65 – ZAÏDA
65
ZAÏDA
Wie alle Kleinstädte der Welt war Zaïda von Natur aus eine Frühaufsteherin. Eines der Cafés am Hauptplatz hatte schon geöffnet, und an der Haltestelle gegenüber ließ ein qualmender Bus Fahrgäste nach Fès einsteigen. Der Gestank von Dieselabgasen drang in den Wagen, als Jaakov, der dabei einer Ziege ausweichen musste, an dem Bus vorbeifuhr. Sein Tempo war perfekt. Nicht zu schnell. Und vor allem nicht zu langsam, was aus Gabriels Sicht ebenso wichtig war. Er lenkte mit der linken Hand, und seine Rechte lag locker auf dem Schaltknüppel. Im Gegensatz zu ihm trommelte Michail mit den Fingern seiner Linken auf der Mittelkonsole. Keller dagegen schien von den kommenden Ereignissen völlig unbeeindruckt zu sein. Hätte er nicht eine AK-74 quer über den Knien liegen gehabt, hätte er ein Tourist auf einem Tagesausflug in einem exotischen Land sein können.
»Kannst du nicht wenigstens so tun, als seist du etwas besorgt?«, fragte Gabriel ihn.
»Weswegen?«
»Zum Beispiel wegen deines Gewehrs. Die Knarre sieht aus wie ein Museumsstück!«
»Eine verdammt gute Waffe, die Kalaschnikow. Außerdem hat sie heute Nacht im Lager einwandfrei funktioniert. Du brauchst nur deinen Freund Dmitri Antonow zu fragen. Er kann es dir bestätigen.«
Aber Michail hörte nicht zu. Seine Finger trommelten weiter auf der Mittelkonsole herum.
»Kannst du das nicht irgendwie abstellen?«, fragte Keller.
»Ich hab’s versucht.«
»Versuch’s energischer.«
Jaakov nahm die rechte Hand vom Schaltknüppel und legte sie auf Michails Linke. Das Trommeln hörte auf.
»Besten Dank«, sagte Keller.
Wenige Hundert Meter nach dem Hauptplatz franste die Kleinstadt bereits aus. Sie überquerten ein trockenes Bachbett und fuhren durch ein Schattenreich zwischen schwindender Zivilisation und beginnender Wildnis. Auf beiden Straßenseiten standen teils baufällige Gebäude auf brauner Erde, und weiter im Osten lag wie eine Insel in einem Meer aus Steinen der Komplex, der ihr Ziel war. Aus der Ferne ließ sich unmöglich erkennen, was dort stand: ein Wohnhaus, eine Fabrik, eine geheime staatliche Einrichtung, der Schlupfwinkel des gefährlichsten Terroristen der Welt … Die Grundstücksmauer schien drei bis dreieinhalb Meter hoch zu sein und war mit Rollen von Bandstacheldraht gekrönt. Der Privatweg von der Fernstraße aus war unbefestigt, sodass jedes ankommende Fahrzeug viel Lärm machen und eine Staubfahne hinter sich herziehen musste.
Gabriel hob ihr Satellitentelefon ans Ohr. Er war mit Adrian Carter in Langley verbunden.
»Könnt ihr uns sehen?«
»Ihr seid schwer zu übersehen.«
»Irgendwas verändert?«
»Zwei drinnen, drei draußen. Die beiden sind im selben Raum. Einer von ihnen hat sich längere Zeit nicht mehr bewegt.«
Gabriel ließ das Satphone sinken. Jaakov starrte ihn im Innenspiegel an.
»Sobald wir abbiegen«, sagte er, »ist unser Überraschungsmoment futsch.«
»Aber wir können sie ohnehin nicht überraschen, Jaakov. Wir werden erwartet.«
Jaakov bog von der Straße auf den zu dem Komplex führenden Privatweg ab.
»Aufblenden«, wies Gabriel ihn an.
Jaakov tat wie geheißen und strahlte das kahle, steinige Gelände grellweiß an. »Jetzt können sie uns sehen.«
Gabriel hob ein Smartphone ans Ohr und forderte Natalie auf, an der Haustür zu klingeln.
Natalie hatte den Text bereits in Mohammad Bakkars Samsung eingegeben. Auf Gabriels Anweisung sendete sie ihn jetzt.
»Nun?«, fragte er.
»Er antwortet bestimmt gleich.«
Endlich erschien die Antwort.
»Er schreibt, dass sie das Tor öffnen.«
»Wie nett von ihnen. Aber sie sollen sich beeilen! Der Arzt will den Verletzten dringend sehen.«
Natalie benutzte noch mal Bakkars Smartphone. Dann schaltete sie den Lautsprecher ihres Mobiltelefons ein und wartete auf die ersten Schüsse.
Inzwischen sprach Gabriel wieder mit Adrian Carter in Langley.
»Irgendwas verändert?«
»Zwei Männer sind dabei, das Tor zu öffnen, einer kommt die Treppe herunter. Er scheint ein Gewehr zu haben.«
»So viel zu arabischer Gastfreundlichkeit«, murmelte Gabriel und ließ das Telefon sinken.
Sie waren noch etwa fünfzig Meter von dem Komplex entfernt, auf den sie langsam zurollten. Ihre wieder abgeblendeten Scheinwerfer beleuchteten das zweiflüglige massive Stahltor. Als Jaakov anhielt, umgab sie eine Staubwolke wie leichter Nebel. Einige Sekunden lang passierte nichts.
»Was ist drinnen los?«, fragte Gabriel in Langley nach.
»Sie sind anscheinend dabei, das Tor zu öffnen.«
»Wo ist der dritte Mann?«
»Der wartet vor dem Hauseingang.«
»Und wo liegt der Eingang von uns aus gesehen?«
»Bei zwei Uhr.«
Gabriel ließ das Satphone wieder sinken, als zwischen den Torflügeln ein Spalt erschien. Er teilte den drei anderen mit, was er von Carter erfahren hatte, und erteilte knappe letzte Anweisungen.
Keller runzelte die Stirn. »Kannst du das in einer Sprache wiederholen, die auch ich verstehe?«
Gabriel hatte nicht gemerkt, dass er Hebräisch sprach.
Die von zwei Paar Händen gezogenen Torflügel begannen plötzlich, sich nach innen zu öffnen. Jaakov stützte die Uzi Pro aufs Lenkrad und zielte damit auf das rechte Händepaar. Michail zielte mit seiner Kalaschnikow auf die linken Hände.
»Schon gut«, sagte Keller. »Keine Übersetzung nötig.«
Endlich war das Tor so weit geöffnet, dass ein PKW hindurchpasste. Zwei Männer, beide mit Sturmgewehren bewaffnet, traten in die Lücke und bedeuteten Jaakov, auf den Hof zu fahren. Stattdessen gab er durch die Frontscheibe einen langen Feuerstoß auf den rechten Mann ab. Gleichzeitig traf Michail vom Beifahrersitz aus den linken Mann mit mehreren Schüssen. Keiner der beiden Wachposten konnte noch zurückschießen, aber als Jaakov durchs Tor beschleunigte, wurden sie vom Hauseingang her beschossen. Michail erwiderte das Feuer durch das offene rechte Seitenfenster, und auch Gabriel hinter ihm gab mehrere Schüsse aus seiner Jericho Kaliber .45 ab. Das Feuer vom Hauseingang her verstummte binnen weniger Sekunden.
Jaakov bremste scharf und zog die Handbremse an, während Michail und Gabriel aus dem Nissan sprangen und über den Hof zum Hauseingang rannten. Michail hatte bald einen Vorsprung vor Gabriel, der nun auch von Keller überholt wurde. Bei dem am Eingang liegenden dritten Schützen machten die beiden Elitesoldaten kurz halt. Gabriel warf einen Blick auf die leblose Gestalt und erkannte Nazir Bensaïd.
Hinter dem Hauseingang lag im Morgengrauen ein luxuriöser maurischer Innenhof mit reich geschnitzten Zedernholztüren auf allen vier Seiten. Keller und Michail stürmten durch die rechte Tür und durchquerten ein Foyer, um zu einer Steintreppe zu gelangen. Sie wurden sofort von oben beschossen. Während die beiden Agenten sich links und rechts in Deckung warfen, blieb Gabriel draußen auf dem Hof festgenagelt. Als keine Schüsse mehr fielen, schlüpfte er ins Foyer und ging neben Michail in Deckung. Ihnen gegenüber zielte Keller mit seiner AK-74 ins Treppenhaus und schoss mehrmals blind ins Dunkel. Michail folgte seinem Beispiel.
In der Pause, als die beiden nachluden, war von oben kein Laut zu hören. Gabriel streckte seinen Kopf hinter der Ecke hervor. Der obere Treppenabsatz schien frei zu sein, aber in dem hier herrschenden Dämmerlicht war es schwierig, sich Gewissheit zu verschaffen. Keller und Michail wollten geduckt die Treppe hinaufschleichen, aber als sie die unterste Stufe betraten, war ein gellender Schrei zu hören. Eine Frauenstimme, dachte Gabriel, die zwei religiös bedeutsame arabische Worte kreischte, die kaum Zweifel daran ließen, was als Nächstes passieren würde. Er packte Michail hinten an der Jacke und riss ihn rücklings mit sich zu Boden, während Keller sich mit einem Sprung selbst in Sicherheit brachte. Dann detonierte die Bombe – eine Sekunde zu spät. Saladin schien sein Gefühl für Timing eingebüßt zu haben.
Gabriel hatte zwei Mobiltelefone in den Jackentaschen: eines für die Verbindung zu Adrian Carter, das andere für den Kontakt zu Dina und Natalie. Carter und die anderen im Schwarzen Loch hatten den Vorteil, dass die Kameras und Sensoren des Satelliten ihnen Informationen lieferten, aber Dina und Natalie waren auf akustische Signale in schlechter Qualität beschränkt. Trotzdem konnten sie sich gut vorstellen, was in dem Komplex ablief: ein kurzer, aber heftiger Schusswechsel, eine Frau, die gellend laut »Allahu akbar« kreischte, der unverkennbare Knall eines detonierenden Sprengsatzes … Danach herrschte Stille. Dina ließ rasch den Motor an. Wenig später rasten sie auf der Hauptstraße durch Zaïda. Die kleine Stadt im Schatten des Mittleren Atlas war jetzt hellwach.
Die Stufen waren mit den zerfetzten Überresten einer Frau übersät: zierlich, Anfang oder Mitte zwanzig, einst hübsch. Hier ein Bein, dort ein Stück Rumpf, hier eine Hand, die rechte, die noch den Zündknopf umklammerte. Der Kopf war die Stufen hinabgerollt und lag nun vor Gabriels Füßen. Er zog den schwarzen Schleier weg und sah ein von religiösem Wahn verzerrtes zartes Gesicht. Die Augen waren blau wie ein klarer Bergsee. Saladins Frau oder seine Geliebte? Vielleicht seine Tochter? Oder nur eine weitere Schwarze Witwe, eine Trauernde, die sich von Saladin zum Selbstmord hatte anstiften lassen?
Gabriel schloss ihre Augen und bedeckte ihr Gesicht, bevor er Keller und Michail folgte, die jetzt die Treppe hinaufschlichen. Auf dem oberen Treppenabsatz lag die leergeschossene AK-74, die der jungen Frau aus der Hand gefallen war, zwischen ausgeworfenen Patronenhülsen. Nach rechts führte ein Korridor ins Halbdunkel. Er endete an einer Tür – und dahinter, dachte Gabriel, liegt ein Zimmer in der Südostecke des Hauses. Nach Mekka hin ausgerichtet. Ein Zimmer, in dem nun ein Schwerverletzter lag, den niemand mehr beschützte.
Sie stiegen über die Patronenhülsen hinweg, damit sie nicht klirrten, und schlichen den Korridor entlang weiter. Keller erreichte die Tür als Erster und drückte die Klinke hinunter. Die Tür war abgesperrt. Er nickte Michail kurz zu und bedeutete Gabriel, er solle ihnen Platz machen, aber Gabriel schüttelte energisch den Kopf. Als aktiver Direktor kämpfte er lieber aus einem Meter als aus einer Meile Abstand gegen seine Feinde.
Keller widersprach nicht, denn dazu war keine Zeit. Stattdessen brach er die Tür mit einem gewaltigen Tritt auf und folgte dann Gabriel und Michail hinein. Saladin, dessen Gesicht vom bläulichen Schein eines Smartphone-Displays erhellt wurde, lag in der dunkelsten Ecke auf einer nackten Matratze. Er tastete erschrocken nach der Kalaschnikow, die neben ihm lag. Gabriel, der seine Jericho mit ausgestreckten Händen hielt, war mit wenigen raschen Schritten bei ihm und durchsiebte Saladins Herz mit elf Schüssen. Dann bückte er sich nach dem zu Boden gefallenen Smartphone, das vibrierend eine eingegangene Nachricht anzeigte.
INSCHALLAH ES WIRD GESCHEHEN …