetzt und ihn trotz mangelnden Dienstalters Carolyn Wolcott als ständigen Leitenden Gravitationstechniker zugeteilt, womit er zum diensttuenden Petty Officer Dritter Klasse wurde. Wanderman konnte sein Glück offenbar kaum fassen, und Honor benötigte Nimitz’ Vermittlung nicht, um zu spüren, daß der junge Mann hinsichtlich ihrer Person unter einem akuten Fall von Heldenverehrung litt. Sie empfand darüber gelinde Belustigung, aber Wanderman schien sich unter Kontrolle zu haben, deshalb hatte sie davon abgesehen, mit ihm darüber zu sprechen. Schließlich ist er nur einmal jung und auf der ersten Reise, sagte sie sich. Es hat keinen Sinn, ihn verlegen zu machen – soll er doch seinen Spaß haben.

Honor ließ mit sanftem Lächeln ihren Blick von Cardones zu Wolcott wandern. Seit ihrer ersten Reise an Bord des Schweren Kreuzers Fearless hatte Carolyn Wolcott sich gut entwickelt. Eine gefaßte Person war sie schon immer gewesen; nun, als Lieutenant (Senior Grade) strahlte sie unmißverständliches Selbstvertrauen aus. Viel älter als Wanderman war sie nicht – nur neun T-Jahre lagen zwischen ihnen, was in einer Prolong-Gesellschaft nicht viel zu bedeuten hatte –, aber der diensttuende Petty Officer verehrte sie augenscheinlich.

Der Konvoi durchbrach die Alpha-Mauer und kehrte konservative fünfundzwanzig Lichtminuten vom G4-Stern Neu-Berlin entfernt in den Normalraum zurück. Die verwirbelten Muster des Hyperraums verschwanden vom Display der Außenbeobachtung. Die Hauptsonne des Andermanischen Reiches wirkte aus dieser Entfernung winzig, aber Honors W-Display war plötzlich mit Dutzenden von Impellersignaturen gesprenkelt. Die nächsten waren nur wenige Lichtminuten entfernt, und eines der Schiffe drehte mit gemächlichen zweihundert Gravos in Richtung Konvoi, nachdem es die Hyperabdrücke der Frachter überlichtschnell aufgenommen hatte.

Sekunden verstrichen, dann räusperte sich Lieutenant Cousins.

»Commander Elliot wird von einem andermanischen Zerstörer angerufen, Mylady.«

»Danke.« Honor drückte eine Taste, die ihren Ohrhörer in die Verbindung schaltete, und hörte den Routinesendungen zwischen dem Andermaner und Elliots Linnet zu. Das Vorpostenschiff schloß weiter auf, bis es sich mit seinen Ortungsgeräten vergewissert hatte, daß Elliots Beschreibung ihrer Schützlinge stimmte, dann drehte es mit einer höflichen Begrüßung ab und kehrte auf seine ursprüngliche Position zurück. Honor erschien dieses Verhalten unfaßbar blasiert, aber das lag zweifellos daran, daß Manticore im Kriegszustand lag und im Anderman-Reich Frieden herrschte.

Der Konvoi beschleunigte systemeinwärts, in Richtung der Orbitallager und Frachtumschlagstationen rings um den Hauptplaneten Potsdam. Dutzende von Kriegsschiffen erschienen auf den Sensordisplays, darunter Signaturen, die ganz nach drei kompletten Schlachtgeschwadern aussahen, die Übungen abhielten. Honor verspürte ein melancholisches Verlangen. Die Kaiserlich-Andermanische Weltraumflotte war zwar kleiner als die RMN, technisch aber reichte sie näher an die manticoranischen Standards heran als die meisten anderen. Honor wünschte, der Herzog von Cromarty hätte die Andermaner zum Kriegseintritt auf manticoranische Seite bewegen können. Schließlich und endlich wäre nach dem Fall Manticores das Anderman-Reich der nächste Eintrag auf der havenitischen Liste unerledigter Eroberungen. Unterstützung durch die vorzüglichen andermanischen Kriegsschiffe mit ihren gut ausgebildeten Besatzungen wäre für die Allianz von unermeßlichem Wert gewesen.

Doch das Haus Anderman dachte anders darüber. Genauer gesagt schien der gegenwärtige Kaiser, Gustav XI., nicht in den Krieg eintreten zu wollen, solange nicht etwas für ihn dabei heraussprang. Das lag den Andermans offenbar im Blut. Generationen von Kaisern hatten ihre Grenzen immer weiter ausgedehnt, und zwar immer in Krisengebiete, eine Methode, die mit der Zeit zur altehrwürdigen Tradition geworden war. Gustav XI. beabsichtigte ohne Zweifel der Tradition zu folgen. Bisher hatte Manticore ohne Hilfe durchgehalten, aber offensichtlich hoffte Gustav darauf, daß Manticore irgendwann so dringend einen Verbündeten benötigte, daß es bereit war, in Silesia gewisse Konzessionen zu machen, um sich die Hilfe der kaiserlichen Flotte zu erkaufen. Honor beurteilte diese Haltung als recht kurzsichtig, aber vielleicht war es unrealistisch, von einem Anderman etwas anderes zu erwarten. Immerhin besaß das Reich noch eine weitere Tradition: Wenn es einmal für jemanden Partei ergriff, dann blieb es bis zum Ende dabei.

Vielleicht kann man gar nichts anderes erwarten, überlegte sie. Schließlich war Gustav Anderman ein Söldner gewesen – einer der Besten seines Fachs –, bevor er beschloß, mit seinem eigenen Reich in den Ruhestand zu gehen. Offenbar hatten dessen Nachkommen seine Denkart geerbt. Am erstaunlichsten war dabei der enge Zusammenhalt des Reiches. Im Laufe der letzten sechs oder sieben Jahrhunderte hatten Dutzende von Kriegsherren Westentaschenimperien errichtet, aber nur die Anderman-Dynastie hatte Bestand. Denn welche Fehler die Familie auch haben mochte, sie brachte fähige Herrscher hervor. Einige davon waren allerdings schon recht merkwürdige Charaktere gewesen, allen voran der Reichsgründer Gustav I.

Gustav Anderman war fest davon überzeugt gewesen, die Reinkarnation Friedrichs des Großen von Preußen zu sein; so überzeugt, daß er in einem Kostüm aus dem vierten Jahrhundert vor der Diaspora herumlief. Niemand lachte darüber – ein guter militärischer Befehlshaber konnte sich etliche Marotten leisten –, aber normal war dieses Verhalten wohl nicht. Dann war da Gustav VI. gewesen. Seine Untertanen hatten es noch hingenommen, als er begann, sich mit seinem preisgekrönten Rosenstrauch zu unterhalten, aber als Gustav den Strauch zu seinem Kanzler ernennen wollte, war die Lage ein wenig außer Kontrolle geraten. Selbst für Andermaner war dies ein bißchen zu starker Tobak, und man entledigte sich unauffällig des Kaisers. Seine Beseitigung erzeugte allerdings Folgeprobleme – Thronfolgeprobleme. Die Reichscharta sah vor, daß der Thron nur an männliche Nachkommen vererbt werden konnte. Nun war Gustav VI. der einzige Sohn seiner Eltern gewesen und kinderlos geblieben, aber es lebte noch ein halbes Dutzend Cousins, so daß sich ein vertrackter Erbfolgekrieg zusammenbraute. Gustavs älteste Schwester machte unter Zuhilfenahme einer juristischen Fiktion aller Torheit ein Ende: Sie ließ sich von der Reichsversammlung zum Mann erklären, krönte sich als Gustav VII. zum Kaiser, erlangte so den Oberbefehl über die Heimatflotte und forderte ihre männlichen Verwandten auf, doch zu tun, was sie nicht lassen könnten. Kein einziger nahm die Gelegenheit wahr. Und für weitere achtunddreißig T-Jahre saß sie als »Seine Majestät Kaiser Gustav VII.« auf dem Thron. Sie erwies sich als einer der besten Herrscher, die das Kaiserreich je besessen hatte, und das wollte einiges heißen.

Eine Monarchie nach Schema F ist das Reich ganz bestimmt nicht, dachte Honor ironisch. Trotz gelegentlicher Eigenarten hatte das Haus Anderman seinem Volk immer gut gedient. Zum einen waren die Andermans so klug, ihren diversen Eroberungen ein großes Maß an lokaler Autonomie zuzugestehen, und bewiesen immer wieder ein beachtliches Gespür darin, sich Sonnensysteme herauszupicken, die ohnehin schon aus dem einen oder anderen Grund in Schwierigkeiten steckten. Wie zum Beispiel die Republik Gregor im System von Gregor B: Das Regierungssystem war bereits unter der Last eines blutigen Bürgerkriegs zusammengebrochen, als die kaiserliche Flotte einmarschierte und den Frieden erklärte. Diese Neigung, Eroberte vor einem furchtbaren Schicksal zu ›erretten‹, ging bis auf Gustav I. und Potsdam zurück.

Bevor Gustav Anderman und seine Flotte in das System einmarschierte, war der spätere Planet Potsdam nach der chinesischen Gottheit der Gnade, Kuan Yin, getauft gewesen. Dadurch gehörte er zu den ironischsten Planetennamen überhaupt, denn die chinesischen Kolonisten des Planeten saßen in einer Falle, die ebenso tödlich war wie jene, welche die Vorfahren der Graysons fast das Leben gekostet hätte.

Wie auch die ursprünglichen manticoranischen Siedler hatten die Kolonisten Kuan Yins Alterde verlassen, bevor das Warshawski-Segel den Hyperraum so sicher machte, daß auch Kolonistenschiffe ihn bereisen konnten. Im Kälteschlaf waren sie jahrhundertelang gereist, nur um nach der Ankunft festzustellen, daß die Vermessung eine Kleinigkeit am Ökosystem ihrer neuen Heimat übersehen hatte; ein Detail der Mikrobiologie: Kuan Yins Erdreich enthielt alle Mineralien und Nährstoffe, die irdische Pflanzen benötigten, aber die einheimischen Mikroorganismen bewiesen einen unbändigen Appetit auf terranisches Chlorophyll und vernichteten jede Ernte. Die Mikroorganismen beeinträchtigten weder die Kolonisten selbst noch die irdischen Tierarten, die sie mitgebracht hatten, doch von der einheimischen Vegetation konnte sich kein irdisches Wesen ernähren, terranische Feldfrüchte ließen sich fast gar nicht anbauen, und die Erträge waren minimal. Irgendwie gelang es den Kolonisten zu überleben, indem sie endlos auf den Feldern schufteten, aber einige Grundnahrungspflanzen waren vollkommen ausgelöscht worden. Dadurch ergaben sich furchtbare Mangelerscheinungen, und die Kolonisten fochten einen Krieg gegen die Mikrobiologie ihres Planeten, den sie nicht gewinnen konnten. Am Ende hatten sie im wahrsten Sinne des Wortes so viel an Boden verloren, daß sie nicht mehr bloß am Rand des Aussterbens standen, sondern bereits viele Tote zu beklagen hatten, und sie vermochten nichts dagegen zu unternehmen. Daher begrüßten sie die Eroberung ihrer Welt durch Anderman geradezu wie eine Hilfsexpedition.

Keine von Gustav Andermans Eigenarten stand seiner Befähigung als Verwalter im Wege, und er besaß ein außerordentliches Talent, Probleme begrifflich zu erfassen und Lösungen zu finden. Außerdem verfügte er über die Gabe – welche anscheinend die meisten seiner Nachkommen geerbt hatten –, die Talente anderer Menschen zu organisieren und sie zum besten Nutzen einzusetzen. Im Laufe der folgenden zwanzig T-Jahre schaffte er moderne Mikrobiologen und Gentechniker herbei und löste das Problem, indem er terranische Feldfrüchte züchten ließ, die über die ansässigen Mikroben nur lachen konnten. Potsdam würde niemals eine Gartenwelt sein wie Darwin’s Joke oder Maiden Howe, die sogar imstande waren, Lebensmittelüberschüsse zu exportieren, aber wenigstens vermochten die Bewohner der Welt nun sich und ihre Kinder von den Erträgen der Scholle zu ernähren.

Durch diesen Erfolg akzeptierten die Bewohner von Kuan Yin ihren Kaiser mehr als bereitwillig. Seine Eigenarten bekümmerten sie nicht weiter – sie wären bereit gewesen, ihm außer geistiger Unzurechnungsfähigkeit alles zuzugestehen, und wurden ihm sehr ergebene Untertanen. Anderman begann, das eine Produkt heranzuziehen und zum Exportartikel zu machen, auf das er sich wirklich verstand – fähige, gut geführte Söldner. Später ging er dann selbst ins interstellare Eroberergeschäft. Als er starb, war Neu-Berlin das Zentrum eines Imperiums aus sechs Sonnensystemen, und seitdem war das Reich immer weiter angewachsen, manchmal sehr langsam und kaum spektakulär, aber unaufhaltsam.

»Wir werden angerufen, Ma’am«, meldete Lieutenant Cousins plötzlich, und Honor stutzte, als seine Stimme ihre Betrachtungen unterbrach. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte sie den Signaloffizier an, der zur Antwort mit den Schultern zuckte. »Ein Richtstrahl, ausdrücklich an ›Kapitän von RMMS Wayfaren adressiert‹«, erklärte er, und Honor runzelte die Stirn.

»Absender?«

»Weiß ich nicht genau, Ma’am. Keine Identifikation, aber der Strahl kommt aus Null Zwo Zwo.«

»Jennifer?« Honor blickte den Taktischen Offizier an, und Hughes gab eine Anfrage in ihre Konsole.

»Wenn Freds Richtungsmessung stimmt, dann kommt der Strahl von diesem Superdreadnoughtgeschwader dort«, antwortete sie kurz darauf, und Honor zog die Stirn noch stärker in Falten. Es bestand nicht der geringste Grund, weshalb ein Großkampfschiff der kaiserlichen Flotte einen bestimmten manticoranischen Frachter anrufen sollte. Einen Augenblick lang trommelte sie mit den Fingern auf die Lehne des Kommandosessels, dann zuckte sie die Achseln.

»Stellen Sie ihn durch, Fred, aber begrenzen Sie den Aufzeichner auf mein Gesicht.«

»Jawohl, Ma’am.« Eine enge Begrenzung war nicht unbedingt üblich, aber auch nicht allzu ungewöhnlich. Honors verräterische manticoranische Uniform blieb auf diese Weise jedenfalls aus dem Bild. Sie setzte ein Lächeln auf, als die Bereitschaftsanzeige am Aufzeichner neben ihrem rechten Knie aufleuchtete und ein Mann sie aus dem kleinen Bildschirm darunter anblickte.

Wie die meisten Bewohner von Neu-Berlin hatte er hauptsächlich chinesische Vorfahren, und rings um seine Augen erschienen Lachfältchen, als er Honors Erscheinung begutachtete. Er trug die weiße Uniform eines Großadmirals der andermanischen Weltraumflotte, und rechts an seinem runden Hochstehkragen glitzerte eine kleine, vielstrahlige Sonne aus Gold. Als Honor sie sah, hatte sie Mühe, ihr Lächeln aufrechtzuerhalten, denn diese Sonne wurde nur von Menschen getragen, die in der direkten Thronfolge der kaiserlichen Linie standen.

»Guten Morgen, Frau Kapitän.« Die Amtssprache des Andermanischen Reiches war Deutsch. »Ich bin Chien-lu Herzog Anderman von Ravenheim«, fuhr der Großadmiral in leicht gutturalem Standardenglisch fort, »und im Namen meines Cousins, Seiner Majestät des Kaisers, heiße ich Sie im Neu-Berlin-System willkommen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Sir«, antwortete Honor vorsichtig und versuchte sich irgendeinen plausiblen Grund vorzustellen, weshalb ein Angehöriger des andermanischen Hochadels den Kapitän eines Frachters persönlich begrüßen sollte. Ihr fiel keiner ein, und trotzdem besaß Ravenheim offenkundig einen Anlaß. Da Honor das Reichsgebiet mit einem bewaffneten Schiff durchquerte, ohne daß jemand sich die Mühe gemacht hatte, das Kaiserreich davon in Kenntnis zu setzen, mußte sie nun mit allem, was sie sagte, sehr, sehr vorsichtig sein.

»Nun, ich glaube, Sie können den Aufzeichner ruhig auf normal stellen, Lady Harrington«, brummte der Großadmiral, und Honor kniff die Augen zusammen. »Kann schließlich kaum bequem sein, die ganze Zeit so still zu sitzen, nur damit ich Ihre Uniform nicht sehe, Mylady«, fügte er fast entschuldigend hinzu. Honor spürte, wie sich ihr Mund zu einem schiefen Lächeln verzog.

»Wohl nicht«, pflichtete sie ihm bei, nickte Cousins zu und lehnte sich zurück.

»Danke«, sagte von Ravenheim.

»Gern geschehen, Hoheit«, antwortete Honor, entschlossen, ihm an Weltgewandtheit in nichts nachzustehen, und er lächelte. »Ich muß zugeben«, fuhr Honor fort, »daß Sie mir ein wenig im Vorteil zu sein scheinen, Sir.«

»Ich bitte Sie, Mylady. Wie Sie wohl wissen, haben auch wir nicht nur einen Nachrichtendienst. Unser Ruf als schändliche Militaristen wäre bald dahin, führten wir nicht genau Buch über jeden einzelnen, der unser Territorium durchquert. Ich fürchte, auf Ihrer Seite war der eine oder die andere ein wenig zu redselig, was Ihr Geschwader und seine Aufgabe betrifft. Vielleicht wollen Sie Admiral Givens darauf aufmerksam machen.«

»Oh, das will ich, Sir. Das will ich ganz bestimmt«, versicherte Honor ihm, und er lächelte wieder.

»Weswegen mein Cousin mich gebeten hat, Sie zu kontaktieren: Ich soll Ihnen versichern, daß das Anderman-Reich keinerlei Einwände gegen Ihren Aufenthalt in unserem Raumgebiet hat und daß wir für Ihre Besorgnis bezüglich Silesia vollstes Verständnis besitzen. Seine Majestät würde es jedoch als persönliche Gefälligkeit betrachten, wenn Admiral Caparelli so freundlich wäre, uns bei der nächsten Reise eines Q-Schiffs vorab zu informieren. Wir verstehen selbstverständlich, daß Sie Ihren Einsatz vor der Konföderation verbergen möchten, aber es ist doch ein wenig grob, auch uns im Dunkeln lassen zu wollen.«

»Ja, das verstehe ich, Mylord. Bitte richten Sie Seiner Majestät meine Entschuldigung für dieses … Versäumnis aus.«

»Das ist nicht erforderlich, Mylady. Seine Majestät verstehen vollkommen, daß das Versäumnis nicht Ihr Verschulden, sondern das Ihrer Vorgesetzten war.« Der Admiral schien an dem Gespräch großes Vergnügen zu finden, aber was er ihr versicherte, klang völlig aufrichtig, so daß Honor nickte. »Ungeachtet dessen wäre es mir eine Ehre, wenn Sie so freundlich wären, mit mir an Bord meines Flaggschiffs zu dinieren. Ich fürchte, daß Ihr Ruf Ihnen vorauseilt, und meine Offiziere und mein Stab würden Sie liebend gern kennenlernen. Außerdem hat mich der Kaiser instruiert, Ihnen offiziell logistische Unterstützung durch die Flotte anzubieten. Mein Nachrichtenoffizier würde Ihnen zudem gern unsere neusten Erkenntnisse und Prognosen über Lage und Entwicklung in der Konföderation mitteilen.«

»Aber … vielen Dank, Mylord – sowohl von mir als auch im Namen meiner Königin.« Honor versuchte ihr Erstaunen zu verbergen, aber sie wußte, daß ihr das nicht gelang, und Ravenheim schüttelte höflich den Kopf.

»Mylady«, sagte er, und nun klang seine Stimme sonorer und weitaus ernsthafter, »das Reich und das Sternenkönigreich haben Frieden, und wir kennen die Höhe Ihrer Verluste. Piraterie ist der Feind aller zivilisierten Sternennationen, und wir bieten Ihnen gern jede Hilfe an, die wir leisten können.«

»Vielen Dank«, wiederholte sie, und er schmunzelte gleichmütig.

»Wäre Ihnen achtzehn Uhr dreißig angenehm?« fragte er.

Honor blickte auf das Chronometer, das auf Ortszeit kalibriert war, und nickte.

»Jawohl, Sir. Das würde mir passen. Da wäre noch eins, Mylord.«

»Ja, bitte?«

»Zwar weiß ich nun, daß unser Sicherheitsschirm so dicht ist wie ein Sieb, zumindest was die Nachforschungen des Reiches betrifft, aber ich wäre sehr dankbar, wenn wir es vermeiden können, anderen weitere Tips zu geben.«

»Natürlich, Mylady. Ihr Konvoi wird drei Tage lang im System bleiben. Wenn Sie eine Pinasse zur Alpha-Station nehmen, wird eine meiner Pinassen Sie aufnehmen und zu mir an Bord der Derfflinger bringen. Ich habe mir die Freiheit genommen, Ihnen bereits einen Liegeplatz im zivilen VIP-Hangar Alpha Sieben Eins Null zu reservieren, und der Abschirmdienst der Station wird darauf achten, daß die Galerie unbesetzt ist, wenn Sie andocken.«

»Ich danke Ihnen erneut, Mylord. Das ist sehr aufmerksam von Ihnen.« Honors trockener Tonfall verkündete, daß sie sich geschlagen gab. Ravenheim hatte nicht nur gewußt, daß sie kommen würde, sondern sogar ihre Bitte um Anonymität vorausgeahnt. Vielleicht ist es ganz gut, daß wir Frieden haben mit den Andermanern, dachte sie. Gott helfe uns, wenn die Havies uns jemals ähnlich kalt erwischen! Wenigstens verhielt sich der Großadmiral dabei, wie man es von einem Gentleman erwarten durfte.

»Keine Ursache, Mylady. Ich freue mich, Sie um achtzehn Uhr dreißig begrüßen zu dürfen«, sagte von Ravenheim mit einem weiteren charmanten Lächeln und schaltete ab.

 

Honor Harrington 6. Ehre unter Feinden
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