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VAUXHALL CROSS, LONDON

Sie waren zu zwölft, ihrer Abstammung nach Araber und Afrikaner, ihren Reisepässen nach Europäer. Alle hatten einige Zeit im Kalifat des Islamischen Staats verbracht – auch in dem jetzt zerstörten Ausbildungslager am Rand der alten syrischen Stadt Palmyra – und waren unentdeckt nach Westeuropa zurückgekehrt. Später würde festgestellt werden, dass sie ihre Befehle über Telegram Messenger, einem cloudbasierten kostenlosen Messaging-Dienst mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, erhalten hatten. Sie bekamen nur mitgeteilt, wann sie an einem bestimmten Ort sein sollten. Sie wussten nicht, dass andere denselben Befehl erhalten hatten und auf welche Weise sie zu einer größeren Verschwörung gehörten. In Wirklichkeit wussten sie nicht einmal, dass sie Akteure einer Verschwörung waren.

Sie sickerten mit dem Zug und auf Kanalfähren einzeln nach Großbritannien ein. Zwei oder drei wurden bei der Einreise kurz befragt; die anderen wurden mit offenen Armen empfangen. Vier von ihnen reisten in die Kleinstadt Luton weiter, vier nach Harlow und vier nach Gravesend. Dort wurden sie jeweils von einem örtlichen Vertreter des Netzwerks erwartet, der auch ihre Ausrüstung – Sturmgewehre und Sprengstoffwesten – bereithielt. In jeder Weste steckte ein Kilogramm TATP, ein hochexplosiver kristalliner Sprengstoff aus Nagellackentferner und Wasserstoffperoxid. Ihre Sturmgewehre waren AK-74 aus weißrussischer Produktion.

In Einsatzbesprechungen informierten die örtlichen Kontaktpersonen des Netzwerks die Viererzellen über ihre Angriffsziele und ihren Auftrag. Sie waren keine Selbstmordattentäter, sondern Selbstmordkrieger. Sie sollten möglichst viele Ungläubige erschießen und sich erst in die Luft sprengen, wenn sie von der Polizei umzingelt waren. Zweck ihres Angriffs war nicht die Zerstörung von Gebäuden oder Denkmalen, sondern möglichst viel Blutvergießen. Sie sollten keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern machen. Gnade durfte es nicht geben.

Am Spätnachmittag setzten sich Männer der drei Zellen in Luton, Harlow und Gravesend zu einem Abschiedsmahl zusammen. Anschließend bereiteten sie ihren Leib rituell auf den Tod vor, bevor sie um 19 Uhr drei identische weiße Ford Transit bestiegen. Gefahren wurden sie von den örtlichen Kontaktpersonen des Netzwerks; die Selbstmordkrieger mit ihren Westen und Sturmgewehren saßen im Laderaum. Keine der Zellen wusste von den anderen, aber alle drei waren nach West London unterwegs, wo sie zur selben Zeit angreifen würden. Ein exakter Zeitpunkt war Saladins Markenzeichen. Bei Terroranschlägen sei Timing, wie im Leben, alles, fand er.

Das altehrwürdige Garrick Theatre hatte zwei Weltkriege, den Kalten Krieg, eine Weltwirtschaftskrise und die Abdankung eines Königs erlebt. Aber es hatte noch nie etwas mitgemacht wie um 20.20 Uhr an diesem Abend, als fünf IS-Terroristen das Theater stürmten und in die Menge zu schießen begannen. Über hundert Menschen würden in den ersten dreißig Sekunden des Überfalls sterben, und weitere hundert würden in den folgenden fünf Minuten sterben, als die Terroristen das Theater systematisch Reihe für Reihe, Sitz für Sitz durchkämmten. Rund zweihundert Zuschauer konnten sich durch die seitlichen und rückwärtigen Ausgänge retten, was auch dem Ensemble und allen Bühnenarbeitern gelang. Viele von ihnen würden niemals mehr ein Theater betreten.

Sieben Minuten nach ihrem Eindringen verließen die Terroristen das Garrick wieder. Draußen liefen ihnen zwei unbewaffnete Beamten der Metropolitan Police über den Weg. Nachdem sie die beiden erschossen hatten, rannten sie zur Irving Street weiter und schossen in einem Restaurant nach dem anderen um sich, bis ihnen am Rand des Leicester Square zwei bewaffnete Polizeibeamte entgegentraten. Obwohl sie nur mit 9-mm-Pistolen Glock 17 bewaffnet waren, gelang es ihnen, zwei Terroristen zu erschießen, bevor die ihre Sprengstoffwesten zünden konnten. Zwei der überlebenden Terroristen sprengten sich im belebten Foyer des Odeon Cinemas in die Luft, der dritte in einem gut besetzten italienischen Restaurant. Insgesamt starben allein bei diesen Angriffen fast vierhundert Menschen – mehr als bei jedem anderen Anschlag in der Geschichte Großbritanniens, mehr als im Jahr 1988 bei dem Bombenanschlag auf Pan-Am-Flug 103 über dem schottischen Lockerbie.

Unglücklicherweise operierte diese Fünfmannzelle jedoch nicht allein. Ebenfalls um Punkt 20.20 Uhr drang eine weitere Zelle – die Luton-Zelle, wie sie später genannt wurde – während einer Vorstellung von Miss Saigon ins Prince Edward Theatre ein. Weil das Prince Edward mit 1600 zu 656 Plätzen weit größer war als das Garrick, lag die Zahl der Toten und Verletzten entsprechend höher. Außerdem zündeten alle fünf Terroristen ihre Sprengstoffwesten in Bars und Restaurants entlang der Old Compton Street. So gab es in nur sechs Minuten über fünfhundert Tote.

Das dritte Ziel war das St Martin’s Theatre, in das fünf Terroristen um Punkt 20.20 Uhr eindrangen. Diesmal intervenierte jedoch ein Sondereinsatzkommando der Metropolitan Police. Später wurde gemeldet, ein nur als »bekannter Londoner Galerist« bezeichneter Mann habe die Polizei schon in den ersten Sekunden des Überfalls alarmiert. Dieser Kunsthändler hatte auch mitgeholfen, das benachbarte Luxusrestaurant Ivy zu räumen. So blieb es bei diesem dritten Überfall bei »nur« vierundachtzig Toten. In jeder anderen Stadt wäre diese Zahl undenkbar gewesen; hier war sie Grund zur Dankbarkeit. Saladin hatte London in Angst und Schrecken versetzt. Es würde nie mehr so sein wie früher.

Am Morgen danach war das Ausmaß der Katastrophe deutlich erkennbar. Die meisten Toten lagen dort, wo sie zusammengebrochen waren; viele saßen noch in ihren Theatersitzen. Der Londoner Polizeipräsident hatte das gesamte West End zum Tatort erklärt und Einheimische und Touristen aufgefordert, das Viertel zu meiden. Die dortigen U-Bahn-Stationen wurden nicht angefahren, und alle Geschäfte und öffentlichen Einrichtungen blieben geschlossen. Der Handel an der Londoner Börse begann pünktlich, aber als die Kurse ins Bodenlose stürzten, wurde er eingestellt. Die wirtschaftlichen Verluste waren wie die an Menschenleben katastrophal.

Aus Sicherheitsgründen wartete Premierminister Jonathan Lancaster bis Mittag, bevor er die Tatorte besichtigte. Mit seiner Gattin Diana ging er zu Fuß vom Garrick zum Prince Edward und zuletzt zum St Martin’s. Vor der improvisierten Einsatzzentrale der Met auf dem Leicester Square gab er anschließend eine kurze Pressekonferenz. Blass und sichtlich betroffen versicherte er, die Verantwortlichen würden zur Rechenschaft gezogen. »Der Feind ist entschlossen«, sagte er, »aber wir sind es auch.«

Der Feind blieb jedoch eigenartig still. Gewiss, auf den bekannten extremistischen Webseiten wurden Gratulationen gepostet, aber es gab keine amtliche Mitteilung des IS-Oberkommandos. Erst um 17 Uhr Londoner Zeit übernahm der IS auf Twitter die Verantwortung für die Terroranschläge und veröffentlichte Fotos der fünfzehn Attentäter. Einige Terrorismusanalysten zeigten sich erstaunt, dass der Name Saladin nicht erwähnt wurde. Ihre besser informierten Kollegen wunderte das nicht. Saladin, sagten sie, sei ein Meister. Und wie viele Meister zog er es vor, seine Werke nicht zu signieren.

War der erste Tag durch Trauer und Solidarität gekennzeichnet gewesen, wurde der zweite von Zwiespalt und Schuldzuweisungen geprägt. Im Unterhaus kritisierten Abgeordnete der Opposition den Premierminister und seine Geheimdienste scharf, weil sie die Verschwörung nicht rechtzeitig entdeckt und vereitelt hatten. Vor allem fragten sie, wie die Terroristen sich in einem Staat, der eines der restriktivsten Waffengesetze der Welt hatte, Sturmgewehre hatten beschaffen können. Der Leiter der Abteilung Terrorismusbekämpfung der Metropolitan Police verteidigte seine Handlungsweise ebenso in einer Pressemitteilung wie Amanda Wallace, die Generaldirektorin des Inlandsgeheimdienstes MI5. Aber Graham Seymour, der Generaldirektor des als MI6 bekannten Secret Intelligence Service, zog es vor, sich nicht zu äußern. Bis vor Kurzem hatte die britische Regierung die Existenz des MI6 nie erwähnt, und kein Minister wäre auf die Idee gekommen, den Namen seines Chefs öffentlich zu nennen. Seymour waren die alten Methoden lieber gewesen als die neuen. Er war der geborene Spion und als solcher ausgebildet. Und ein Spion ließ sich nie mit einer Äußerung zitieren, wenn der Tipp einer geplant undichten Stelle an einen wohlgesinnten Journalisten ausreichte.

Die Verantwortung für die Terrorismusabwehr in Großbritannien lag in erster Linie beim MI5, der Metropolitan Police und dem Gemeinsamen Analysezentrum für Terrorismus. Trotzdem hatte auch der Secret Intelligence Service eine wichtige Rolle dabei zu spielen, Anschlagspläne im Ausland zu entdecken, bevor sie in Großbritannien in die Tat umgesetzt wurden. Graham Seymour hatte den Premierminister mehrfach gewarnt, ein IS-Anschlag stehe unmittelbar bevor, aber seine Spione hatten keine belastbaren Beweise beschaffen können, um ihn zu verhindern. Deshalb betrachtete er die Londoner Anschläge mit ihren erschreckenden Opferzahlen als den einzigen großen Misserfolg in seiner langen ruhmreichen Karriere.

Zum Zeitpunkt der Anschläge war Seymour in seinem prächtigen Büro über Vauxhall Cross gewesen – er hatte die Detonationsblitze von seinem Fenster aus gesehen –, das er in den folgenden dunklen Tagen nur selten verließ. Seine engsten Mitarbeiter redeten ihm zu, er brauche mehr Schlaf, und machten sich insgeheim Sorgen, weil er ungewohnt erschöpft wirkte. Seymour beschied sie knapp, sie sollten ihre Zeit lieber darauf verwenden, wichtige Informationen zu sammeln, die den nächsten Anschlag verhindern würden. Was er wollte, war ein loser Faden: ein Angehöriger von Saladins Netzwerk, der sich anwerben und »umdrehen« ließ. Niemand aus der Führungsriege; diese Männer waren viel zu loyal. Der Mann, den Graham Seymour suchte, war ein kleines Rädchen, ein Wasserträger, ein Mann aus der dritten Reihe. Vielleicht wusste er nicht mal, dass er einer Terrororganisation angehörte. Möglich war sogar, dass er den Namen Saladin nie gehört hatte.

In Krisenzeiten genießen Polizeien, geheime oder andere, bestimmte Vorteile: Sie führen Razzien durch, sie nehmen Verhaftungen vor, sie laden zu Pressekonferenzen ein, um der Öffentlichkeit zu versichern, dass sie alles Menschenmögliche zum Schutz der Bürger tun. Spione dagegen können nicht auf solche Mittel zurückgreifen. Per Definition arbeiten sie im Geheimen, in finsteren Gassen, Hotelzimmern und sicheren Häusern und an allen anderen gottverlassenen Orten, an die Agenten sich freiwillig oder gezwungenermaßen wagen müssen, um wichtige Informationen über auswärtige Mächte zu beschaffen. Zu Beginn seiner Karriere hatte auch Graham Seymour so gearbeitet. Jetzt konnte er die Bemühungen anderer nur noch aus dem vergoldeten Käfig seines Büros beobachten. Seine größte Angst war, ein anderer Dienst könnte ihm zuvorkommen, einen losen Faden entdecken und seine Organisation wieder zu einer lediglich unterstützenden Rolle verdammen. Der MI6 konnte Saladins Netzwerk nicht allein zerschlagen; dafür würde er die Hilfe befreundeter Dienste in Westeuropa, dem Nahen Osten und jenseits des Großen Teichs in Amerika brauchen. Aber wenn er rechtzeitig die richtigen Informationen beschaffte, würde Graham Seymour der Erste unter Gleichen sein. Auf mehr konnte man als Chefspion in der heutigen Welt nicht hoffen.

Und so blieb er in seinem Büro, Tag für Tag, Nacht für Nacht, und beobachtete neiderfüllt, wie Met Police und MI5 die restlichen Agenten Saladins in Großbritannien aushoben. Sein MI6 lieferte dagegen kaum Erkenntnisse. Tatsächlich erfuhr Seymour mehr von seinen Freunden in Langley und Tel Aviv als von den eigenen Mitarbeitern. Genau eine Woche nach den Anschlägen fand er schließlich, eine Nacht im eigenen Bett würde ihm guttun. Die Überwachungskameras zeichneten auf, dass sein Jaguar die Tiefgarage zufällig genau um 20.20 Uhr verließ. Als die Limousine auf der Fahrt nach Belgravia jedoch die Themse überquerte, summte sein abhörsicheres Smartphone leise. Er erkannte die angezeigte Rufnummer und erst recht die Frauenstimme, die im nächsten Augenblick zu hören war. »Hoffentlich störe ich nicht«, sagte Amanda Wallace, die Generaldirektorin des MI5, »aber ich habe etwas, das dich interessieren dürfte. Willst du nicht auf einen Drink vorbeikommen? Ich gebe einen aus.«