38
Bürgerin Captain Marie Stellingetti fluchte laut, als ein weiterer Laser-Gefechtskopf in den Seitenschild ihres Schlachtkreuzers einschlug und neuer Schadensalarm schrillte. Neun Treffer hatte die Kerebin schon hinnehmen müssen, und obwohl keiner davon kritisch war, bedeutete jeder einzelne ein ernstes Problem, denn die Reparaturtender des Kampfverbands würden Wochen, wenn nicht gar Monate benötigen, um ohne Werftunterstützung die Schäden zu beheben.
»Jetzt ändert sie wieder den Kurs, Skipper«, meldete der Taktische Offizier angespannt. »Ich weiß nicht … Himmel!« Der rotierende manticoranische Zerstörer stieß eine weitere Doppelbreitseite aus, und wenigstens die Hälfte der heranrasenden Raketen trugen keine Gefechtsköpfe, sondern Störsender und Durchdringungshilfen. Mit der Nahbereichsabwehr der Kerebin spielten die elektronischen Teufel Katz und Maus. Noch ein weiterer Laserstrahl fraß sich in den Schiffsrumpf, und wieder fluchte Stellingetti.
»Graser Neun ausgefallen!« meldete der Leitende Ingenieur aus dem Technischen Leitstand. »Schwerverletzte und Tote in der Lafette, Bürgerin Captain.« Er schwieg, dann fügte er hinzu: »Untergeordnete Schäden in Seitenschild-Generatoren Fünfzehn und Siebzehn. Möglicherweise verlieren wir Siebzehn ganz.«
»Dieser Hurensohn ist gut, Skipper«, meinte der Taktische Offizier.
»Ja, und ich bin’s selber schuld – was muß ich mit ihm so rumpfuschen!« fauchte Stellingetti. Dieses Geständnis konnte sie nur deshalb offen ablegen, weil Volkskommissar Reidel – nach Stellingettis wohlerwogener Meinung ein ausgemachtes Arschloch – sich zu einer Konferenz mit Bürger Commodore Jürgens an Bord der Achmed befand. Deswegen konnte sie ihr Schiff ausnahmsweise ins Gefecht führen, ohne daß jemand ihre Befehle hinterfragte, und außerdem konnte sie ihren Offizieren gegenüber ehrlich sein.
Bürger Commander Edwards an der Taktischen Station grunzte nur, aber sie wußten beide, daß die Kommandantin recht hatte. Ihre schweren Laser-Gefechtsköpfe hatten den feindlichen Zerstörer wenigstens dreimal getroffen, obwohl dessen Nahbereichsabwehr sich als grotesk wirksam erwies. Die sinkende Beschleunigung des kleinen Kriegsschiffs zeigte einen schweren Impellerschaden an. Normalerweise waren bei Raketenduellen die Manticoraner im Vorteil, das wußte Stellingetti genau, hoffte aber trotzdem noch immer, diesen Zerstörer auszuschalten, bevor sie auf Energiewaffenreichweite heran waren, wo ein einziger Glückstreffer katastrophale Auswirkungen haben konnte.
Anscheinend sollte es so nicht kommen. Die Kerebin würde zweifellos gewinnen – sie war um so viel größer und zäher als ihr Gegner, daß ein anderer Ausgang unvorstellbar gewesen wäre –, aber während sie den Manty zerquetschte, schoß dieser ihr große, häßliche Löcher in den Rumpf. Und indessen flohen die Frachter, die der Zerstörer eskortiert hatte, als wäre der Teufel hinter ihnen her. So wird es ihnen wohl auch vorkommen, dachte Stellingetti. Am Ende würde es ihnen nichts helfen – wahrscheinlich nicht –, aber im Augenblick schwärmten sie in alle Richtungen aus, während ihr kleines Geleitschiff ihnen in verzweifeltem, hoffnungslosen Gefecht den Rücken deckte. Hätte es nur ein einzelner Raider auf den Konvoi abgesehen gehabt, wären die Fluchtchancen der Frachter ausgezeichnet gewesen.
Nur war die Kerebin nicht allein. Von Stellingettis Ortungsmeldung herbeigerufen, befanden sich die beiden nächsten Nachbarn bereits im Anmarsch, und gewiß hatten sie das Signal ihrerseits weitergegeben. Die Vorpostenschiffe waren so dünn gesät, daß der nächste Nachbar eine Stunde brauchte, um sich zu nähern, aber der Hyperraum wies hier im Selker-Riß eine außergewöhnlich geringe Partikeldichte auf, so daß eine Stunde den Frachtern nicht genügen würde, um aus der Ortung der Kerebin zu verschwinden, bevor der Schlachtkreuzer Unterstützung erhielt.
Das galt zumindest für drei von ihnen. Das Schiff, das die Operationszentrale zunächst für einen Schlachtkreuzer gehalten hatte, besaß eine gute Chance auf Entkommen. Für einen Frachter legte es eine beachtliche Beschleunigung vor, und Stellingetti fragte sich, um was für ein Schiff es sich dabei wohl handeln mochte. Ganz bestimmt war es kein Kriegsschiff wie ursprünglich angenommen. Kein manticoranischer Schlachtkreuzer würde fliehen und einen einzelnen Zerstörer zurücklassen.
Nein, es mußte ein Handelsschiff sein, und plötzlich kam Stellingetti eine Idee, die ihr einen Schauder über den Rücken jagte. Das Schiff besaß einen militärtauglichen Antrieb und ausgezeichnete Nahbereichsabwehr, und unversehens war Stellingetti darüber erleichtert. Die Vorpostenlinie war unter strenger Emissionsstille mit knapp 40.000 Kps auf Silesia zugetrieben. Andere Schiffe, die sich erfahrungsgemäß im Selker-Riß mit 44.000 Kps gefahrlos bewegen konnten, vermochten die Vorpostenschiffe zu überholen. Als der kleine Konvoi ins Visier der Kerebin gelangte, hatte Stellingetti die erste Breitseite auf den »Schlachtkreuzer« gefeuert, unter der Annahme, dieses Schiff sei ihr gefährlichster Gegner. Die Nahbereichsabwehr des Schiffes hatte trotz des überraschenden Angriffs die havenitischen Vögelchen zum überwiegenden Teil vernichtet, trotzdem hatte Stellingetti mindestens drei Volltreffer erzielt. Ohne Nahbereichs-Abwehrwaffen wäre der »Schlachtkreuzer« in Fetzen gerissen worden, und wenn er sich nun als das entpuppte, was Stellingetti plötzlich befürchtete …
»Also gut, John«, sagte sie finster zu Edwards. »Jetzt wollen wir die Glacehandschuhe ablegen. Schnellfeuer aus allen Rohren.« Soviel Munition verschoß sie nur ungern, denn der Kampfverband war weit von allen Nachschubdepots entfernt, aber wenn sie die Nahbereichs-Abwehrwaffen des Zerstörers nicht überlastete, konnte das Gefecht noch Stunden dauern.
»Aye, Skipper. Schnellfeuer aus allen Rohren.«
»Ruder, gehen Sie auf Zwo Sechs Null, Maximalbeschleunigung. Abstand verringern.«
»Gehen auf Zwo Sechs Null, Maximalbeschleunigung, aye.«
Die Kerebin schwenkte auf ihren unerträglich leistungsfähigen Gegner ein. Stellingetti betrachtete kurz den Plot, dann aktivierte sie die Direktleitung in die Operationszentrale.
»OZ, Bürger Commander Herrick.«
»Skipper spricht, Jake. Lassen Sie die Emissionssignatur von Ziel Eins mit unseren Daten über die manticoranischen Passagierliner der Atlas-Klasse vergleichen.«
»Pass …« Herrick schnitt sich selbst das Wort ab. »Himmel, Skipper! Wenn das eine Atlas ist, dann kann sie bis zu fünftausend Passagiere an Bord haben, und wir haben sie wenigstens dreimal voll getroffen!«
»Was Sie nicht sagen«, knurrte Stellingetti und beobachtete, wie ihr intensivierter Beschuß auf den Zerstörer einprasselte. Gleichzeitig bohrten sich zwei weitere bombengepumpte Laserstrahlen in Stellingettis Schiff. »Ich melde mich wieder, Jake. Hier oben wird’s ein wenig hektisch.«
Margaret Fuchien schlug ihre Fäuste gegeneinander und blickte von Scham erfüllt auf Annabelle Wards taktisches Display. Die Raketen der Artemis hätten für die Hawkwing den Unterschied zwischen Tod und Überleben bedeuten können – wenn Fuchien Erlaubnis gehabt hätte, sie abzufeuern. Die Befehle, die Commander Usher erteilt hatte, waren jedoch völlig eindeutig gewesen, und der Zerstörerkommandant hatte die Lage richtig beurteilt. Wenn die Artemis auf den Havie feuerte, dann würde dieser mit Sicherheit – und gerechtfertigt – das Feuer eröffnen. Die Armierung des ungepanzerten Liners war darauf ausgelegt, gegen Piraten zu kämpfen, deren Schiffe maximal Kreuzergröße besaßen. Nicht im entferntesten hatte jemand die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß die Artemis einmal gegen einen havenitischen Schlachtkreuzer kämpfen sollte. Selbst wenn die Artemis und die Hawkwing vereint das Gefecht gewannen, würde der Liner dabei zu Schrott geschossen werden. Fast dreitausend Passagiere waren an Bord. Fuchien konnte diese Menschen nicht in Gefahr bringen, indem sie der Hawkwing zu helfen versuchte, und deshalb lief die Artemis mit Höchstbeschleunigung davon, während der Zerstörer sich opferte, um ihr bei der Flucht den Rücken zu decken.
Fuchiens Ohrhörer summte: eine Vorrangmeldung. Sie nahm die Nachricht entgegen, und die rauhe Stimme ihres Leitenden Ingenieurs fraß sich in ihr Ohr.
»Wir sind zur Hyperzentrale durchgestoßen, Skipper«, knurrte er. »Ein einziges Chaos hier unten. Die Hälfte der Leistungskabel sind durchtrennt; wir haben Druckverlust und vierzehn Tote.«
Gequält schloß Fuchien die Augen. Die erste havenitische Breitseite hatte sie alle überrascht. Fuchien konnte sich nicht erklären, weshalb ein feindlicher Schlachtkreuzer völlig emissionsstill mitten im Riß trieb, aber offenbar hatte sich das Warten für die Mistkerle gelohnt. Weil Impeller und aktive Ortungsgeräte des Schlachtkreuzers abgeschaltet waren, warnte keine Emission die Hawkwing – oder die Artemis – vor der ersten Breitseite. Anscheinend hatten die Havies die Artemis irrtümlich für einen anderen Schlachtkreuzer gehalten. Nur deswegen war die Hawkwing nicht sogleich vernichtet worden. Ward hatte eine unglaubliche Leistung vollbracht, indem sie fünfundsiebzig Prozent des Beschusses abwehrte, aber die fünf bombengepumpten Laserstrahlen, die schließlich doch noch durchgekommen waren, hatten fürchterliche Schäden verursacht. Zum Glück war kein einziger Passagier ums Leben gekommen, aber dreißig Crewangehörige hatte ihr Schicksal ereilt. Dazu waren drei Beta-Emitter und zwei große Rettungsboote verlorengegangen. Einer der Treffer war bis in die Hyperzentrale vorgedrungen.
»Was ist mit dem Generator?« fragte Fuchien eilig; über ihren Tod wollte sie nicht nachsinnen.
»Sieht nicht gut aus«, antwortete Commander Cheney matt. »Wir haben beide Oberphasenregler verloren; die Molycircs sind durchgebrannt, als es die Leistungskabel erwischt hat. Das System ist im Grunde intakt, aber wenn wir versuchen, höher zu gehen als in die Delta-Bänder, dann zerfetzen uns die Oberschwingungen.«
»Verdammt«, flüsterte Fuchien. Sie öffnete die Augen und starrte erneut in Wards Plot. Der havenitische Schlachtkreuzer stürzte sich mit Maximalbeschleunigung auf den Zerstörer, und die Hawkwing war zu angeschlagen, um den Abstand halten zu können. Vielleicht hielt die Hawkwing noch eine Viertelstunde durch; jede weitere Minute erforderte dann ihr eigenes kleines Wunder. Sobald Ushers Schiff vernichtet war, würden die Havies die Artemis verfolgen, und nur auf die Delta-Bänder beschränkt könnte sie dem Schlachtkreuzer niemals entkommen. Was die Geschwindigkeit anging, so vermochte der Liner durchaus mit dem Kriegsschiff Schritt zu halten, doch nun war sie in den Delta-Bändern gefangen, und das bedeutete das Ende. Anders als die Artemis konnte das havenitische Schiff in die schnelleren Epsilon- oder gar Zeta-Bänder transitieren, den Liner mühelos einholen und gleich in seiner Nähe in die Delta-Bänder zurückkehren.
Captain Fuchien nahm den Blick vom Plot, als sich weitere Raketen dem Zerstörer achteraus näherten. Sie durfte nun nicht an Usher und seine Leute denken, sie mußte ihre Passagiere und ihr Schiff retten, damit das Opfer der Hawkwing wenigstens einen Sinn hatte – aber wie …
»Ruder, gehen Sie auf Maximalschub«, befahl Fuchien und spürte, wie ihre Offiziere trotz der verzweifelten Lage zusammenzuckten. Der Antrieb der Artemis war seit den Testfahrten nicht mehr mit Maximalschub gelaufen. Bei Maximalschub gab es keine Sicherheitsreserven mehr in bezug auf Kompensatorschwankungen, und wenn der Kompensator versagte, dann starb jeder einzelne an Bord der Artemis, einschließlich der Passagiere. Aber …
»Aye, aye, Skipper. Gehen auf Maximalschub.«
Fuchien hielt den Atem an, als der Rudergänger die Impeller bis in den roten Bereich belastete, aber die Artemis übernahm die Last mit Selbstverständlichkeit. Fuchien konnte förmlich spüren, wie ihr elegantes Schiff sich anspannte und jede Sehne dehnte, um der rücksichtslosen Belastung standzuhalten, und ihr war zum Heulen zumute, denn sie wußte, daß selbst diese Kraftanstrengung nicht ausreichen würde. Dennoch war es die einzige Chance. Sie konnte nicht in die höheren Bänder aufsteigen, um den Havies zu entkommen, aber wenn die Artemis genügend Abstand zwischen sich und die Ortungsgeräte des Verfolgers legte, welcher nach wie vor von der Hawkwing gebunden wurde, dann konnte Fuchien das Schiff möglicherweise weit genug absenken. Wenn sie es mehrere Bänder fallen ließ – oder sogar ganz in den Normalraum zurückfiel –, sodann den Antrieb und alle aktiven Emissionen abschaltete, dann konnte sie dem Feind vielleicht doch noch entkommen.
Vielleicht.
»Die Hawkwing verliert die Vorschiff-Impeller!« stöhnte jemand. Fuchien biß die Zähne zusammen und überlegte krampfhaft, ob sie noch etwas – irgend etwas – unternehmen konnte.
»Skipper, ich habe da noch einen Bogey«, meldete Ward, und Fuchien riß sich zusammen.
»Noch mehr Havies?« fragte sie rauh.
»Das glaube ich nicht …« sagte Ward rätselnd und schüttelte den Kopf. »Das ist überhaupt kein Kriegsschiff, Skipper, das ist ein Frachter.«
»Ein Frachter? Wo?« Kaum hatte Ward den Bogey in ihrem Plot markiert, riß Fuchien die Augen auf. In der Tat war es ein Frachter, der sich von Steuerbord direkt der Artemis näherte. Seine Aufschließgeschwindigkeit betrug bereits über dreißigtausend Kilometer pro Sekunde, und er beschleunigte mit ganzen zweihundert Gravos. Das war doch Irrsinn! Auf diese geringe Entfernung mußten doch selbst zivile Sensoren die Detonationen der Laser-Gefechtsköpfe erfassen, und jeder geistig gesunde Frachterskipper sollte mit seinem Schiff in die entgegengesetzte Richtung fliehen, so schnell er nur konnte!
»Com, warnen Sie sie; sie soll abdrehen!« befahl Fuchien. Schließlich wollte sie den Haveniten nicht ein weiteres Schiff in die Hände spielen. Der unbekannte Frachter war noch Lichtminuten entfernt, und Fuchien kümmerte sich lieber wieder um die Rettung ihres eigenen Schiffes, anstatt die Signalverzögerung abzuwarten. Erneut rief sie Cheney im Maschinenraum an.
»Sid, wie lange dauert es bestenfalls, bis Sie den Schaden repariert haben?«
»Repariert?« Cheney lachte bitter auf. »Das können Sie vergessen. Dazu haben wir nicht die nötigen Ersatzteile. Ein voll ausgerüsteter Reparaturtender brauchte eine Woche, allein um alle Schäden festzustellen.«
»Also gut. Sie sagen, wir haben nur Schwierigkeiten mit den Oberphasenreglern?«
»Ich glaube, daß das alles ist«, verbesserte Cheney sie. »Das und die Leistungskabel. Momentan sind wir noch dabei, die Trümmer beiseite zu räumen, und wir arbeiten in Raumanzügen …« Fuchien sah beinahe, wie der LI mit den Schultern zuckte.
»Ich muß Ihre ehrliche Meinung hören, Sid. Wenn wir schon nicht in die höheren Bänder kommen, möchte ich wissen, ob der Generator eine Gewalttransition durchhält.«
»Eine Gewalttransition?« Cheney klang sehr unsicher. »Skip, ich kann Ihnen nicht einmal garantieren, daß sie das bei den Schäden, die wir bereits festgestellt haben, durchhält, und wer weiß, was wir noch finden. Der Energieschlag durch die Leitsysteme ist heftig gewesen, und wenn irgend etwas nicht hundertprozentig verläuft, dann sind wir alle tot.«
»Wenn wir es unversucht lassen, sterben wir wahrscheinlich ebenso«, entgegnete Fuchien ungerührt. »Sagen Sie mir soviel wie möglich so rasch wie möglich.«
»Jawohl, Ma’am.«
»O Gott«, sagte Annabelle Ward im Gebetston, und Fuchien blickte gerade rechtzeitig auf, um HMS Hawkwing mit entsetzlicher Übergangslosigkeit vom Display verschwinden zu sehen. Einen langen, schrecklichen Moment starrte sie auf den leeren Punkt im Plot, dann leckte sie sich die Lippen.
»Würden wir auf die Entfernung die Rettungskapsel-Transponder auffangen, Anna?« fragte sie sehr leise.
»Nein, Ma’am«, antwortete der Taktische Offizier ebenso leise. »Ich bezweifle, daß es Überlebende gibt. Die Hawkwing ist so schnell vom Display verschwunden, und ich fange einen sehr heftigen Energieanstieg auf. Ich fürchte, ihr Fusionsreaktor ist hochgegangen, Skipper.«
»Möge Gott ihren Seelen gnädig sein«, flüsterte Margaret Fuchien. Und jetzt kommen wir an die Reihe, schoß es ihr durch den Sinn. »Also gut, Anna. Geben Sie Ihr Bestes mit den Nahbereichs-Abwehrwaffen, falls die Havies nahe genug herankommen, um auf uns zu feuern, aber schießen Sie um Gotteswillen nicht zurück!«
»Skipper, ich kann einen Schlachtkreuzer nicht daran hindern, uns in Stücke zu schießen. Gegen die Jagdwerfer haben wir vielleicht noch eine Chance, aber mehr als ein halbes Dutzend Breitseiten überstehen wir nicht.«
»Das weiß ich. Andererseits beschleunigt unser Freund nicht viel höher als wir. Er braucht fast eine Stunde, bis er uns einholt – soviel Zeit hat die Hawkwing uns erkauft –, und wenn Sid mir grünes Licht gibt, machen wir eine Gewalttransition in die Beta-Bänder. Ein paar Salven aus der Jagdbewaffnung können wir notfalls in Kauf nehmen, aber hoffentlich kann Sid uns bald sagen, ob wir es riskieren können oder nicht.«
»Also gut, Skipper. Ich tue, was ich kann.« Ward hämmerte Befehle in ihre Tastatur, warf zuerst Täuschkörper aus und dann drei Eloka-Drohnen. Jede Drohne war programmiert, die gleiche Signatur auszustrahlen wie die beschädigten Impeller der Artemis, und Ward schickte sie auf weit voneinander divergierende Kurse davon. Allzu lange reichen würde ihr Energievorrat nicht, doch vielleicht erkaufte die Verzögerung dem Maschinenraum ein paar wertvolle Minuten – denn der Feind mußte nun herausfinden, welches der Echos von der Artemis stammte.
»Skipper, der Frachter kommt noch immer näher«, meldete Ward. Sie nahm eine schwache Sendung auf und verstärkte sie mit Hilfe der Computer. »Das ist ein Andermaner, Skipper«, sagte sie kopfschüttelnd.
»Wo sind wir denn hier – an einem Wurmlochknoten?« knurrte Stellingetti und starrte fassungslos auf ihr Wiederholdisplay. Die geringe Größe dieses Plots ließ die Schiffe dichter beisammen erscheinen, als sie in Wirklichkeit waren, und zornig blickte sie auf den Bogey, der sich ihrer fliehenden Beute näherte. Der Plot wurde durch die manticoranischen Eloka-Drohnen noch verwirrender, aber die Kerebin war dicht genug gewesen, um den Start der Drohnen zu beobachten, und die Operationszentrale hatte sie verfolgen können, bis sie sich aktivierten. Die falschen Ziele zu kennen gestattete Stellingetti, sich auf die wahre Beute zu konzentrieren, und der Schlachtkreuzer raste der Artemis hinterher. Durch Gefechtsschäden war die Beschleunigung der Kerebin um fünf Prozent verringert, aber sie konnte noch immer höher beschleunigen als der Manticoraner.
»Wer nähert sich von achtern?«
»Vorneweg vermutlich die Durandel, Skipper«, antwortete Edwards. »Der Kurs stimmt, und ihre Beschleunigung ist für einen Schlachtkreuzer zu hoch. Achteraus folgt ihr die Achmed.«
»Ist die Durandel schon auf Rufweite?«
»Unter diesen Bedingungen ganz knapp«, sagte der Signaloffizier.
»Befehlen Sie ihr abzubremsen und unsere SAR-Pinassen aufzunehmen.«
»Aye, Bürgerin Captain.«
Stellingetti erwartete nicht, daß ihre Beiboote besonders viele Manticoraner fänden, aber immerhin hatten vor der Explosion etliche Rettungskapseln den Zerstörer verlassen. Diese Manticoraner waren keine Feinde mehr, sondern eine Handvoll Menschen in Raumnot, verloren inmitten unvorstellbarer Weiten. Wenn man sie jetzt nicht aufnahm, würden sie niemals gefunden werden, und Marie Stellingetti weigerte sich schlichtweg, irgend jemanden diesem Tod zu überantworten.
»Wer zum Teufel ist dieser Neue, John?«
»Nach der Impellerstärke zu urteilen noch ein Frachter«, antwortete Edwards, »und ich empfange einen andermanischen Transpondercode.«
»Ein Andy?« Stellingetti schüttelte den Kopf. »Na prima. Einfach prima! Warum sollte denn wohl ein Andy einen Vektorenangleich zu einem manticoranischen Frachter durchführen, dem ein Schlachtkreuzer auf den Fersen ist?«
»Das weiß ich nicht, Skip.« Der Taktische Offizier gab einige Anfragen in seine Systeme und schüttelte den Kopf. »Ein Rennen Kopf an Kopf. Wer immer dieses Schiff steuert, ist verdammt gut und geht einige heftige Risiken ein mit seinem zivilen Antrieb. Ziel Eins hat die höhere Beschleunigung, aber der Andermaner hat den besseren Winkel. Sieht ganz danach aus, als hätten sie ihren Vektorenangleich genau dann, wenn wir auf äußerste Raketenentfernung heran sind.«
»Verdammt!« Die havenitische Kommandantin kaute an ihrem Daumennagel und wünschte sich zum erstenmal, Kommissar Reidel wäre an Bord. Zwar sah es Stellingetti nicht ähnlich, sich der Verantwortung zu entziehen, aber wenn das Komitee für Öffentliche Sicherheit ihr schon einen verdammten Spion auf den Hals hetzte, dann sollte dieser Hurensohn sich wenigstens nützlich machen, indem er ihr sagte, wie sie aus diesem Chaos herausfand! Ihre Order verlangten von ihr, ›mit allen notwendigen Mitteln‹ jedes manticoranische Schiff am Entkommen zu hindern, wenn es die Präsenz des Kampfverbands bemerkt hatte. Als Bürger Admiral Giscard und Volkskommissarin Pritchart diesen Befehl verfaßten, hatten sie offensichtlich nicht an Passagierliner gedacht. Stellingetti würde niemals damit leben können, mehrere tausend Zivilisten auf dem Gewissen zu haben, und doch ließen die Order ihr keine andere Wahl. Wenn der Liner nicht stoppte, mußte sie ihn vernichten, und schon bei dem Gedanken krümmte sie sich innerlich zusammen. Ohne Zweifel würde das Amt für Öffentliche Information behaupten, daß der Liner bewaffnet gewesen sei – was er zweifellos war –, und daß seine Bewaffnung und die Weigerung zu stoppen ihn zum rechtmäßigen Ziel gemacht habe. Das Amt für Öffentliche Information besaß viel Erfahrung darin, dem Opfer die Schuld am eigenen Schicksal zuzuschieben. Stellingetti hingegen würde jeden Tag im Spiegel ihr eigenes Gesicht betrachten müssen.
Und was hatte dieser verdammte Andermaner vor? Die Order verlangten von Stellingetti ausdrücklich, sich von Andermanern fernzuhalten, ja, ihnen sogar gegen andere Raider beizustehen. Aber wenn dieser Frachter sich weiterhin einmischte, würde er aus nächster Nähe beobachten können, wie die Kerebin den Passagierliner in Stücke schoß. Was sollte Stellingetti dann tun? Den Andermaner ebenfalls vernichten, um alle Zeugen zu beseitigen, deren Aussagen die Version des Amts für Öffentliche Information über den Zwischenfall unglaubwürdig machen konnten?
»Com, warnen Sie den Andy, Abstand zu halten! Das Schiff soll sich von dem Manticoraner fernhalten, sonst kann ich für die Konsequenzen nicht verantwortlich gemacht werden.«
»Aye, Skipper.«
»Vergessen Sie die Idee mit der Gewalttransition, Skipper«, sagte Sid Cheney müde. »Wir haben zwo beschädigte Abschnitte in den primären Datenleitungen gefunden, der Hauptcomputer ist gegrillt, das Ersatzsystem von Überschlag angekratzt. Wenn Sie damit eine Gewalttransition machen, haben Sie eine Chance von bestenfalls sieben zu drei, daß entweder der Ersatzcomputer oder die Kontrolleitungen auf halbem Wege durchbrennen.«
»Wie lange brauchen Sie, um die beschädigten Teile der Kontrolleitungen zu ersetzen?« wollte Fuchien wissen.
»Selbst wenn ich sie ersetzen lasse, müssen wir uns immer noch Sorgen um diesen Computerschaden machen.«
»Das weiß ich.« Fuchien griff nach Strohhalmen, denn Strohhalme waren das einzige, was ihr noch geblieben war. »Aber wenn wir wenigstens einen Teil der Unsicherheit eliminieren können …«
»Meine Leute sind schon dabei, aber wenn wir’s nach Vorschrift machen, brauchen wir zwölf Stunden. Wir nehmen jede mögliche Abkürzung, wahrscheinlich schaffen wir’s deshalb in sechs, aber das reicht nicht, stimmt’s?«
»Nein, Sid«, antwortete Margaret Fuchien leise.
»Tut mir leid, Maggie«, sagte der Ingenieur noch leiser. »Ich gebe mir alle Mühe.«
»Ich weiß.«
Fuchien zwang sich zu einer aufrechten Haltung und holte tief Luft. Wards Drohnen hatten den Verfolger nicht täuschen können. Noch achtzehn Minuten, dann wäre der Schlachtkreuzer auf Raketenreichweite. Mit unzuverlässigem, unberechenbarem Hypergenerator würde die Artemis auf keinen Fall rasch genug tiefer transitieren können, um die Ortung des Haveniten abzuschütteln.
Wieder blickte sie auf Wards Plot und runzelte die Stirn. Der Andermaner schloß rasch zur Artemis auf; bei seinem Annäherungswinkel würde der Vektorenangleich in weniger als fünfzehn Minuten erfolgen. Lange würde er nicht mit dem Liner Schritt halten können; trotz der beschädigten Beta-Emitter lief die Artemis jedem Frachter davon, aber in dem Moment, in dem sich ihre Kursvektoren schnitten, hätten sie beinahe die gleichen Geschwindigkeiten. Fuchien konnte nicht anders, sie mußte die Schiffsführung des andermanischen Skippers bewundern, aber selbst wenn ihr Leben davon abgehangen hätte, wäre sie nicht imstande gewesen zu erraten, welchen Grund er für dieses Manöver haben sollte.
»Schon ein Anruf der Havies?« fragte sie den Signal-offizier.
»Nein. – Ma’am.«
Die Antwort klang so angespannt, wie Fuchien sich fühlte. Sie lächelte gezwungen und schritt bedächtig das Kommandodeck ab. Da blieb einem doch kaum eine Wahl. Wenn der Schlachtkreuzer in Raketenreichweite kam, würde sie beidrehen und sich ergeben. Alles andere wäre der reinste Irrsinn.
»Skipper!« Das war der Signaloffizier. »Wir werden vom Andy angerufen!«
»Nun, jetzt haben sie ein Rendezvous ausgeführt«, stellte Edwards fest. »Und was kommt jetzt?«
»Das weiß ich nicht. Hat der Andermaner auf unsere Warnung reagiert?«
»Nein, Skipper«, antwortete der Signaloffizier. »Kein Wort.«
»Was zum Teufel wird da gespielt?« fragte Stellingetti zornig. Sie schob sich im Kommandosessel zurück und funkelte den Plot an. Was immer der Andermaner letztendlich plante, er hatte der Kerebin soeben den Angriff vermasselt. Der Andermaner befand sich viel zu dicht bei dem manticoranischen Schiff. Bei diesem Abstand würden Edwards’ Raketen den Manticoraner und den Andermaner anvisieren, und das wußte der manticoranische Skipper genau. Er hatte seine Beschleunigung verringert und an die des Andermaners angepaßt, lief knapp vor dem Frachter her und benutzte ihn als Schild. Stellingetti fletschte die Zähne.
»Den Andies wird es kaum gefallen, wenn wir so dicht am Reich Handelskrieg führen, Skipper«, sagte Edwards leise. »Glauben Sie, dieser Witzbold will uns warnen?«
»Wenn ja, steht ihm aber eine häßliche Überraschung bevor«, zürnte Stellingetti.
Der Schlachtkreuzer raste weiterhin auf die beiden zivilen Schiffe zu und zehrte die Distanz auf. Weit achtern von ihm startete der Kreuzer Durandel weitere Pinassen, um die Beiboote der Kerebin bei der SAR zu unterstützen. Sie hatten schon über achtzig Überlebende der Hawkwing aufgenommen, eine erstaunlich hohe Zahl, die Bände sprach über die Entschlossenheit der Rettungsmannschaften. Durch seine Rettungsaktion hatte der Kreuzer die Jagd natürlich aufgeben müssen. Der Schlachtkreuzer Achmed hingegen hatte die Durandel schon vor vierzig Minuten überholt, und seine Geschwindigkeit vergrößerte sich beständig. Er hatte noch immer eine gute Chance, die Kerebin und die Artemis einzuholen.
Andere Schiffe der Volksflotte näherten sich ebenfalls. Eins davon hatte bereits den manticoranischen Frachter Voyager aufgespürt und schloß zu ihm auf, während ein anderes RMMS Palimpsest verfolgte. Die Lage war recht verworren, aber die havenitischen Kriegsschiffe behielten den Überblick, und die Entfernung zwischen der Kerebin und der Artemis nahm am schnellsten ab.
»Nähern uns auf achthunderttausend Kilometer«, meldete Edwards, was Stellingetti ein Grunzen entlockte. Noch anderthalb Lichtsekunden, und sie könnte den Manticoraner mit Energiewaffen unter Beschuß nehmen. Davor würde auch die Einmischung des Andermaners den Liner nicht bewahren, und wenn der manticoranische Kapitän begriff, daß er keine Chance auf Entkommen hatte, würde er schon …
»Raketenspur!« rief Edwards überrascht, und Marie Stellingetti erhob sich ungläubig halb vom Kommandosessel. Das ist doch nicht möglich! Diese gewaltige Salve konnte nicht von dem Manticoraner stammen, sonst hätte er den Zerstörer niemals allein gelassen! Nicht mit dieser Kampfkraft! Die Raketen mußten von dem Andy stammen, aber wie …
»Nach Backbord abdrehen!« rief sie. »Feuer auf den Andermaner!«
Die Kerebin schwang sich heftig nach links und rollte sich gleichzeitig auf die Seite, um ihren Impellerkeil zwischen sich und die heranrasende Vernichtung zu schieben, aber es gab keine Rettung – nicht vor so vielen Raketen. Eine einzige Breitseite vermochte sie noch zu feuern, bevor ihre Ausweichmanöver ihre Werfer vom Ziel abwandten, aber niemand an Bord sollte erleben, was diese Breitseite bewirkte – wenn sie denn etwas ausrichtete. Die Raketen, die sich dem Schlachtkreuzer näherten, würden zwanzig Sekunden, bevor die seinen den Andermaner erreichten, eintreffen; sie schwärmten aus, um den Schlachtkreuzer zu umschließen, und die Kerebin konnte ihnen nicht entkommen. ECM versuchte die Vögelchen zu verwirren, Antiraketen starteten, Lasercluster visierten die Gefechtsköpfe an und feuerten verzweifelt, und fast einhundert Raketen verloren ihr Ziel oder verschwanden in den Glutbällen erfolgreicher Abschüsse. Fünfhundert weitere kamen jedoch näher, und als sie die Angriffsposition erreichten und detonierten, hüllten ihre Röntgenlaser die Kerebin ein wie Drachenatem.
Nicht alle erreichten sie gleichzeitig Angriffsposition, sondern kamen nacheinander, und es dauerte fast neun Sekunden, bis sie alle detoniert waren. Die letzten waren verschwendet: Fünf Sekunden nach der ersten Detonation eines Laser-Gefechtskopfs verwandelten sich VFS Kerebin und jeder Mann und jede Frau an Bord in eine expandierende Feuerwolke aus Plasma.