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CÔTE D’AZUR, FRANKREICH

Es gibt viele Gründe dafür, dass jemand sich bereit erklärt, für einen Geheimdienst zu arbeiten, aber nur wenige davon sind ehrbar. Manche tun’s aus Geldgier, andere aus Liebe oder politischer Überzeugung. Und manche tun’s, weil sie sich langweilen oder enttäuscht und rachsüchtig sind, weil sie bei Beförderungen übergangen wurden, während Kollegen, die sie unweigerlich für weniger qualifiziert halten, an ihnen vorbeigezogen sind. Mit etwas Schmeichelei und reichlich Geld lassen solche verächtlichen Typen sich dazu gewinnen, die Geheimnisse zu verraten, die über ihren Schreibtisch gehen oder in den Computern stecken, die sie zu warten haben. Professionelle Agentenführer sind gern bereit, solche Männer auszunutzen, die sie jedoch insgeheim verachten, fast so sehr wie den Mann, der sein Vaterland aus Gewissensgründen verrät. Dies sind die nützlichen Idioten der Branche, die keine niedrigeren Lebensformen kennt.

Der Profi traut auch niemandem, der seine Dienste freiwillig anbietet, denn seine wahren Motive sind oft schwierig zu erkennen. Stattdessen zieht er es vor, potenzielle Informanten ausfindig zu machen und selbst die Initiative zu ergreifen. Im Allgemeinen bringt er Geschenke mit, aber manchmal erweist es sich als notwendig, zu weniger feinen Methoden zu greifen. Aus diesem Grund ist der Profi stets auf der Suche nach Fehlern oder Schwächen: eine außereheliche Affäre, Vorliebe für Pornografie, Spielsucht oder Überschuldung. Das sind die Generalschlüssel der Branche, die jede Tür aufsperren. Außerdem ist Zwang wundervoll dafür geeignet, Absichten zu erhellen. Er leuchtet die dunklen Ecken des menschlichen Herzens aus. Ein Mann, der spioniert, weil ihm keine andere Wahl bleibt, ist weniger rätselhaft als einer, der mit einem Aktenkoffer voller gestohlener Dokumente in eine Botschaft kommt. Trotzdem kann man einem zwangsverpflichteten Informanten niemals völlig trauen. Er wird unweigerlich versuchen, sich für die Ungerechtigkeit, unter der er leidet, zu rächen, und ist nur unter Kontrolle, solange seine ursprüngliche Verfehlung wie ein Damoklesschwert über ihm hängt. Deshalb finden Agent und Agentenführer sich unweigerlich in einer Art Hassliebe vereint.

In diese Agentenkategorie fiel Jean-Luc Martel, Hotelier, Restaurateur, Modezar, Juwelier und internationaler Drogenhändler. Er hatte seine Dienste nicht freiwillig angeboten. Er war auch nicht durch geschickte Überredung an den Tisch gelockt worden. Stattdessen war er durch ein kompliziertes und kostspieliges Unternehmen identifiziert, beurteilt und ins Visier genommen worden. Seine Beziehung zu Olivia Watson war eingehend analysiert worden, sein Geschäftspartner Devereaux hatte ihn unter Kellers Hammerschlägen belastet, und ihm waren Ruin und Gefängnis angedroht worden. Trotzdem stand die eigentliche Anwerbung noch aus. Zwang konnte eine Tür öffnen, aber der Abschluss eines Deals erforderte Geschick und Verführungsqualitäten. Eine Übereinkunft musste erzielt werden. Das war unvermeidlich. Sie brauchten Jean-Luc Martel mehr, als er sie brauchte. Drogenhändler gab es zu Hunderten. Aber Saladin war einzigartig.

Martel ergab sich nicht leicht in sein Schicksal, aber das war zu erwarten gewesen; ein Mann, der seinen Vater und seinen Förderer umgebracht hat, ist schwer einzuschüchtern. Er wich aus, ging zum Gegenangriff über, stieß seinerseits Drohungen aus. Rousseau biss jedoch nicht an, wenn Martel ihn zu ködern versuchte. Er war der perfekte Verhandler: harmlos wirkend, nicht leicht aufzubringen, unendlich geduldig. Martel stellte Rousseaus Geduld oft auf die Probe, etwa wenn er eine Bescheinigung auf dem Briefbogen des Innenministeriums verlangte, die ihm jetzt und in alle Zukunft Straffreiheit zusicherte. Darauf konnte Rousseau sich jedoch nicht einlassen, weil er nicht im Auftrag des Ministeriums handelte und auch die vorgesetzte DGSI nicht eingeweiht hatte. Daher lächelte er über Martels Unnachgiebigkeit, nickte zu Michail hinüber und führte einen kurzen Ausschnitt aus René Devereaux’ Vernehmung auf See vor.

»Er lügt!«, knurrte Martel, als das Video abbrach. »Das fantasiert er sich zusammen.«

Dies war die Stelle, wie Gabriel sich später erinnerte – und was die versteckten Kameras bestätigten –, an der Martel der Wind aus den Segeln genommen wurde. Er setzte sich neben Michail, eine seltsame Wahl, und starrte Natalie an, die ihrerseits zu Boden sah. Dann entstand eine längere Pause, die Rousseau schließlich dazu veranlasste, nochmals den Teil des Videos vorzuführen, der Mohammad Bakkar, einen der größten marokkanischen Haschischproduzenten, betraf – den selbst ernannten König des Rifgebirges, in dem Haschisch für den Export nach Europa angebaut wurde. Den Mann, der nach Devereaux’ Auskunft Martels einziger Lieferant war.

»Diesen Namen haben Sie bestimmt schon mal gehört«, sagte Rousseau ruhig.

Und Martel bestätigte mit kaum wahrnehmbarem Nicken, dass er ihn kannte. Er starrte nicht mehr Natalie an, sondern sah zu Keller auf, der beschützend hinter ihr stand. Keller hatte ihn betrogen, Keller hatte ihn verraten. Und trotzdem schien Jean-Luc Martel ihn in diesem Augenblick für seinen einzigen Freund in diesem Raum zu halten.

»Wollen Sie uns nicht ein paar Hintergrundinformationen geben?«, schlug Rousseau vor. »Wir sind schließlich alle Amateure – zumindest in Bezug auf den Drogenhandel. Helfen Sie uns verstehen, wie der funktioniert. Erklären Sie uns die üblen Methoden, mit denen Sie arbeiten.«

Rousseaus Aufforderung war nicht so harmlos, wie sie klang. René Devereaux hatte Keller bereits genau geschildert, welche Geschäftsbeziehungen zwischen Bakkar und Martel bestanden. Aber Rousseau wollte Martel zum Reden bringen, um den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen überprüfen zu können. Natürlich würde er nicht immer die Wahrheit sagen. Rousseau war bereit, darüber hinwegzusehen und nur dort absolute Ehrlichkeit zu verlangen, wo sie unerlässlich war.

»Erzählen Sie uns ein bisschen über Mohammad Bakkar«, forderte er Martel auf. »Ist er groß oder klein? Hager oder rundlich wie ich? Hat er volles Haar oder eine Glatze? Hat er eine Ehefrau oder mehrere? Raucht er? Trinkt er Alkohol? Ist er gläubig?«

»Er ist eher klein«, sagte Martel nach kurzem Nachdenken. »Und nein, er trinkt keinen Alkohol. Mohammad ist gläubig. Sogar sehr gläubig.«

»Finden Sie das überraschend?«, fasste Rousseau sofort nach, um die Tatsache auszunützen, dass Martel endlich eine Frage beantwortet hatte. »Dass ein Haschproduzent strenggläubig ist?«

»Ich habe nicht gesagt, dass Mohammad Bakkar ein Haschproduzent ist. Er baut Orangen an.«

»Orangen?«

»Ja, Orangen. Deshalb überrascht mich nicht, dass der König ein gläubiger Mann ist. Orangen gehören im Rif zum Lebensstil. Der König versucht seit Jahren, die Bauern dazu zu bringen, von dieser Monokultur wegzukommen, aber Orangen sind weit lohnender als Soja oder Rettiche. Erheblich lukrativer«, fügte Martel lächelnd hinzu.

»Vielleicht sollte der König sich mehr anstrengen.«

»Dem König sind die jetzigen Verhältnisse gerade recht, wenn Sie mich fragen.«

»Wie das?«

»Weil der Orangenexport dem Land jedes Jahr einige Milliarden Dollar bringt. Die tragen dazu bei, den Frieden zu bewahren.« Etwas leiser fügte Martel hinzu: »Mohammad Bakkar ist nicht der einzige strenggläubige Marokkaner.«

»Gibt es in Marokko viele Extremisten?«

»Das wissen Sie bestimmt besser als ich«, antwortete Martel.

»Hat der IS viele Zellen in Marokko?«

»Das hört man manchmal. Aber über die redet der König nicht gern«, fügte er hinzu. »Der IS ist schlecht für den Tourismus.«

»Sie sind geschäftlich in Marokko engagiert, nicht wahr? Mit einem Hotel in Marrakesch, wenn ich mich nicht irre.«

»Mir gehören zwei«, sagte Martel stolz.

»Wie läuft das Geschäft?«

»Schlecht.«

»Das tut mir leid.«

»Wir kommen schon zurecht.«

»Davon bin ich überzeugt. Und worauf führen Sie die Flaute zurück?«, fragte Rousseau. »Auf den IS?«

»Die Anschläge auf tunesische Hotels haben unsere Reservierungen einbrechen lassen. Die Gäste fürchten, dass demnächst Marokko an der Reihe ist.«

»Sind Touristen dort sicher?«

»Das sind sie«, sagte Martel, »bis sie’s eines Tages nicht mehr sind.«

Rousseau quittierte diese Feststellung mit einem Lächeln. Dann wies er darauf hin, wegen seiner geschäftlichen Interessen könne Martel beliebig oft nach Marokko reisen, das als Drogenproduzent berüchtigt sei, ohne Verdacht zu erwecken. Martel gab ihm schulterzuckend recht.

»Bewirten Sie Mohammad Bakkar in Ihren Hotels in Marrakesch?«

»Niemals.«

»Warum nicht?«

»Er verabscheut Marrakesch. Oder vielmehr das moderne Marrakesch.«

»Zu viele Ausländer?«

»Und Schwule«, fügte Martel hinzu.

»Er mag wegen seines Glaubens keine Homosexuellen?«

»Das stimmt wohl.«

»Wo treffen Sie sich im Allgemeinen mit ihm?«

»In Casa«, sagte Martel, indem er Casablanca wie die Einheimischen abkürzte, »oder in Fès. Dort besitzt er einen Riad im Herzen der Medina. Außerdem gehören ihm mehrere Villen um Rif und im Mittleren Atlas.«

»Er ist viel unterwegs?«

»Orangen sind ein gefährliches Geschäft.«

Rousseau lächelte erneut. Selbst er war gegen Martels ungeheuren Charme nicht immun.

»Und wenn Sie mit Monsieur Bakkar zusammentreffen? Worüber reden Sie dann?«

»Den Brexit. Den neuen US-Präsidenten. Den Friedensprozess im Nahen Osten. Das Übliche.«

»Soll das ein Scherz sein?«, fragte Rousseau unwillig.

»Durchaus nicht. Als intelligenter Mensch interessiert Mohammad sich für die Welt außerhalb des Rifs.«

»Wie würden Sie seine politische Einstellung beschreiben?«

»Er ist kein Bewunderer des Westens. Vor allem hasst er Frankreich und England. Und ich versuche im Allgemeinen, in seiner Gegenwart das Wort Israel zu vermeiden.«

»Es bringt ihn auf?«

»So könnte man’s ausdrücken.«

»Und trotzdem machen Sie mit diesem Mann Geschäfte?«

»Seine Orangen sind erstklassig«, sagte Martel.

»Und wenn Sie mit Ihrer Tour d’Horizon fertig sind? Was dann?«

»Preise, Produktionsmengen, Liefertermine – solches Zeug.«

»Die Preise schwanken?«

»Angebot und Nachfrage«, sagte Martel nur.

»Vor fünf Jahren«, fuhr Rousseau fort, »ist uns aufgefallen, dass Orangen auf andere Weise als bisher von Nordafrika nach Europa gelangten. Statt mit kleinen Schiffen in kleinen Mengen übers Mittelmeer zu kommen, waren jetzt Tonnen von Orangen an Bord großer Frachter, die aus Häfen in Libyen kamen. Hat es eine plötzliche Schwemme bei den Produzenten gegeben? Oder gibt es irgendeine andere Erklärung für diesen Strategiewechsel?«

»Letzteres«, antwortete Martel.

»Und was war das?«

»Mohammad hat beschlossen, eine Partnerschaft einzugehen.«

»Vermutlich mit einem Mann, weil jemand wie Mohammad Bakkar sich nie mit einer Frau zusammentäte.«

Martel nickte.

»Er wollte am Markt offensiver agieren?«

»Viel aggressiver.«

»Wieso?«

»Um seine Gewinne schneller zu steigern.«

»Sie kennen seinen Partner?«

»Ich bin ihm zwei- oder dreimal begegnet.«

»Sein Name?«

»Khalil.«

»Khalil wer?«

»Einfach nur Khalil, sonst nichts.«

»Er ist Marokkaner?«

»Nein, bestimmt kein Marokkaner.«

»Woher sonst?«

»Das hat er nie gesagt.«

»Und wenn Sie raten sollten?«

Jean-Luc Martel zuckte mit den Schultern. »Dann würde ich auf einen Iraker tippen.«