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RUE DE GRENELLE, PARIS

»Von wie vielen Schusswaffen reden wir genau?«

»Zwanzig, glaube ich.«

»Und woher hatte dieser britische Geheimdienstmann zwanzig Kalaschnikows und Maschinenpistolen?«

Aus Gabriels Miene sprachen Unwissenheit und Gleichgültigkeit oder irgendetwas dazwischen.

»Und er hat sich als Korse ausgegeben?«, fragte Rousseau. »Wissen Sie das bestimmt?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Schon möglich. Um den korsischen Dialekt nachahmen zu können, muss man viele Jahre auf der Insel gelebt haben, wissen Sie.«

Gabriel sagte nichts.

»Dieser britische Agent ist ein Freund von Ihnen?«

»Wir sind Bekannte.«

»Er muss sehr gute Verbindungen haben, wenn er so was planen und durchziehen konnte. Und recht talentiert sein.«

»Er muss noch viel lernen.«

»Welches Interesse haben Sie an dieser schäbigen Affäre?«, fragte Rousseau.

»Mich interessiert Saladin«, sagte Gabriel.

»Mich auch. Deshalb werde ich bis zehn zählen und meinen Zorn beherrschen. Weil es durchaus möglich ist, dass Ihr britischer Freund es geschafft hat, etwas zu beweisen, das ich seit Langem vermutet habe.«

»Und das wäre?«

Rousseau gab jedoch keine Antwort, zumindest nicht direkt. Stattdessen schlüpfte er in die Rolle eines Professors und ging weit ausholend in den hoffnungsvollen Winter des Jahres 2011 zurück. Die Unrechtsregimes in Tunesien und Ägypten waren durch eine plötzliche Woge aus Volkszorn und Demokratiebestrebungen weggeschwemmt worden. Dann war Libyen an der Reihe. Im Januar kam es zu vereinzelten Protesten wegen Wohnungsnot und politischer Korruption, die sich bald zu einem Volksaufstand ausweiteten. Rasch wurde jedoch klar, dass Muammar al-Gaddafi, der libysche Diktator, nicht dem Beispiel seiner Kollegen in Tunis und Kairo folgen und still in die arabische Nacht verschwinden würde. Er hatte Libyen über vier Jahrzehnte lang mit eiserner Faust regiert, den Ölreichtum des Landes geplündert und seine Gegner ermorden lassen – manchmal nur zur eigenen Unterhaltung. Als Mann aus der Wüste war ihm klar, welches Schicksal ihn erwartete, wenn er stürzte. Und so verwickelte er sein rückständiges Land in einen grausamen Bürgerkrieg. Weil der Westen ein Blutbad fürchtete, intervenierte er militärisch, wobei Frankreich die Führung übernahm. Im Oktober war al-Gaddafi tot und Libyen befreit.

»Und was haben wir gemacht? Haben wir Libyen mit Geld und sonstigen Hilfeleistungen überflutet? Haben wir seine Hand gehalten, während es versuchte, den Übergang von einer Stammesgesellschaft zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild zu schaffen? Nein«, sagte Rousseau, »das alles haben wir nicht gemacht. Tatsächlich haben wir fast nichts getan. Und was waren die Folgen unserer Untätigkeit? Mit Libyen ist ein weiterer Staat gescheitert, und der IS hat sich im dortigen Machtvakuum festgesetzt.«

Die von einem sicheren Zufluchtsort für den Islamischen Staat in Nordafrika ausgehende Gefahr liege auf der Hand, fuhr Rousseau fort. Von dort aus konnten die Terroristen Kämpfer und Waffen nach Westeuropa schleusen und praktisch uneingeschränkt Anschläge verüben. Aber innerhalb weniger Monate nach der Ankunft des IS in Libyen machten Polizeien von Spanien bis Griechenland eine weitere beunruhigende Entdeckung: Der Drogenschmuggel aus Nordafrika, speziell von Haschisch aus Marokko, erreichte neue Rekordhöhen. Darüber hinaus gab es Veränderungen bei den traditionellen Schmugglerrouten. Während die Banden sich bisher damit begnügt hatten, Drogen in kleinen Mengen mit Jetskis oder Booten über die Straße von Gibraltar zu transportieren oder die Balkanroute zu benutzen, waren im Mittelmeer jetzt ganze Drogenfrachter unterwegs.

»Nehmen Sie zum Beispiel die Apollo, ein unter griechischer Flagge fahrender Seelenverkäufer, der kurz nach der Ankunft des IS in Libyen von der italienischen Marine vor Sizilien aufgebracht wurde. Die Italiener hatten aus Nordafrika den Tipp bekommen, an Bord befinde sich eine ungewöhnlich große Menge Haschisch. Trotzdem war die Größe ihres Fundes ein Schock: siebzehn Tonnen, eine absolute Rekordmenge.«

Aber die Apollo, erklärte Rousseau, sei erst der Anfang gewesen. In den folgenden drei Jahren beschlagnahmten die europäischen Behörden mehrmals riesige Drogenmengen. Alle Schiffe hatten eines gemeinsam: Sie kamen aus libyschen Häfen. Und alle Aufgriffe erfolgten nach Tipps von gut informierten nordafrikanischen Informanten. Insgesamt wurden über dreihundert Tonnen Drogen mit einem geschätzten Verkaufswert von drei Milliarden Dollar vom Markt genommen. Dann jedoch verstummten die Informanten plötzlich, und die Zahl der Beschlagnahmen ging drastisch zurück.

»Aber warum? Woher dieser plötzliche Wechsel im Verhalten der Schmuggler? Wieso wurden plötzlich Unmengen von Drogen in die Märkte gedrückt? Und was hatte die Informanten zum Verstummen gebracht?«, fragte Rousseau. »Hier in Frankreich sind wir zu dem Schluss gelangt, in der Drogenszene gebe es einen mächtigen neuen Akteur. Jemand, der die Kontrolle über die Schmuggelrouten an sich reißen konnte. Jemand, dessen Vorgehen die eingeschüchterten Informanten verstummen ließ. Jemand, der bereit war, den Verlust wertvoller Ladungen zu riskieren, nur um rasch möglichst viel Geld zu machen. Wir haben festgestellt, dass nur eine Gruppe alle diese Kriterien erfüllte.«

»Der Islamische Staat?«

Rousseau nickte langsam. »Das Bündnis zwischen Haschisch und Terrorismus«, sagte er, »existiert seit undenklichen Zeiten. Wie Sie wissen, kommt das Wort Assassine von der arabischen Bezeichnung Haschaschin für die Schia-Meuchelmörder, die unter dem Einfluss von Haschisch mordeten. Die Hisbollah, ihre Nachfolgerin im Libanon, finanziert sich teilweise durch den Verkauf von Haschisch, von dem viel nach Israel geht. Und der IS ist praktisch seit seiner Gründung ein Akteur in der Drogenwelt – vor allem durch die Erhebung von Abgaben auf Drogentransporte über sein Territorium. Wir vermuten jetzt, dass der IS einen Großteil des Drogenschmuggels nach Europa kontrolliert. Und die meisten dieser Drogen schmuggelt die Organisation eines einzigen Mannes. Des Mannes, für den Ihr Freund hier arbeitet«, fügte er hinzu und tippte auf das Foto, das Nouredine Zakaria zeigte.

Rousseaus Pfeife war ausgegangen. Sehr zu Gabriels Enttäuschung griff der Franzose gleich wieder nach seinem Tabaksbeutel.

»Meine größte Sorge war«, fuhr Rousseau fort, »die Beziehung könnte übers Finanzielle hinausgehen, sodass der IS die Infrastruktur des Verteilernetzes dieses Mannes dazu benutzen könnte, Anschläge in Europa zu verüben. Hat Ihr britischer Freund mit der Behauptung recht, Nouredine Zakaria habe die in London benützten Waffen beschafft, scheint eingetreten zu sein, was wir befürchtet haben. Die Frage ist nur: Hat Nouredine selbstständig gehandelt? Oder mit Einverständnis seines Bosses?«

»Vielleicht sollten wir ihn fragen.«

»Nouredines Boss? Leichter gesagt als getan. Er ist hier in Frankreich sehr beliebt«, erläuterte Rousseau, »vor allem bei den Schönen und Reichen. Sie dinieren in seinen Restaurants, trinken und tanzen in seinen Nachtclubs. Sie schlafen in seinen Hotels, shoppen in seinen Boutiquen und behängen sich mit teurem Schmuck aus seiner exklusiven Kollektion. Und ja, sie rauchen oder schnupfen oder spritzen sich manchmal seine Drogen. Unser Staatspräsident ist ebenso mit ihm befreundet wie der Innenminister und hohe Beamte aus dem Justizministerium. Sie sorgen dafür, dass ihm keine unangenehmen Fragen gestellt werden und Ermittlungen nie zu nahe an sein Firmenimperium herankommen.«

»Hat er auch einen Namen?«

»Jean-Luc Martel.«

»JLM?«

Rousseau wirkte ehrlich überrascht. »Sie kennen seinen Namen?«

»Ich war im Laufe der Jahre oft in Frankreich. Jean-Luc Martel ist ziemlich schwer zu übersehen.«

»Er ist richtig berühmt, das muss man ihm lassen. Einer unserer erfolgreichsten Unternehmer. Zumindest berichten das die Medien. Aber das ist alles Schwindel. Martels wahres Geschäft ist der Drogenhandel.« Rousseau schwieg einen Augenblick. »Aber wenn ich das meinem Minister erzählen würde, würde er mich nur auslachen. Und dann würde er zum Dinner in Martels neuem Restaurant am Boulevard Saint-Germain fahren. Das ist momentan schwer angesagt.«

»Ja, das habe ich gehört.«

Rousseau musste unwillkürlich lächeln.

»Vielleicht lässt Martel mit sich reden«, meinte Gabriel. »Ein Appell an seinen Patriotismus.«

»Bei Jean-Luc Martel? Aussichtslos.«

»Dann müssen wir ihm auf die altmodische Art beikommen, denke ich.«

»Wie?«

»Überlassen Sie das mir.«

Eine kurze Pause.

»Und wenn wir’s schaffen?«, fragte Rousseau zuletzt.

»Dann kann er uns vielleicht zu dem führen, nach dem wir beide fahnden.«

»Ja«, sagte Rousseau. »Das könnte er vielleicht. Aber das genehmigt mein Minister nie.«

»Was Ihr Minister nicht weiß, macht ihn nicht heiß.«

Der Franzose lächelte spitzbübisch. »Und die Grundregeln?«, fragte er.

»Genau wie beim letzten Mal. Eine gleichberechtigte Partnerschaft. Im Ausland entscheide ich, und Sie können gegen alles, was auf französischem Boden geplant ist, Ihr Veto einlegen.«

»Was ist mit den Briten?«

»Sie leihen mir den Mann aus, der Französisch spricht wie ein Korse.«

»Wie viel weiß ich darüber, wie die Sache mit Nouredine Zakaria und diesen Waffen wirklich abgelaufen ist?«

»Ungefähr fünfzig Prozent.«

»Will ich auch den Rest erfahren?«

»Niemals!«

»Dann«, sagte Rousseau, »sind wir uns einig, denke ich.«

Rousseau telefonierte mit dem Innenministerium und forderte Kopien von zwei Akten an, von denen eine den Namen Nouredine Zakaria und die andere den seines Bosses trug. Der Leiter der Registratur, ein Beamter in bester französischer Tradition, erhob sofort Einwände. Wozu interessierte Rousseau, der Dschihadis bekämpfen sollte, sich plötzlich für einen gewöhnlichen marokkanischen Verbrecher und einen der bekanntesten französischen Unternehmer? Das sei, fand der Registerbeamte, eine recht seltsame Kombination – wie Austern mit Rotwein. Rousseau beherrschte sich, statt ihm mitzuteilen, er finde seine Analogie bestenfalls kindisch. Er begnügte sich damit, ihm zu erklären, als Chef einer DGSI-Abteilung – selbst einer, die offiziell nicht existiere – habe er Zugang zu allen in Frankreich gespeicherten Akten. Der Registerbeamte kapitulierte rasch, deutete aber an, die Zustellung werde sich um einige Stunden verzögern, weil die Akten sehr umfangreich seien. Die wertvolle Zeit anderer zu vergeuden, dachte Rousseau, ist die letzte Rache eines Bürokraten.

Wie sich dann zeigte, dauerte es weniger als eine Stunde, um die angeforderten Akten herauszusuchen und zu kopieren. Ein Motorradkurier der Alphagruppe holte die Dokumente um 16.52 Uhr ab und schaffte es wie durch ein kleines Wunder, sie um 17.11 Uhr in der Rue de Grenelle abzuliefern. Der Wachmann an der Einfahrt notierte die Zeit in seiner Kladde und inspizierte flüchtig die Akten – etwa fünfhundert, von großen Metallklammern zusammengehaltene Seiten –, bevor er den Kurier passieren ließ. Um fit zu bleiben, benutzte er statt des oft unzuverlässigen Aufzugs die Treppe und legte die Dokumente um 17.14 Uhr auf Madame Trevilles Schreibtisch. Auch diese Zeit wurde notiert: Treville vermerkte sie in ihrem Kalender, der später gefunden wurde.

Wenig später streckte Christian Bouchard, der immer ein Gespür für Gefahr oder Chancen hatte, seinen gut frisierten Kopf zur Tür herein, sah die Akten auf Madame Trevilles Schreibtisch und kam neugierig herein, um einen Blick darauf zu werfen.

»JLM? Wer hat die angefordert?«

»Monsieur Rousseau.«

»Wozu?«

»Das müssen Sie ihn selbst fragen.«

»Wo ist er?«

»Im Besprechungsraum.« Sie senkte die Stimme. »Mit dem Israeli.«

»Allon?«

Madame Treville nickte ernst.

»Wieso bin ich dazu nicht eingeladen worden?«

»Als er gekommen ist, waren Sie beim Mittagessen.« Aus ihrem Mund klang das vorwurfsvoll. »Monsieur Rousseau hat mich gebeten, ihm die Akten sofort zu bringen. Vielleicht sind Sie so freundlich, das für mich zu übernehmen?«

Bouchard griff sich den Papierstapel und nahm ihn zu dem abhörsicheren Besprechungsraum mit, hinter dessen Panzerglasscheiben er Allon und Rousseau ins Gespräch vertieft sitzen sah. Er gab seinen Zugangscode auf dem Tastenfeld ein, betrat den Raum und ließ die schweren Akten wie den Beweis für eine Verschwörung auf den Tisch plumpsen.

In genau diesem Augenblick, als fünfhundert Blatt Papier auf den Tisch klatschten, detonierte die Bombe. Tatsächlich war das Timing so exakt, dass Gabriel ursprünglich glaubte, irgendwie seien die Dokumente selbst detoniert. An die folgenden Ereignisse konnte er sich später zum Glück kaum erinnern. Er spürte, dass er durch einen Blizzard aus Glassplittern und Ziegeltrümmern und Menschenblut stürzte und dass Paul Rousseau und Christian Bouchard mit ihm fielen. Als er endlich zur Ruhe kam, hatte er den Eindruck, im eigenen Sarg eingeschlossen zu sein. Sein letzter bewusster Gedanke galt seiner Beerdigung: eine kleine Gruppe von Trauernden an einem offenen Grab auf dem Ölberg, zwei kleine Kinder, ein Mädchen, das den Namen ihrer Großmutter Irene trug, und ein Junge mit dem Namen eines großen Malers. Sie würden keine Erinnerungen an ihn haben, seine Kinder. Für sie war er ein Mann, der im Dunkeln gekommen und gegangen war. Und ins Dunkel kehrte er nun zurück.