2

ST. JAMES’S, LONDON

Vielleicht stimmt es tatsächlich, dachte Julian Isherwood, während er beobachtete, wie der Wind unter dem fast schwarzen Himmel dichte Regenschleier vor sich hertrieb. Vielleicht ist unser Planet wirklich kaputt. Ein Hurrikan in London – und noch dazu Mitte Februar! Für solche Verhältnisse war Isherwood, der groß und schlaksig war, nicht gut gewappnet. Im Augenblick hatte er im Eingang seines Stammlokals – Wiltons Restaurant in der Jermyn Street – Zuflucht gesucht. Er schob den Ärmel seines Regenmantels zurück und sah stirnrunzelnd auf seine Armbanduhr. Schon 19.40 Uhr; er war zu spät dran. Er suchte die Straße nach einem Taxi ab. Natürlich war keines zu sehen.

Aus der Bar des Wiltons drang halbherziges Lachen, dann war der dröhnend laute Bariton des dicklichen Oliver Dimbleby zu hören. Das Wiltons war jetzt das Stammlokal einer kleinen Gruppe von Kunsthändlern, die auf alte Meister spezialisiert waren und ihre Galerien in den verwinkelten Gassen von St. James hatten. Früher war Green’s Restaurant & Oyster Bar in der Duke Street ihr Favorit gewesen, aber das Green’s hatte nach Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft, die den riesigen Londoner Immobilienbesitz der Königin verwaltete, schließen müssen. Das war symptomatisch für die Veränderungen in diesem Viertel und der Londoner Kunstwelt insgesamt. Altmeister waren völlig aus der Mode. Die heutigen Sammler, mit sozialen Medien und Apps für iPhones über Nacht zu Geld gekommene globale Milliardäre, interessierten sich nur für moderne Kunst. Selbst die Impressionisten waren allmählich passé. Seit Neujahr hatte Isherwood nur zwei Gemälde verkauft. Beide Durchschnittsware, Schule von soundso, in der Manier von soundso. Oliver Dimbleby hatte seit einem halben Jahr nichts mehr verkauft. Auch Roddy Hutchinson nicht, der als der aggressivste Londoner Kunsthändler galt. Aber sie versammelten sich allabendlich im Wiltons an der Bar, um einander zu versichern, der Sturm werde sich bald legen. Allein Julian Isherwood glaubte nicht daran, sondern fürchtete mehr denn je das Gegenteil.

Er hatte schon früher schlimme Zeiten erlebt. Seine englische Erscheinung, seine englische Eleganz und sein urenglischer Name tarnten die Tatsache, dass er eigentlich gar kein Engländer war. Gewiss, er hatte einen britischen Pass in der Tasche, aber er war als Kind deutscher Juden in Frankreich aufgewachsen. Nur eine Handvoll verlässlicher Freunde wusste, dass Isherwood 1942 als unbegleitetes Flüchtlingskind nach London gelangt war, nachdem zwei baskische Hirten ihn über die verschneiten Pyrenäen getragen hatten. Oder dass sein Vater, der bekannte Pariser Galerist Samuel Isakowitz, mit seiner Frau im Todeslager Sobibór ermordet worden war. Obwohl Isherwood die Geheimnisse seiner Vergangenheit sorgfältig hütete, hörte der israelische Geheimdienst von seiner dramatischen Flucht aus dem von den Deutschen besetzten Europa. Und als es Mitte der siebziger Jahre zahlreiche palästinensische Anschläge auf israelische Einrichtungen in Europa gab, war er als Sajan, als freiwilliger Helfer, angeworben worden. Isherwood hatte nur einen einzigen Auftrag ausgeführt: Er hatte mitgeholfen, einen jungen Restaurator und Berufskiller namens Gabriel Allon mit einer glaubhaften Legende auszustatten und sie aufrechtzuerhalten. In den letzten Jahren hatten ihre Karrieren sich bemerkenswert unterschiedlich entwickelt. Als Direktor des israelischen Geheimdiensts war Gabriel jetzt einer der mächtigsten Spione der Welt. Und Isherwood? Der stand leicht angeheitert in der Jermyn Street im Eingang von Wiltons Restaurant, fröstelte im Westwind und wartete auf ein Taxi, das nie kommen würde.

Er sah erneut auf seine Armbanduhr. 19.43 Uhr. Weil er keinen Schirm bei sich hatte, hielt er sich seine alte lederne Aktentasche über den Kopf und hastete zum Piccadilly hinüber, wo er nach weiteren fünf Minuten im Regen dankbar auf den Rücksitz eines Taxis sank. Er nannte dem Fahrer eine ungefähre Adresse – sein wahres Ziel zu nennen wäre ihm zu peinlich gewesen – und sah sorgenvoll auf die Uhr, als das Taxi in Richtung Piccadilly Circus kroch. Dort bog es auf die Shaftesbury Avenue ab und erreichte um Punkt acht Uhr die Charing Cross Road. Damit war Isherwood für seine Reservierung offiziell zu spät dran.

Vermutlich hätte er anrufen und sagen sollen, er sei aufgehalten worden, aber damit hätte er riskiert, dass das Restaurant seinen Tisch anderweitig vergab. Dabei hatte er einen Monat lang betteln und Leute bestechen müssen, um überhaupt einen zu bekommen. Isherwood hatte keine Lust, das alles mit einem panikartigen Anruf aufs Spiel zu setzen. Außerdem war Fiona vielleicht schon da. Das gehörte zu den Dingen, die Isherwood am meisten an Fiona Gardner schätzte: Sie war pünktlich. Außerdem gefielen ihm ihr blondes Haar, ihre blauen Augen, ihre langen Beine und ihre sechsunddreißig Jahre. Im Augenblick fand er tatsächlich nichts, was ihm an Fiona nicht gefiel – und nur deshalb hatte er sich intensiv um einen Tisch in einem Restaurant bemüht, in das er normalerweise keinen Fuß gesetzt hätte.

Weitere fünf Minuten verstrichen, bevor das Taxi Isherwood endlich vor dem St Martin’s Theatre, dem Dauerspielort von Agatha Christies Mausefalle, absetzte. Er überquerte rasch die West Street zu dem berühmten Ivy, das sein wahres Ziel war. Der Maître d’hôtel teilte ihm mit, Miss Gardner sei noch nicht da, aber sein Tisch sei wie durch ein Wunder noch frei. Isherwood gab seinen Regenmantel an der Garderobe ab und wurde zu einer Sitznische mit Blick auf die Litchfield Street geleitet.

Dort saß er allein und betrachtete missbilligend sein Spiegelbild im Fenster. Mit seinem Anzug aus der Savile Row, der scharlachroten Krawatte und der grauen Lockenmähne war er eine ziemlich elegante, wenn auch leicht zweifelhafte Erscheinung: ein Look, den er als würdevolle Verderbtheit bezeichnete. Trotzdem ließ sich nicht leugnen, dass er das Stadium erreicht hatte, das Vermögensberater gern den »Lebensherbst« nannten. Nein, dachte er trübselig, du bist alt. Viel zu alt, um Frauen wie Fiona Gardner nachzustellen. Wie viele andere hatte es schon gegeben? Die Kunststudentinnen, die Junior-Kuratorinnen, die Rezeptionistinnen, die hübschen Girls, die bei Christie’s und Sotheby’s Telefongebote entgegennahmen. Isherwood war nicht wählerisch; er hatte sie alle geliebt. Er glaubte an die Liebe, wie er an die Kunst glaubte. Liebe auf den ersten Blick. Ewige Liebe. Liebe, bis der Tod uns scheidet. Das Problem war nur, dass er sie nie gefunden hatte.

Plötzlich musste er an einen nicht lange zurückliegenden Nachmittag in Venedig denken: ein Ecktisch in Harry’s Bar, ein Bellini, Gabriel … Der hatte ihm versichert, er könne noch heiraten und ein, zwei Kinder bekommen. Sein verwüstetes Spiegelbild sagte etwas anderes. Er hatte sein Verfallsdatum überschritten. Er würde, mit seiner Galerie verheiratet, allein, kinderlos sterben.

Isherwood sah nochmals auf seine Armbanduhr. 20.15 Uhr. Jetzt hatte Fiona Verspätung, was ihr nicht ähnlich sah. Er zog sein Smartphone aus der Innentasche seines Jacketts und sah, dass er eine SMS bekommen hatte: SORRY, JULIAN, ABER ICH KANN LEIDER NICHT … Er las nicht weiter. Vielleicht war das nur gut. Es würde ihm ein gebrochenes Herz ersparen. Und vor allem würde es verhindern, dass er sich wieder einmal zum Narren machte.

Er steckte sein Smartphone ein und überlegte, was er tun sollte. Er konnte bleiben und allein dinieren, oder er konnte gehen. Er entschied sich für Letzteres, denn im Ivy dinierte man nicht allein. Isherwood stand auf, holte sich seinen Mantel, ging mit einer gemurmelten Entschuldigung an dem Maître d’hôtel vorbei und trat auf die Straße hinaus, als eben ein weißer Ford Transit vor dem St Martin’s Theatre hielt. Der Fahrer, der einen weit geschnittenen dunkelblauen Kolani trug und etwas in der Hand hielt, das wie eine Waffe aussah, sprang sofort heraus. Nicht irgendeine Waffe, dachte Isherwood, sondern eine Kriegswaffe! Vier weitere Männer, alle mit weiten dunkelblauen Jacken und Sturmgewehren, kletterten durch die Hecktür aus dem Laderaum. Isherwood wollte seinen Augen nicht trauen. Dies sah wie eine Szene aus einem Film aus, den er aus Paris und Washington kannte.

Die fünf Männer marschierten in eng geschlossener Formation zum Eingang des Theaters. Isherwood hörte Holz zersplittern, dann fielen Schüsse. Nur wenige Sekunden später waren die ersten Schreie zu hören: gedämpft, aus weiter Ferne. Schreie aus Isherwoods Albträumen. Er dachte wieder an Gabriel und fragte sich, was er in dieser Situation getan hätte. Er wäre sofort ins Theater gestürmt, um möglichst viele Menschenleben zu retten. Aber Isherwood besaß nicht Gabriels Mut, auch nicht seine Fähigkeiten. Er war kein Held. Tatsächlich war er eher das Gegenteil.

Die albtraumhaften Schreie wurden lauter. Isherwood zog sein Smartphone heraus, wählte mit zitternden Fingern die 999 und meldete einen Terroranschlag aufs St Martin’s Theatre. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und starrte das Luxusrestaurant an, das er soeben verlassen hatte. Die reichen Gäste darin schienen nichts von dem Massaker zu ahnen, das ganz in ihrer Nähe stattfand. Isherwood fürchtete jedoch, die Terroristen würden sich nicht mit nur einem Überfall begnügen. Das angesagte Ivy konnte ihr nächstes Ziel sein.

Er überlegte, welche Optionen ihm offenstanden. Wieder waren es zwei: Er konnte flüchten – oder versuchen, möglichst viele Menschenleben zu retten. Dies war die leichteste Entscheidung seines Lebens. Als er zum Eingang des Restaurants stolperte, hörte er von der Charing Cross Road her eine Detonation. Dann eine weitere. Dann eine dritte. Du bist kein Held, dachte er, als er wie ein Verrückter die Arme schwenkend ins Ivy stürmte, aber du kannst dich wenigstens ein paar Augenblicke lang wie einer benehmen. Vielleicht hatte Gabriel recht. Vielleicht war’s doch noch nicht zu spät für ihn.