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RAMATUELLE, PROVENCE

Olivia war es gewöhnt, dass Männer sie anstarrten. Atemlose Männer. Keuchende Männer. Männer mit feuchten, begehrlichen Blicken. Männer, die fast alles tun, fast jeden Preis zahlen würden, um sie in ihr Bett zu bekommen. Auch die drei Männer vor ihr – der britische Geheimdienstchef, der französische Geheimpolizist und der geheimnisvolle Israeli, dessen Gesicht ihr vage bekannt vorkam – starrten sie an, aber aus einem völlig anderen Grund. Der Zauber ihrer Schönheit ließ sie anscheinend unbeeindruckt. Für sie war sie keine begehrenswerte Frau, sondern ein Mittel zu einem Zweck, den sie noch nicht näher erläutert hatten. Sie wusste nicht recht, ob die drei sie überhaupt mochten. Trotzdem war sie erleichtert darüber, dass solche Männer noch existierten. Ihre Karriere als Model und zehn Jahre in der Scheinwelt von Saint-Tropez hatten ihr die meisten Illusionen in Bezug auf Männer geraubt.

Galerie Olivia Watson …

Dieser Name, erzählte sie, sei Jean-Lucs Idee, nicht ihre gewesen. Sie hatte das bewährte Markenzeichen JLM über dem Eingang anbringen wollen, aber Jean-Luc hatte darauf bestanden, dass die Galerie ihren Namen trug. Er gab ihr Geld, damit sie das alte Gebäude an der Place de l’Ormeau kaufen und renovieren konnte, und finanzierte dann den Ankauf einer Kollektion von Weltniveau, Olivia hatte ihren Lagerbestand langsam und allmählich vermehren und das Hauptgewicht auf Künstler aus dem Mittelmeerraum legen wollen. Aber davon wollte Jean-Luc nichts hören. Langsam und bescheiden sei nicht seine Art, erklärte er ihr, sondern groß und auftrumpfend. Und so wurde die Galerie mit so viel Glanz und Glamour eröffnet, wie nur JLM aufbieten konnte. Danach trat er jedoch beiseite und überließ Olivia die alleinige künstlerische und finanzielle Kontrolle.

»Aber nur bis zu einem gewissen Punkt«, sagte sie.

»Wie meinen Sie das?«, fragte der Israeli. »Man hat die alleinige Kontrolle oder hat sie nicht. Dazwischen gibt es nichts.«

»Doch, wenn Jean-Luc damit zu tun hat.«

Er forderte sie auf, das näher zu erläutern.

»Jean-Luc hat die Buchführung der Galerie übernommen.«

»Fanden Sie das nicht seltsam?«

»Nein, ich war sogar erleichtert. Ich war ein ehemaliges Model, und er war ein höchst erfolgreicher Geschäftsmann.«

»Wie lange haben Sie gebraucht, um zu merken, dass irgendwas nicht stimmte?«

»Zwei Jahre. Vielleicht etwas länger.«

»Was ist passiert?«

»Ich habe angefangen, mich selbstständig für die Buchhaltung der Galerie zu interessieren.«

»Und was haben Sie festgestellt?«

»Dass ich weit mehr Gemälde angekauft und verkauft habe, als ich je für möglich gehalten hätte.«

»Ihr Geschäft hat geboomt?«

»Das ist zurückhaltend ausgedrückt. Schon im zweiten Jahr ihres Bestehens hat die Galerie Olivia Watson über dreihundert Millionen Euro Gewinn gemacht. Hauptsächlich mit diskreten Verkäufen von Gemälden, die ich nie gesehen hatte, an anonyme Privatsammler.«

»Was haben Sie daraufhin gemacht?«

»Ich habe ihn zur Rede gestellt.«

»Und wie hat er reagiert?«

»Er hat mich aufgefordert, meine Nase nicht in Dinge zu stecken, die mich nichts angehen.«

»Haben Sie seinen Rat befolgt?«

Sie zögerte, dann nickte sie langsam.

»Weshalb?«

Als sie keine Antwort gab, lieferte ihr Befrager selbst eine Erklärung.

»Weil Ihr Leben perfekt war und sie alles vermeiden wollten, was es hätte gefährden können.«

»Jeder von uns schließt in seinem Leben Kompromisse.«

»Aber nicht jeder von uns findet Zuflucht in den Armen eines Drogenhändlers.« Er wartete einen Augenblick, bis seine Worte gewirkt hatten. »Sie wussten, dass Jean-Lucs eigentliches Geschäft der Drogenhandel ist, nicht wahr?«

»Davon weiß ich bis heute nichts.«

Der Israeli reagierte mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wir haben nicht viel Zeit, Olivia. Es wäre besser, sie nicht durch zweckloses Leugnen zu vergeuden.«

Danach herrschte Schweigen. Unterbrochen wurde es durch den Engländer, der sich Nicolas Carnot nannte. Er trat an das Bücherregal, zögerte kurz und zog dann ein Buch mit beschädigtem Schutzumschlag heraus: The Sheltering Sky des amerikanischen Schriftstellers Paul Bowles. Mit dem Buch unter dem Arm sah er kurz zu Olivia hinüber, bevor er hinausging. Sie sah wieder zu dem Israeli hinüber, der ihren Blick nüchtern neutral erwiderte.

»Sie wollten mir erzählen«, sagte er zuletzt, »wann Sie gemerkt haben, dass Ihr Lebensgefährte und Geschäftspartner ein Drogenhändler ist.«

»Ich habe Gerüchte gehört wie jedermann.«

»Aber im Gegensatz zu allen anderen Leuten konnten sie aus eigener Erfahrung beurteilen, ob sie zutrafen. Schließlich sind Sie offiziell die Besitzerin der Galerie, die eine seiner effektivsten Geldwaschanlagen ist.«

Sie lächelte. »Wie naiv von Ihnen.«

»Wieso?«

»Jean-Luc versteht sich sehr gut darauf, seine Geheimnisse zu bewahren.« Dann fügte sie hinzu: »Fast so gut wie Sie und Ihre Freunde.«

»Wir sind Profis.«

»Jean-Luc auch«, sagte sie düster.

»Haben Sie ihn jemals danach gefragt?«

»Ob er ein Drogenhändler ist?«

»Ja.«

»Nur einmal. Er hat gelacht. Und dann hat er mir geraten, ihn nie mehr nach seinen Geschäften zu fragen.«

»Haben Sie’s noch mal getan?«

»Niemals.«

»Warum nicht?«

»Weil ich noch andere Gerüchte gehört habe«, antwortete sie. »Gerüchte über das Schicksal von Leuten, die ihn hintergangen haben.«

»Trotzdem sind Sie bei ihm geblieben«, stellte er fest.

»Ich bin geblieben«, antwortete sie, »weil ich Angst vor dem Gehen hatte.«

»Oder weil Sie Angst hatten, Sie würden Ihre Galerie verlieren?«

»Beides«, gestand sie ein.

Er lächelte schwach, wurde aber sofort wieder ernst. »Ich bewundere Ihre Aufrichtigkeit, Olivia.«

»Aber sonst nichts?«

»Wie Nicolas Carnot tendiere ich dazu, mir ein Urteil vorzubehalten. Vor allem wenn es um wertvolle Informationen geht.«

»Um was für Informationen?«

»Zum Beispiel über die Organisation von Jean-Lucs Geschäft. Sie müssen im Lauf der Zeit einiges über die Struktur seines Imperiums mitbekommen haben. Die ist, vorsichtig gesagt, ziemlich undurchsichtig. Von außen betrachtet haben wir einige seiner wichtigsten Leute identifizieren können. Für jede Abteilung – Restaurants, Hotels, Modelabel und so weiter – gibt es einen Chef, aber trotz aller Bemühungen haben wir den Chef von JLMs Drogenhandel bisher nicht identifizieren können.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Eigentlich nicht. Wer ist dieser Chef? Etwa Jean-Luc persönlich?«

Sie sagte nichts.

»Die Zeit drängt, Olivia. Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen wissen, wie Jean-Luc seine Drogengeschäfte managt. Wie er seine Anweisungen erteilt. Wie er sich von allem so abkoppelt, dass die Polizei ihm nichts anhaben kann. Das passiert nicht durch Osmose oder Telekinese. Irgendwo gibt es einen Vertrauten, der seine Interessen wahrt. Ich meine jemanden, der sich in seinem Umfeld bewegen kann, ohne Verdacht zu erwecken. Jemanden, mit dem er nur unter vier Augen spricht – mit leiser Stimme, in einem Raum ohne Telefone. Sie wissen bestimmt, wer dieser Mann ist, Olivia. Vielleicht kennen Sie ihn. Vielleicht ist er Ihr Freund.«

»Er ist kein Freund«, sagte sie nach kurzem Zögern, »aber ich weiß, wer er ist. Und ich weiß, was mir zustoßen würde, wenn ich ihn verriete. Er würde mich ermorden. Und nicht mal Jean-Luc könnte ihn daran hindern.«

»Niemand tut Ihnen etwas, Olivia.«

Sie betrachtete ihn skeptisch. Er spielte den leicht Gekränkten.

»Bedenken Sie, welchen Aufwand wir getrieben haben, um Sie heute herzuholen. Haben wir nicht gezeigt, dass wir Profis sind? Haben wir nicht bewiesen, dass wir vertrauenswürdig sind?«

»Und wenn Sie nicht mehr hier sind? Wer beschützt mich dann?«

»Sie brauchen keinen Schutz«, antwortete er, »weil Sie dann auch nicht mehr hier sind.«

»Wo bin ich dann?«

»Das müssen Sie selbst und Ihr Landsmann entscheiden«, sagte er mit einem Nicken zu dem britischen Geheimdienstchef hinüber. »Ich könnte Ihnen in Tel Aviv ein hübsches Apartment mit Meerblick anbieten, aber ich vermute, dass Ihnen England besser gefallen würde.«

»Und wovon soll ich leben?«

»Von der Galerie, die Sie führen.«

»Welche?«

»Die Galerie Olivia Watson.« Er lächelte. »Obwohl Ihre Kollektion mit Drogengeldern zusammengekauft wurde, sind wir bereit, sie Ihnen zu lassen. Mit zwei Ausnahmen«, fügte er hinzu.

»Welchen?«

»Die Ausnahmen sind der Guston und der Basquiat. Monsieur Antonow möchte Ihnen einen Scheck über fünfzig Millionen Euro für beide ausstellen, damit Sie Jean-Luc gegenüber belegen können, wie Sie den Nachmittag verbracht haben. Und keine Sorge – anders als Monsieur Antonow ist sein Geld durchaus echt.«

»Sehr großzügig von Ihnen«, sagte sie. »Aber Sie haben mir noch immer nicht verraten, worum es hier geht.«

»Es geht um Paris«, sagte er. »Und London. Und Antwerpen. Und Amsterdam. Und Stuttgart. Und Washington. Und um mindestens hundert weitere Anschläge, von denen Sie nie gehört haben.«

»Jean-Luc ist kein Engel, aber auch kein Terrorist.«

»Ganz recht. Aber wir glauben, dass er mit einem Geschäfte macht, was bedeutet, dass er Terroranschläge finanziert. Mehr darf ich zu diesem Thema nicht sagen. Je weniger Sie wissen, desto besser für Sie. So funktioniert das in unserer Branche. Und Sie brauchen nur zu wissen, dass wir Ihnen die Chance Ihres Lebens geben. Die Chance auf einen echten Neubeginn. Stellen Sie sich eine leere Leinwand vor, auf die Sie jedes beliebige Bild malen können. Und dafür müssen Sie uns nur einen Namen nennen.« Er fragte lächelnd: »Sind wir uns also einig, Ms. Wilson?«

»Watson. Ich heiße Olivia Watson. Und ja«, sagte sie nach kurzer Pause, »wir sind uns einig.«

Sie redeten bis zum späten Nachmittag, während die Hitze nachließ und die Schatten im Garten und dem Olivenhain auf dem Hügel hinter der Villa lang und dünn wurden. Über die Umstände ihrer Rückkehr nach Großbritannien. Über ihr Verhalten Jean-Luc gegenüber in den kommenden Tagen. Und über ihre Reaktion auf irgendeinen unvorhergesehenen Notfall. Der Israeli mit den grünen Augen sprach von einem Krisenplan, von einem »Notausstieg« und erklärte Olivia, er dürfe nur in äußerster Gefahr benutzt werden, weil er unweigerlich viel Zeit und Mühe entwerten und unzählige Millionen, die für das Unternehmen ausgegeben worden waren, vergeuden würde.

Erst dann fragte er Olivia nach dem Namen des Mannes, dem Jean-Luc Martel die Leitung seines milliardenschweren Drogenimperiums anvertraut hatte. Der für die schmutzige Seite von JLM Enterprises verantwortlich war, wie der Israeli es ausdrückte. Die Seite, die alles andere – die Restaurants, die Hotels, die Boutiquen und Shops, die Galerie an der Place de l’Ormeau – erst möglich machte. Als Olivia ihn erstmals nannte, sprach sie so leise, als drücke eine Hand ihr die Kehle zu. Der Israeli bat sie, den Namen zu wiederholen, und als Olivia seinem Wunsch nachkam, wechselte er einen langen fragenden Blick mit Paul Rousseau. Nach kurzer Pause nickte Rousseau und beschäftigte sich dann wieder mit seiner ausgegangenen Pfeife, während auf der anderen Seite des Raums Nicolas Carnot den Roman von Bowles ins Bücherregal zurückstellte.

Danach gab es keine Diskussion mehr über Drogen oder Terrorismus oder die wahren Gründe, aus denen Olivia in die Villa außerhalb vom Ramatuelle gebracht worden war, Monsieur Antonow erschien lächelnd, verströmte mit russischem Akzent gute Laune und vereinbarte mit Olivia, die keinen Scheck wollte, auf welches Konto die fünfzig Millionen überwiesen werden sollten. Um den Deal zu besiegeln, wurde eine Flasche Champagner geöffnet. Olivia trank keinen Schluck aus dem Glas, das man ihr in die Hand drückte. Auch der Israeli rührte seines nicht an. Sie fand seine Selbstdisziplin bewundernswert.

Kurz nach 18 Uhr gab Nicolas Carnot Olivia ihr Smartphone zurück. Wann er es an sich gebracht hatte, konnte sie nicht genau sagen. Vermutlich hatte er es auf der Fahrt von Saint-Tropez hierher aus ihrer Handtasche gezogen. Auf dem Display sah sie mehrere Textnachrichten, die während ihrer Befragung eingegangen waren. Die letzte stammte von Jean-Luc und war noch keine Minute alt. Er teilte ihr mit, er sei dabei, in seinen Hubschrauber zu steigen, und werde binnen einer Stunde zu Hause sein.

Olivia sah besorgt auf. »Was soll ich antworten?«

»Was würden Sie normalerweise schreiben?«, fragte der Israeli.

»Ich würde ihm einen guten Flug wünschen.«

»Dann tun Sie das bitte. Und Sie könnten erwähnen, dass Sie eine fünfzig Millionen schwere Überraschung für ihn haben. Das dürfte seine Laune verbessern. Aber geben Sie nicht zu viel preis. Wir wollen ihm die Überraschung nicht verderben.«

Olivia tippte eine Antwort und zeigte ihm, was sie geschrieben hatte.

»Ausgezeichnet.«

Sie drückte auf Senden.

»Sie sollten jetzt fahren«, sagte der Israeli. »Wir wollen nicht, dass Cinderellas Kutsche sich in einen Kürbis zurückverwandelt, nicht wahr?«

Draußen zogen vom Wind zerfaserte Wolken rasch über den Abendhimmel. Auf der Rückfahrt zur Baie de Cavalaire sprach Nicolas Carnot nur Französisch – und nur über Monsieur Antonow und die gekauften Gemälde. Sie sollten sofort nach Eingang der Überweisung in die Villa Soleil gebracht werden. Madame Sophie, sagte er, habe schon zwei Plätze für sie ausgesucht.

»Sie hasst mich«, sagte Olivia.

»Sie ist in Ordnung, wenn man sie erst besser kennt.«

»Ist sie Französin?«

»Was sollte sie sonst sein?«

Die Antonows wohnten am Westrand der Bucht, Jean-Luc und Olivia im Osten. Als sie sich dem kleinen Spar-Markt an der Ecke zum Boulevard Saint-Michel näherten, verlangte Monsieur Carnot, dort abgesetzt zu werden. Er drückte Olivia leicht die Hand und versicherte ihr auf Englisch, sie handele richtig und habe nichts zu befürchten. Dann wünschte er ihr einen schönen Abend, lächelte, als sei nachmittags nichts passiert, und stieg aus. Als sie ihn zuletzt im Rückspiegel sah, flitzte er auf einem Motorroller rasch in die Gegenrichtung davon. Auf der Flucht vom Tatort, dachte sie.

Olivia fuhr die Bucht entlang nach Osten weiter und betrat wenige Minuten später die Luxusvilla, in der sie mit dem Mann lebte, den sie soeben verraten hatte. Sie goss sich in der Küche ein großes Glas Rosé ein und nahm es auf die Terrasse mit. Vor dem Feuerball der untergehenden Sonne konnte sie eben noch die Umrisse von Monsieur Antonows monströser Villa ausmachen. Im nächsten Augenblick klingelte ihr Smartphone. Sie starrte aufs Display. BIN IN FÜNF MINUTEN DA … WAS IST DIE ÜBERRASCHUNG? »Die Überraschung besteht darin«, sagte Olivia laut, »dass dein russischer Freund und sein Miststück von einer Frau mir fünfzig Millionen Euro überweisen werden.« Das wiederholte sie so oft, bis sie’s selbst glaubte.