72 – KING STREET, LONDON
72
KING STREET, LONDON
Sie hatte keine protzige Eröffnung geplant, aber durch unerwartete Hilfe aus dem Hintergrund oder vielleicht ein Wunder gab es doch einen Plan. Tatsächlich war die Sonne an diesem zweiten Samstag im November kaum untergegangen, als die Kunstwelt samt allen Mitläufern durch ihre Tür zu strömen begann. Es kamen Händler und Künstler und Sammler und Kuratoren und Kritiker. Und es kamen Schauspieler und Regisseure, Schriftsteller, Bühnenautoren, Dichter, Politiker. Popstars, ein Marquis, der eben von seiner Jacht zu kommen schien, und mehr Models, als irgendjemand zählen konnte. Oliver Dimbleby drückte jedem weiblichen Wesen, das sich länger als drei Sekunden in seiner Nähe aufhielt, seine vergoldete Geschäftskarte in die Hand. Jeremy Crabbe, Londons letzter treuer Ehemann, beobachtete ihn sprachlos. Nur Julian Isherwood schaffte es, sich manierlich zu benehmen. Er bezog neben Amelia March von ARTnews Posten am Ende der eigens aufgebauten langen Bar. Amelia beobachtete missbilligend, wie Olivia Watson, von zwei Bodyguards beschützt, vor ihrem Pollock für Fotos posierte.
»Sie ist zuletzt recht gut davongekommen, findest du nicht auch?«
»Wie meinst du das?«, fragte Isherwood.
»Lässt sich mit dem größten französischen Drogendealer ein, verdient Millionen mit einer zweifelhaften Galerie in Saint-Tropez und etabliert sich jetzt, von dir und Oliver und den übrigen Alte-Meister-Fossilen umgeben, in St. James’s.«
»Und wir sind ihr dafür aufrichtig dankbar«, sagte Isherwood, während er beobachtete, wie eine graziöse Schönheit an ihm vorbeischwebte.
»Du findest das nicht merkwürdig?«
»Im Gegensatz zu dir, Schätzchen, liebe ich Happy Ends.«
»Mir ist’s lieber, wenn sie eine Prise Wahrheit enthalten. Irgendetwas an dieser Sache stimmt nicht. Und verlass dich darauf, dass ich ihr auf den Grund gehe!«
»Lass dir lieber einen Drink geben. Oder noch besser«, sagte Isherwood, »geh mit mir zum Abendessen.«
»Oh, Julian.« Sie zeigte über die Köpfe der Menge hinweg auf einen großen, blassen Mann, der in Olivias Nähe stand. »Da ist dein alter Klient Dmitri Antonow.«
»Ah, ja.«
»Ist das seine Frau?«
»Sophie«, sagte Isherwood nickend. »Bezaubernde Frau.«
»Ich habe schon andere Stimmen gehört. Und wer ist das neben ihr?«, fragte sie. »Und der schöne Mann neben ihr, der auch ein Bodyguard sein könnte?«
»Er heißt Peter Marlowe.«
»Was ist er von Beruf?«
»Keine Ahnung.«
Um 20.30 Uhr nahm Olivia sich ein Mikrofon und sprach ein paar Begrüßungsworte. Sie freue sich, ein Teil der großen Londoner Kunstszene zu sein; sie sei glücklich, wieder zu Hause zu sein. Jean-Luc Martel, den heimlichen Helden der Jagd auf den IS-Terrorplaner Saladin, erwähnte sie mit keinem Wort, und keiner der anwesenden Journalisten, auch Amelia March nicht, sprach sie auf JLM an. Endlich war sie frei von ihm. Das hätte ebenso gut auf ihrer Stirn geschrieben sein können.
Punkt neun Uhr wurde die Beleuchtung gedimmt, Musik erklang, und eine weitere Welle von Gästen drängte herein. Viele von ihnen waren Veteranen der wilden Feten in der Villa Soleil. Leute, deren einzige Tätigkeit darin bestand, reich zu sein. Reiche, die üppig Zeit für fast alles hatten. Die Antonows schüttelten einigen der besseren Leute die Hand, bevor sie in ihren Maybach stiegen, um nie wieder gesehen zu werden. Keller ging einige Minuten später, aber zuvor nahm er Olivia beiseite, um sie zu beglückwünschen und ihr eine gute Nacht zu wünschen. Sie war ihm noch nie so schön erschienen wie an diesem Abend.
»Gefällt es dir?«, fragte sie strahlend.
»Was? Die Galerie?«
»Nein. Mein Gemälde auf der leeren Leinwand, die ich deinem Freund verdanke.« Sie zog ihn an sich. »Ich will dich wiedersehen«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Was auch in deinem früheren Leben passiert sein mag … ich verspreche dir, dass ich’s heilen kann.«
Draußen begann es zu regnen. Keller hielt auf der Pall Mall ein Taxi an und ließ sich zu seinem Stadthaus an der Queen’s Gate Terrace fahren. Nachdem er den Taxifahrer bezahlt hatte, blieb er einige Sekunden lang auf der Straße stehen und suchte seine vielen Fenster ab. Sein Instinkt sagte ihm, dass Gefahr drohte. Er setzte sich in Bewegung, schlich zum unteren Eingang hinunter und zog seine Walther PPK hinten aus dem Hosenbund, bevor er die Tür aufsperrte. Dann stürmte er wie ein Wirbelwind in sein eigenes Haus, wie er vor einigen Wochen das Südostzimmer des Hauses in Zaïda gestürmt hatte, und zielte mit seiner Pistole auf den Mann, der ruhig an der Küchentheke saß.
»Scheißkerl«, sagte er und ließ die Waffe sinken. »Das war knapp!«
»Dieser Scheiß muss wirklich aufhören.«
»Dass ich unangemeldet vorbeikomme?«
»Dass du bei mir einbrichst. Was würden Mr. Marlowes feine Nachbarn in Kensington sagen, wenn hier geschossen würde?«
Keller warf seinen Mantel von Crombie auf die Marmorplatte, an der Gabriel, von dezenter indirekter Beleuchtung erhellt, auf einem Barhocker saß. »Du konntest in meinem Kühlschrank nichts Trinkbares finden?«
»Tee wäre nett, danke.«
Keller runzelte die Stirn, dann füllte er den Wasserkocher. »Was hat dich nach London geführt?«
»Eine Besprechung in Vauxhall Cross.«
»Wieso war ich nicht eingeladen?«
»Kenntnis nur wenn nötig.«
»Und worum ging’s?«
»Welchen Teil von ›Kenntnis nur wenn nötig‹ hast du nicht verstanden?«
»Willst du Tee oder nicht?«
»Bei der Besprechung ging’s um bestimmte verdächtige Aktivitäten im Zusammenhang mit dem iranischen Atomprogramm.«
»Was du nicht sagst!«
»Schwer zu glauben, ich weiß.«
»Und was für Aktivitäten sind das?«
»Der Dienst vermutet, dass die Iraner in Nordkorea Waffenforschung betreiben. Der MI6 ist derselben Meinung. Kein Wunder«, fuhr Gabriel fort, »denn wir haben denselben Informanten.«
»Wer ist das?«
»Das erfährst du bald, glaube ich.«
Keller öffnete eine Schranktür. »Darjeeling oder Prince of Wales?«
»Kein Earl Grey?«
»Also Darjeeling.« Keller hängte einen Teebeutel in einen Becher und wartete darauf, dass das Wasser kochte. »Du hast heute Abend eine tolle Party versäumt.«
»Das habe ich gehört.«
»Du warst wohl zu beschäftigt, um zu kommen?«
»Ich wollte mein Gesicht lieber nicht in einem Teil Londons zeigen, in dem es ziemlich bekannt ist. Außerdem habe ich mir große Mühe gegeben, Olivia zu restaurieren. Ich wollte meine Arbeit nicht verderben.«
»Du hast den trüben Firnis abgetragen«, sagte Keller. »Die Fehlstellen ausgebessert.«
»Gewissermaßen.«
»Den Artikel im Telegraph hast du erstklassig hingekriegt. Bis auf einen Punkt«, fügte Keller hinzu.
»Und der wäre?«
»Das heroische Porträt von Jean-Luc Martel.«
»Das war unvermeidbar.«
»Hast du vergessen, dass er Olivia eine Pistole an den Kopf gehalten hat?«
»Ich habe alles gesehen.«
»Sogar aus der ersten Reihe.«
Keller stellte den Tee auf die Granitplatte. Gabriel rührte ihn nicht an.
»Offensichtlich«, sagte er nach kurzer Pause, »trüben deine Gefühle für Olivia dein Urteilsvermögen.«
»Ich hege keine Gefühle für sie.«
»Bitte, Mr. Marlowe. Ich weiß zufällig, dass du das Wormwood Cottage oft besucht hast, solange Olivia dort war.«
»Hat Graham dir das erzählt?«
»Tatsächlich Miss Coventry. Außerdem«, fuhr Gabriel rasch fort, »bin ich darauf aufmerksam gemacht worden, dass es heute Abend bei der Galerieeröffnung zwischen Olivia und dir einen intimen Augenblick gegeben hat.«
»Der war nicht intim.«
»Möchtest du das Foto sehen?«
Keller goss sich wortlos zwei Fingerbreit Whiskey in einen Tumbler aus Kristallglas. Gabriel blies auf seinen Tee.
»Bin ich dir nicht ein guter Freund gewesen, obwohl unsere Beziehung unter sehr ungünstigen Umständen begonnen hat? Habe ich dir nicht oft gute Ratschläge gegeben? Wäre ich nicht gewesen, wärst du noch …«
»Worauf willst du hinaus?«, unterbrach Keller ihn.
»Mach nicht den gleichen Fehler wie ich«, sagte Gabriel. »Olivia weiß mehr über dich als jede andere Frau der Welt, wenn man von dieser seltsamen alten Wahrsagerin auf Korsika absieht, und sie ist viel zu alt für dich. Außerdem hat Vauxhall Cross sich schon durch ihre ganze schmutzige Wäsche gewühlt, was bedeutet, dass der MI6 eurer Beziehung nicht im Weg stehen wird. Ihr seid füreinander geschaffen, Christopher. Schnapp sie dir und lass sie nie mehr los.«
»Ihre Vergangenheit ist …«
»Harmlos im Vergleich zu deiner«, sagte Gabriel. »Und sieh dir an, wie gut du dich gemacht hast.«
Keller streckte eine Hand aus.
»Was?«, fragte Gabriel.
»Lass mich das Foto sehen.«
Gabriel reichte ihm sein Smartphone über die Theke. »Das glückliche Paar«, sagte er.
Keller betrachtete das Foto. Es war quer durch den Raum gemacht worden, als Olivia ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte.
Was auch in deinem früheren Leben passiert sein mag … Ich verspreche dir, dass ich’s heilen kann.
»Wer hat es gemacht?«
»Julian«, antwortete Gabriel. »Der wahre Held des Unternehmens.«
»Vergiss die Antonows nicht«, sagte Keller.
»Wie könnte ich das?«
»Übrigens haben sie sich heute Abend kurz sehen lassen. Zur Abwechslung haben sie echt glücklich gewirkt.«
»Was du nicht sagst.«
»Glaubst du, dass sie’s schaffen?«
»Ja«, sagte Gabriel. »Das traue ich ihnen zu.«