58 – MAROKKANISCHE SAHARA
58
MAROKKANISCHE SAHARA
Er schob die Zeltklappe zur Seite und trat ein. Auf dem Schreibtisch, an dem Keller ein abgenütztes Taschenbuch las, und neben dem Bett, auf dem Natalie und Olivia mit einem Backgammonbrett zwischen sich ausgestreckt lagen, brannten ein Dutzend Kerzen. Die Frauen sprachen halblaut miteinander – in der Art von Leuten, die alle Zeit der Welt für alles Mögliche haben.
Keller sah als Erster auf. »Genau der Mann, auf den ich gewartet habe«, sagte er jovial auf Französisch. »Könnten Sie uns noch etwas Tee bringen? Und ein paar Süßigkeiten – die mit Honig getränkte Sorte. Das wäre nett.«
Keller blätterte in seinem Buch um. Die Kerzen flackerten, als Saladin das Zelt mit drei, vier raschen Schritten durchquerte und am Fußende des Betts stehen blieb. Natalie ließ die Würfel übers Spielbrett rollen, war mit dem Ergebnis zufrieden und dachte über ihren nächsten Zug nach. Olivia funkelte Saladin missbilligend an.
»Was tun Sie hier drinnen?«
Saladin, der weiter schwieg, musterte Natalie prüfend. Ihr Blick war gesenkt, aufs Spielbrett gerichtet, ihr Gesicht nur im Profil zu sehen und zum Teil von einer blonden Locke verdeckt. Als Saladin ihr Haar wegstrich, wich sie empört vor ihm zurück.
»Was fällt Ihnen ein, mich anzufassen?«, fauchte sie auf Französisch. »Verschwinden Sie, sonst rufe ich meinen Mann!«
Saladin blieb, wo er war. Natalie erwiderte seinen Blick, ohne zu blinzeln.
Maimonides … Wie schön, dich wiederzusehen …
Ruhig erkundigte sie sich: »Möchten Sie mich vielleicht etwas fragen?«
Saladin sah kurz zu Keller hinüber, bevor er sich wieder Natalie zuwandte.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte er nach einigen Sekunden. »Ich habe mich geirrt.«
Er wandte sich ab und hinkte in die Nacht hinaus.
Natalie funkelte Keller an. »Du hättest ihn erschießen sollen, als du Gelegenheit dazu hattest.«
Im Schwarzen Loch in Langley war ein kollektiver Seufzer der Erleichterung zu hören, als Saladin endlich wieder aus dem Zelt kam. Die Drohnen beobachteten, wie er ein paar Worte direkt in Mohammad Bakkars Ohr sprach. Dann gingen die beiden zum Rand des Lagers, wo sie sich von Leibwächtern umgeben lange berieten. Dabei zeigte Saladin mehrmals in den Nachthimmel. Einmal schien er direkt ins Kameraobjektiv der Predator zu starren.
»Game over«, sagte Kyle Taylor. »Danke fürs Spielen.«
»Dass er nach so vielen Jahren noch lebt, muss einen Grund haben«, sagte Uzi Navot. »Er beherrscht dieses Spiel verdammt gut.«
Navot beobachtete, wie Michail ins Zelt schlüpfte und etwas von Christopher Keller entgegennahm. Auf den IR-Aufnahmen war der Gegenstand nicht zu erkennen. Trotzdem vermutete Navot, dass jetzt beide Männer – beide Veteranen von Eliteeinheiten – bewaffnet waren. Und er wusste, dass sie weit in der Unterzahl waren.
»Wie weit ist Saladin von dem Zelt entfernt?«
»Zwanzig Meter«, antwortete Taylor. »Vielleicht etwas weniger.«
»Wie groß ist der Wirkungsradius einer Hellfire?«
»Daran dürfen Sie nicht mal denken.«
Mohammad Bakkar war auf den zentralen Platz des Camps zurückgekehrt und sprach dort mit Martel. Sogar aus sechstausend Metern Höhe war klar zu erkennen, dass dort eine hitzige Auseinandersetzung stattfand. Um sie herum herrschte hektisches Treiben. Bewaffnete stiegen in Land Cruiser, Motoren wurden angelassen, Scheinwerfer flammten auf.
»Scheiße, was geht dort vor?«, fragte Taylor.
»Er mischt die Karten neu, glaube ich«, sagte Navot.
»Bakkar?«
»Nein«, antwortete Navot. »Saladin.«
Der Iraker starrte wieder in den Nachthimmel, ins gläserne Kameraauge der Drohne. Und er lächelte dabei, stellte Navot fest. Ganz eindeutig. Als er plötzlich einen Arm in die Luft reckte, umkreisten ihn vier identische SUVs in einer Wolke aus Staub und Sand entgegen dem Uhrzeigersinn.
»Vier Fahrzeuge, zwei Hellfire«, sagte Navot. »Wie hoch sind die Chancen, den richtigen Wagen zu treffen?«
»Statistisch gesehen fifty-fifty«, antwortete Taylor.
»Vielleicht sollten Sie doch jetzt schießen.«
»Das würde Ihr Team nicht überleben.«
»Bestimmt nicht?«
»Ich mache das nicht zum ersten Mal, Uzi.«
»Ja, ich weiß«, sagte Navot. »Aber Saladin auch nicht.«
Im Haus der Spione in Casablanca beobachteten Gabriel und Jaakov Rossman dasselbe Bild: vier SUVs, die einen Mann umkreisten, dessen Wärmesignatur sich allmählich in Staub- und Sandschleiern auflöste. Schließlich hielten die Fahrzeuge kurz an, eben lange genug, damit der Mann in eines steigen konnte – in welches, ließ sich unmöglich feststellen. Dann fuhren die vier mit solchen Abständen durch die Wüste davon, dass kein dreiundzwanzig Kilo schwerer Gefechtskopf zwei auf einmal vernichten konnte.
Die Predator verfolgte die SUVs auf ihrer Fahrt nach Norden durch die Wüste, während die Sentinel zurückblieb, um weiter das Lager zu überwachen. Die vier hatten sich auf den zentralen Platz zurückgezogen, auf dem Mohammad Bakkar jetzt wieder auf Jean-Luc Martel einredete. Dabei wechselte ein Gegenstand den Besitzer, wanderte von Bakkars Hand in die von Gabriels zweifelhaften Agenten. Etwas, das die IR-Sensoren der Drohne nicht erfassen konnten. Etwas, das Martel in seine rechte Jackentasche steckte.
»Scheiße«, sagte Jaakov.
»Ganz deiner Meinung.«
»Glaubst du, dass er übergelaufen ist?«
»Das werden wir bald erfahren.«
»Wozu noch warten?«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Schick Michail und Christopher eine Nachricht. Sie sollen den Platz stürmen und das Feuer eröffnen.«
»Und was ist, wenn Bakkars Männer mit ihren Kalaschnikows zurückschießen?«
»Die kriegen sie nicht mal von der Schulter weg.«
»Und Martel?«, fragte Gabriel. »Was ist, wenn er ins Kreuzfeuer gerät?«
»Er ist bloß ein Drogenhändler.«
»Ohne ihn wären wir nicht hier, Jaakov.«
»Du bezweifelst, dass er uns verraten würde, um seinen Hals zu retten? Was tut er deiner Meinung nach gerade? Schick die Nachricht«, sagte Jaakov. »Sie sollen alle erledigen, damit wir unsere Leute abziehen können, bevor die Amerikaner mit ihren Lenkwaffen die Wüste in Brand setzen.«
Gabriel sandte rasch zwei Nachrichten: eine an Dina Sarid, die andere an Kellers Satellitentelefon. Dina antwortete sofort. Keller machte sich nicht die Mühe, den Empfang zu bestätigen.
»Da bin ich leider anderer Meinung«, sagte Jaakov.
»Zur Kenntnis genommen.«
Gabriel sah sich wieder die Aufnahmen der Predator an. Vier identische Toyotas rasten durch die Wüste nach Norden.
»In welchem sitzt er, glaubst du?«
»Im zweiten«, antwortete Jaakov. »Bestimmt im zweiten.«
»Da bin ich leider anderer Meinung.«
»In welchem sonst?«
Gabriel starrte auf den Bildschirm. »Ich habe keinen blassen Schimmer.«
Das Hotel Kasbah stand am Westrand des Sandmeers des Erg Chebbi. Eli Lavon und Dina tranken auf der Terrasse Tee, als die Nachricht von Gabriel kam; Jossi Gavisch und Rimona Stern waren am Pool. Nachdem sie ihre Zimmer »desinfiziert« hatten, standen alle vier in der beengten Hotelhalle an der Rezeption und fragten den Nachtportier nach dem nächsten angesagten Club. Er nannte ihnen einen in Erfoud, das im Norden lag. Stattdessen fuhren die vier nach Süden. Jossi und Rimona in einem gemieteten Jeep Cherokee, Dina und Eli in einem Nissan Pathfinder. In Chamila bogen sie von der Straße in die Wüste ab und warteten auf den Feuerschein am Horizont.