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CÔTE D’AZUR, FRANKREICH

Allen Anwesenden war klar – was die versteckten Kameras wiederum bestätigten –, dass Jean-Luc Martel nicht verstand, wie wichtig seine letzte Aussage war: Dann würde ich auf einen Iraker tippen … Ein Iraker, der sich Khalil nannte. Kein Familien- oder Vatersname, kein Ortsname, einfach nur Khalil. Khalil, der einen Partner in Mohammad Bakkar gefunden hatte, einem strenggläubigen Haschproduzenten, der Amerika und den Westen hasste und bei dem Wort Israel ausflippte, Khalil, der ihren Gewinn steigern wollte, indem er mehr Haschisch auf den europäischen Markt warf.

Als stummer Beobachter des Dramas, das er geschrieben und inszeniert hatte, ermahnte Gabriel sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Dieser Mann, der sich Khalil nannte, brauchte nicht der Mann zu sein, nach dem sie fahndeten; er konnte ein ganz gewöhnlicher Krimineller sein, der nur möglichst rasch viel Geld verdienen wollte, sodass die Fahndung nach ihm kostbare Zeit und Ressourcen vergeuden würde. Trotzdem hatte Gabriel Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, dass sein Herz jagte. Er hatte an losen Fäden gezupft und die Punkte durch Striche verbunden, und die Fährte hatte ihn hierher ins ehemalige Heim eines besiegten Feindes geführt.

Die übrigen Mitglieder seines Teams nahmen Martels Enthüllung jedoch bemerkenswert nüchtern auf. Natalie, Michail und Christopher Keller waren in privaten Sphären gefangen, und Paul Rousseau stopfte sich gerade jetzt eine neue Pfeife. Im nächsten Augenblick flammte sein Feuerzeug auf, und eine bläuliche Rauchwolke zog über die beiden venezianischen Kanalszenen von Guardi hinweg. Gabriel, der Restaurator, zuckte unwillkürlich zusammen.

Falls Rousseau sich auch nur entfernt für den Iraker interessierte, der sich Khalil nannte, ließ er sich nichts davon anmerken. Khalil war nur ein Nebengeräusch; Khalil war nicht weiter wichtig. Rousseau schien sich mehr für die Details von Martels Beziehung zu Mohammad Bakkar zu interessieren. Wer gab den Ton an, wollte er wissen. Wer hatte die Oberhand? Martel, der französische Großhändler, oder Bakkar, der marokkanische Erzeuger?

»Sie verstehen nicht sehr viel von Geschäften, was?«

»Ich bin Wissenschaftler«, entschuldigte Rousseau sich.

»Alles ist Verhandlungssache«, erklärte Martel ihm. »Aber letztlich behält der Erzeuger die Oberhand.«

»Weil er den Händler jederzeit boykottieren kann.«

»Korrekt.«

»Könnten Sie nicht einen anderen Lieferanten für die Drogen finden?«

»Orangen«, sagte Martel nur.

»Ah, richtig, Orangen«, stimmte Rousseau zu.

»Das ist nicht so einfach.«

»Wegen der Qualität von Bakkars Orangen?«

»Weil Mohammad Bakkar ein mächtiger und höchst einflussreicher Mann ist.«

»Der auf andere Erzeuger einwirken würde, damit sie Ihnen nichts verkaufen?«

»Sehr energisch.«

»Und was haben Sie gesagt, als Bakkar Ihnen erklärt hat, er wolle den Orangenexport nach Europa stark ausweiten?«

»Ich habe ihm davon abgeraten.«

»Weshalb?«

»Aus verschiedenen Gründen.«

»Zum Beispiel?«

»Große Lieferungen sind an sich riskant.«

»Weil sie bei Kontrollen leichter zu finden sind?«

»Natürlich.«

»Was noch?«

»Meine Sorge war, wir könnten den Markt überschwemmen.«

»Und so den Orangenpreis in ganze Westeuropa in den Keller schicken?«

»Angebot und Nachfrage«, sagte Martel noch mal schulterzuckend.

»Und als Sie diese Bedenken geäußert haben?«

»Da hat er mich vor eine sehr einfache Wahl gestellt.«

»Mitmachen oder abhauen?«

»So ungefähr.«

»Und Sie haben mitgemacht«, stellte Rousseau fest.

Als Martel schwieg, wechselte Rousseau abrupt das Thema.

»Versand«, sagte er. »Wer ist zuständig für den Versand?«

»Mohammad. Er bringt die Lieferung auf den Weg, und wir nehmen sie am anderen Ende in Empfang.«

»Sie werden vermutlich benachrichtigt, wenn eine Lieferung unterwegs ist?«

»Versteht sich.«

»Wie liefert er bevorzugt?«

»Früher hat er die Ware mit kleinen Booten direkt aus Marokko nach Spanien bringen lassen. Als die Spanier dann angefangen haben, ihre Küste stärker zu bewachen, hat er eine neue Route quer durch Nordafrika und übers Meer zum Balkan eingerichtet. Nur sind auf dieser Route vor allem im Libanon und auf dem Balkan massenhaft Orangen verschwunden.«

»Von einheimischen Banden gestohlen?«

»Die serbische und die bulgarische Mafia waren scharf auf Zitrusfrüchte«, sagte Martel. »Mohammad hat jahrelang nach einer anderen Route für sein Produkt gesucht. Und dann ist ihm die Lösung in den Schoß gefallen.«

»Die Lösung«, sagte Rousseau, »war Libyen.«

Martel nickte langsam. »Dank des französischen Präsidenten und seiner Freunde in Washington und London, die Gaddafi stürzen wollten, war ein Traum Wirklichkeit geworden. Sobald das Regime beseitigt war, herrschten dort Zustände wie im Wilden Westen. Keine Zentralregierung, keine Polizei, keine Autorität irgendwelcher Art außer den Milizen und den islamischen Psychos. Trotzdem gab es noch ein Problem.«

»Nämlich?«

»Die Milizen und die islamischen Psychos«, antwortete Martel.

»Sie waren gegen den Orangenexport?«

»Nein. Sie wollten daran beteiligt werden. Sonst würden die Orangen nicht einmal die libyschen Häfen erreichen. Mohammad brauchte einen einheimischen Partner, der die Milizen und die Dschihadisten im Zaum halten konnte. Jemanden, der dafür garantieren konnte, dass die Orangen tatsächlich an Bord der Frachter gelangten.«

»Jemanden wie Khalil?«, fragte Rousseau.

Martel gab keine Antwort.

»Erinnern Sie sich an das Küstenmotorschiff Apollo?«, fragte Rousseau weiter. »Das haben die Italiener vor Sizilien mit siebzehn Tonnen Orangen im Laderaum aufgebracht.«

»Der Name«, sagte Martel verschmitzt, »kommt mir bekannt vor.«

»Das war wohl Ihre Fracht?«

Martels ausdrucksloser Blick bestätigte diese Vermutung.

»Hat es vor der Apollo andere Schiffe gegeben, die nicht aufgebracht wurden?«

»Mehrere.«

»Eines ist mir noch nicht klar«, sagte Rousseau scheinbar verständnislos. »Wer trägt die Kosten einer Beschlagnahme? Der Erzeuger oder der Großhändler?«

»Ich kann keine Orangen verkaufen, wenn ich sie nicht bekomme.«

»Das heißt also – Sie müssen entschuldigen, dass ich hier nachhake, Monsieur Martel –, dass Mohammad Bakkar persönlich einige Millionen Euro verloren hat, als die Apollo aufgebracht wurde?«

»Das ist korrekt.«

»Er war bestimmt wütend.«

»Mehr als das«, sagte Martel. »Er hat mich nach Marokko kommen lassen und mir vorgeworfen, ich hätte den Italienern einen Tipp gegeben.«

»Wozu sollten Sie das tun?«

»Weil ich von Anfang an gegen so große Lieferungen war. Und der Verlust eines oder mehrerer Schiffe hätte meine Argumentation unterstützt.«

»Ist der Tipp, der zum Verlust der Apollo geführt hat, von Ihnen gekommen?«

»Natürlich nicht. Ich habe Mohammad klipp und klar erklärt, dass das Problem anderswo liegt.«

»In Nordafrika, meinen Sie?«, fragte Rousseau.

»Libyen«, sagte Martel.

»Und als die Beschlagnahmen weitergingen?«

»Khalil hat die Lecks gestopft. Danach haben die Transporte wieder geklappt.«

Da war er wieder, der Name von Mohammad Bakkars aggressivem neuen Partner. Der Mann, von dem Paul Rousseau bisher absichtlich nicht gesprochen hatte. Nach einer längeren Pause, in der er sich eine Pfeife stopfte und anzündete, fragte er, wann Jean-Luc Martel diesen Iraker, der sich Khalil nannte, kennengelernt habe. Kein Familien- oder Vatersname. Kein Ortsname. Nur Khalil. Martel sagte, das müsse im Frühjahr 2012 gewesen sein. Vielleicht Ende März, aber er könne sich nicht genau erinnern. Das ließ Rousseau ihm jedoch nicht durchgehen. Martel herrsche über ein weitgespanntes kriminelles Imperium, dessen Details er im Kopf habe. Also müsse er sich an das Datum einer so wichtigen Begegnung erinnern können.

»Es war der neunundzwanzigste März.«

»Und unter welchen Umständen? Sind Sie einbestellt worden? Oder war das ein Routinetermin?«

Martel erklärte, er sei aufgefordert worden, nach Marokko zu kommen.

»Und wie geschieht das im Allgemeinen? Ich weiß, das ist nebensächlich, aber ich bin neugierig.«

»In meinem Hotel in Marrakesch geht eine Nachricht für mich ein.«

»Ein Anruf?«

»Ja.«

»Und die erste Besprechung, bei der Khalil anwesend war?«

»Die war in Casa. Ich bin mit meinem Flugzeug hingeflogen und ins Hotel gefahren. Ein paar Stunden später habe ich erfahren, wohin ich kommen sollte.«

»Mohammad hat Sie selbst angerufen?«

»Einer seiner Leute. Mohammad telefoniert nicht gern geschäftlich.«

»Und das Hotel? In welchem waren Sie?«

»Im Sofitel.«

»Waren Sie allein dort?«

»Olivia war mit dabei.«

Rousseau runzelte nachdenklich die Stirn. »Nehmen Sie sie überallhin mit?«

»Möglichst immer.«

»Weshalb?«

»Äußerlichkeiten sind wichtig.«

»War sie bei der Besprechung dabei?«

»Nein. Sie ist im Hotel geblieben, als ich nach Anfa gefahren bin.«

»Anfa?«

Anfa sei ein Villenviertel auf einem Hügel nordwestlich der Innenstadt, erklärte Martel, ein Arrondissement mit von Palmen gesäumten Avenuen und Quadratmeterpreisen wie in London oder Paris. Mohammad Bakkar besaß dort eine prächtige Villa. Martel musste sich wie üblich einer Leibesvisitation unterziehen, bevor er eintreten durfte. Sie sei gründlicher als sonst gewesen, erinnerte er sich jetzt. Martel hatte erwartet, Bakkar, wie von ihren bisherigen Treffen gewohnt, drinnen allein anzutreffen. Stattdessen war ein weiterer Mann anwesend.

»Bitte beschreiben Sie ihn.«

»Groß, breitschultrig, breites Gesicht, große Hände.«

»Hautfarbe?«

»Dunkel, aber nicht sehr.«

»Wie war er angezogen?«

»Westlich. Dunkler Anzug, weißes Oberhemd, keine Krawatte.«

»Narben oder sonstige Kennzeichen?«

»Keine.«

»Tätowierungen?«

»Ich konnte nur seine Hände sehen.«

»Und?«

Martel schüttelte den Kopf.

»Sind Sie mit ihm bekannt gemacht worden?«

»Kaum.«

»Hat er gesprochen?«

»Nicht mit mir, nur mit Mohammad.«

»Vermutlich auf Arabisch?«

»Ja.«

»Mohammad Bakkar spricht maghrebinisches Arabisch?«

»Daridscha«, sagte Martel.

»Und der andere Mann? Hat auch er Daridscha gesprochen?«

Martel schüttelte erneut den Kopf.

»Sie konnten den Unterschied erkennen?«

»Als Kind habe ich etwas Arabisch gelernt. Von meiner Mutter«, fügte er hinzu. »Daher konnte ich einen Unterschied feststellen. Er hat wie ein Iraker gesprochen.«

»Und Sie haben sich nicht gefragt, wie dieser Mann einzuordnen war, wenn man bedenkt, dass der IS große Teile des Iraks und Syriens besetzt hält und sogar eine Operationsbasis in Libyen aufgebaut hat? Oder vielleicht wollten Sie’s lieber nicht wissen«, fuhr Rousseau verächtlich fort. »Vielleicht war es besser, in dieser Situation nicht zu viele Fragen zu stellen.«

»Allgemein kann man sagen«, bestätigte Martel, »dass Neugier schlecht fürs Geschäft ist.«

»Vor allem, wenn der IS involviert sein könnte.« Rousseau atmete tief durch, meisterte seinen Zorn. »Und die zweite Begegnung? Wann war die?«

»Im Dezember letzten Jahres.«

»Nach den Anschlägen in Washington?«

»Eindeutig.«

»Bitte das genaue Datum.«

»Am neunzehnten Dezember, glaube ich.«

»Und der Anlass?«

»Unser jährliches Wintertreffen.«

»Wo hat es stattgefunden?«

»Mohammad hat immer wieder andere Orte genannt. Letzten Endes haben wir uns in einem kleinen Dorf im Rifgebirge zusammengesetzt.«

»Was stand auf der Tagesordnung?«

»Die neuen Abgabepreise und die ungefähren Versanddaten fürs kommende Jahr. Mohammad und der Iraker wollten den Markt mit noch mehr Ware überschwemmen. Mit viel mehr Ware. Und das so schnell wie möglich.«

»Wie war er diesmal gekleidet?«

»Wie ein Marokkaner.«

»Nämlich?«

»Er hat eine Dschellaba getragen.«

»Das traditionelle marokkanische Gewand mit Kapuze.«

Martel nickte. »Und sein Gesicht war auffällig schmaler und kantiger.«

»Er hatte Gewicht verloren?«

»Plastische Chirurgie.«

»Hatte er sich sonst wie verändert?«

»Ja«, sagte Martel. »Er hat gehinkt.«