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CASABLANCA

Später an diesem Morgen ging Jean-Luc Martel, Hotelier, Restaurateur, Modezar, Juwelier, internationaler Drogenhändler und Agent des französischen und israelischen Geheimdienstes, auf dem Flughafen Nizza an Bord seiner privaten Gulfstream JLM II, um nach Casablanca zu fliegen. Begleitet wurde er von seiner Lebensgefährtin, seinen »Freunden«, die in einer riesigen Villa auf der anderen Seite der Bucht lebten, und einem britischen Spion, der bis vor Kurzem ein erfolgreicher Berufskiller gewesen war. In den Annalen des weltweiten Krieges gegen den Terrorismus hatte noch kein Unternehmen so seltsam angefangen. Dies war eine Premiere, darüber waren sich alle einig. Entgegen jeglicher Vernunft, ohne wirkliche Rechtfertigung hofften sie, dass es zugleich das Letzte sein würde.

Martel hatte dafür gesorgt, dass zwei schwarze Mercedes mit Fahrer bereitstanden, um die Reisegruppe vom Flughafen ins Hotel Four Seasons zu bringen. Sie röhrten an den luxuriösen neuen Apartmentgebäuden und dem Elend der Bidonvilles vorbei, bevor sie auf die Corniche abbogen und in rascher Fahrt die schwer bewachte Hotelzufahrt erreichten. JLM und seine Begleitung waren angemeldet. Deshalb wurden die Limousinen nur flüchtig kontrolliert, bevor sie auf den überdachten Parkplatz weiterfahren durften, auf dem sie ein Bataillon von Pagen erwartete. Alles Gepäck und seine Besitzer mussten den Metalldetektor passieren, was anstandslos klappte – nur bei Christopher Keller nicht, der zweimal Alarm auslöste. Als der Sicherheitschef des Hotels keine verbotenen Gegenstände an seiner Person finden konnte, meinte er im Scherz, er müsse wohl aus Stahl gefertigt sein. Kellers knappes, unfreundliches Lächeln trug nicht dazu bei, sein Misstrauen zu zerstreuen.

In der Kühle der klimatisierten Hotelhalle herrschte Grabesstille, weil der marokkanische Hochsommer für Strandhotels die Nebensaison war. Von der Karawane mit ihrem Gepäck gefolgt, schwebten JLM und seine Gäste auf die Rezeption zu: Martel und Olivia in blendendem Weiß, Michail und Natalie scheinbar gelangweilt, Keller noch immer aufgebracht wegen der Sicherheitskontrolle. Der Hoteldirektor überreichte ihnen ihre Schlüssel – Monsieur Martel und seine Begleitung brauchten sich natürlich nicht selbst einzutragen – und fand ein paar ölige Worte zur Begrüßung.

»Und werden Sie heute Abend bei uns speisen?«, fragte er.

»Ja«, antwortete Keller rasch. »Bitte einen Fünfertisch.«

Das Four Seasons stand sozusagen auf dem Kopf: Hotelhalle in der obersten Etage, Gästezimmer darunter. JLM und seine Gäste waren im dritten Stock untergebracht: Martel und Olivia zwischen Michail und Natalie auf einer und Christopher Keller auf der anderen Seite. Als das Gepäck in den Zimmern war und die Pagen mit einem Trinkgeld abgezogen waren, öffneten Michail und Keller die Verbindungstüren, sodass praktisch eine Suite aus drei Räumen entstand.

»Schon besser«, sagte Keller. »Möchte jemand Lunch?«

Die Nachricht traf im Haus der Spione kurz nach Mittag ein, als Hamid und Tarek in Gabriels Bad vor der Toilette standen und Suren aufsagten, um die Dschinnen zu vertreiben. Sie besagte, JM und seine Begleitung seien im Four Seasons eingetroffen, Mohammad Bakkar oder seine Beauftragten hätten bisher nichts von sich hören lassen, die Gruppe sitze jetzt im Hotelrestaurant beim Lunch. Gabriel schickte die Nachricht verschlüsselt ans Operationszentrum am King Saul Boulevard, das sie wiederum nach Langley, Vauxhall Cross und der DGSI-Zentrale in Levallois-Perret weiterleitete, wo sie mit weit mehr Aufmerksamkeit gelesen wurde, als ihre operative Wichtigkeit rechtfertigte.

Die Beschwörung des WCs endete wenige Minuten nach 13 Uhr, der Lunch um 13.30 Uhr. Kurze Zeit später fuhren Jaakov Rossman und Dina mit einem der Mietwagen weg. Dina, die eine bequeme Baumwollhose und eine weiße Bluse trug, hatte eine Umhängetasche einer französischen Luxusmarke über der Schulter. Jaakov sah aus, als sei er zu einem nächtlichen Überfall im Gazastreifen unterwegs. Um 14 Uhr machten die beiden es sich in einer privaten Cabana im Tahiti Beach Club an der Corniche bequem. Gabriel wies sie an, bis auf Weiteres dortzubleiben. Dann überzeugte er sich davon, dass die ständige Sprechverbindung zu der Suite aus drei Hotelzimmern funktionierte.

»Jemand muss die Tasche ins Hotel schmuggeln«, sagte Eli Lavon.

»Danke, Eli«, antwortete Gabriel. »Darauf wäre ich allein nie gekommen.«

»Ich wollte nur hilfreich sein.«

»Sorry, da haben die Dschinnen aus mir gesprochen.«

Lavon lächelte. »Was hast du vor?«

»Michail wäre natürlich am besten geeignet.«

»Bei Michail würde sogar ich misstrauisch.«

»Vielleicht ist’s dann ein Job für eine Frau.«

»Oder zwei«, schlug Lavon vor. »Außerdem wird es Zeit, dass sie eine Waffenruhe erklären, findest du nicht auch?«

»Sie hatten einen schlechten Start, das ist alles.«

Lavon zuckte mit den Schultern. »Hätte jedem passieren können.«

An dem Tor, das vom bewachten Hotelgelände zur Plage Lalla Meriem, dem Hauptbadestrand Casablancas, hinausführte, war ein Sicherheitsmann postiert, der trotz der Nachmittagshitze einen dunklen Anzug trug. Er beobachtete, wie die beiden Frauen – die große Engländerin, die er schon einige Male gesehen hatte, und eine mürrisch wirkende Französin – über den flachen dunklen Sand zur Brandungslinie gingen. Die Engländerin hatte ein mit großen Blüten bedrucktes Wickeltuch um ihre schmale Taille geknotet und trug dazu ein Top aus durchsichtigem Material, die Französin war mit einem ärmellosen Strandkleid dezenter gekleidet. Die Beach Boys umschwärmten sie sofort und stellten unter Sonnenschirmen zwei Liegestühle am Wasser auf. Die Engländerin verlangte Drinks und gab viel zu viel Trinkgeld, als sie gebracht wurden. Trotz vieler Aufenthalte in diesem Land war ihr marokkanisches Geld nicht vertraut. Das war einer der Gründe dafür, dass die Boys darum wetteiferten, sie bedienen zu dürfen.

Der Sicherheitsmann konzentrierte sich wieder auf das Spiel, das er auf seinem Smartphone spielte; die Beach Boys zogen sich in den Schatten ihrer Hütte zurück. Natalie streifte ihr Baumwollkleid ab, unter dem sie einen einteiligen Badeanzug trug, und legte es in ihre geräumige Strandtasche von Vuitton. Olivia knotete ihr Wickeltuch auf und zog das Top aus. Dann streckte sie ihren langen Körper im Liegestuhl aus und wandte ihr makelloses Gesicht der Sonne zu.

»Du magst mich nicht besonders, nicht wahr?«

»Ich habe nur eine Rolle gespielt.«

»Die hast du sehr gut gespielt.«

Natalie streckte sich wie Olivia aus und schloss wegen der Sonne die Augen. »Tatsächlich«, sagte sie nach kurzer Pause, »lohnt es sich nicht wirklich, dich nicht zu mögen. Du bist nur ein Mittel zum Zweck.«

»Jean-Luc?«

»Auch er ist ein Mittel zum Zweck. Und falls es dich interessiert: Ihn mag ich sogar noch weniger als dich.«

»Du magst mich also?«, fragte Olivia neckend.

»Ein bisschen«, gab Natalie zu.

Zwei muskulöse Marokkaner Mitte zwanzig kamen in Daridscha schwatzend in der knöcheltiefen Brandung vorbei. Natalie lächelte, als sie hörte, was die beiden sagten.

»Sie reden über dich«, sagte sie.

»Woher weißt du das?«

Natalie öffnete die Augen und starrte Olivia ausdruckslos an.

»Du sprichst Marokkanisch?«

»Marokkanisch ist keine Sprache, Olivia. Hier werden drei verschiedene Sprachen gesprochen. Französisch, die Berbersprache und …«

»Vielleicht war alles ein Fehler«, unterbrach Olivia sie.

Natalie lächelte.

»Wie kommt’s, dass du Arabisch sprichst?«

»Meine Eltern stammen aus Algerien.«

»Du bist also Araberin?«

»Nein«, sagte Natalie, »ich bin keine.«

»Dann hatte Jean-Luc also doch recht. Als ihr nach eurem ersten Besuch weggefahren seid, hat er gesagt …«

»Dass ich wie eine Jüdin aus Marseille aussehe.«

»Woher weißt du das?«

»Was glaubst du?«

»Ihr habt uns belauscht.«

»Das tun wir immer.«

Olivia cremte sich die Schultern ein. »Was haben diese Marokkaner über mich gesagt?«

»Es wäre schwierig zu übersetzen.«

»Ich kann’s mir gut vorstellen.«

»Das musst du inzwischen gewöhnt sein.«

»Du aber auch. Du bist sehr schön.«

»Für eine Jüdin aus Marseille.«

»Bist du das?«

»Das war ich früher«, antwortete Natalie. »Aber jetzt nicht mehr.«

»War’s so schlimm?«

»Als Jüdin in Frankreich zu leben?«, fragte Natalie. »Ja, es war so schlimm.

»Bist du deshalb eine Spionin geworden?«

»Ich bin keine Spionin. Ich bin Sophie Antonow, deine Freundin aus Saint-Tropez. Mein Mann hat geschäftlich mit deinem Freund zu tun. In Casablanca sind sie wegen irgendeiner Sache, über die sie nicht reden wollen.«

»Partner«, stellte Olivia richtig. »Jean-Luc mag es nicht, wenn er als mein Freund bezeichnet wird.«

»Irgendwelche Probleme?«

»Zwischen Jean-Luc und mir?«

Natalie nickte.

»Du hast doch gesagt, dass ihr uns belauscht.«

»Das tun wir. Aber du kennst ihn am besten.«

»Glaubst du? Aber nein«, sagte Olivia, »er scheint nicht zu ahnen, dass ich ihn verraten habe.«

»Du hast ihn nicht verraten

»Wie würdest du das nennen?«

»Du hast das Richtige getan.«

»Ausnahmsweise«, sagte Olivia.

Die beiden muskulösen Marokkaner kamen wieder vorbei. Einer starrte Olivia ungeniert an.

»Willst du mir nicht sagen, wozu wir hier sind?«, fragte sie.

»Je weniger du weißt«, antwortete Natalie, »desto besser für dich.«

»So funktioniert das in eurer Branche?«

»Ja.«

»Bin ich in Gefahr?«

»Das hängt davon ab, ob du dich noch mehr ausziehst.«

»Ich habe ein Recht darauf, das zu erfahren.«

Natalie gab keine Antwort.

»Ich vermute, dass unsere Reise mit den beschlagnahmten Haschischtransporten zusammenhängt.«

»Welches Haschisch.«

»Schon gut.«

»Genau«, sagte Natalie. »Alles, was ich dir erzähle, macht es dir nur schwerer, deine Rolle zu spielen.«

»Und die wäre?«

»Die liebevolle Gefährtin Jean-Luc Martels, die keine Ahnung hat, womit er sein Geld wirklich verdient.«

»Mit seinen Hotels und Restaurants.«

»Und mit seiner Galerie«, sagte Natalie.

»Die Galerie gehört mir.« Olivia kniff die Augen zusammen. »Da kommt übrigens Ihre Freundin.«

Natalie sah auf und beobachtete, wie Dina der Brandungslinie folgend auf sie zukam.

»Sie wirkt immer so traurig«, sagte Olivia.

»Sie hat allen Grund dazu.«

»Was ist mit ihrem Bein passiert?«

»Unwichtig«, wehrte Natalie ab.

»Es geht mich nichts an – das meinst du doch?«

»Ich wollte nur höflich sein.«

»Wie erfrischend.« Olivia legte eine Hand über die Augen, um weniger geblendet zu werden. »Komisch, aber sie scheint die gleiche Tasche wie du zu haben.«

»Wirklich?«, fragte Natalie lächelnd. »Was für ein Zufall.«

Der Wachmann war angewiesen, alle am Strand Vorbeigehenden zu beobachten, damit der unglückliche Vorfall, der sich 2015 in Tunis ereignet hatte, als ein salafistischer Terrorist eine AK-74 aus seinem Strandschirm gezogen und achtunddreißig zumeist britische Gäste eines Fünfsternehotels massakriert hatte, sich nicht wiederholte. Allerdings hätte er unter vergleichbaren Umständen nicht viel ausrichten können, denn er hatte keine Waffe, sondern nur ein Funkgerät. Bei einem Terroranschlag sollte er die Sicherheitskräfte alarmieren und dann »alles Menschenmögliche« tun, um den oder die Attentäter auszuschalten. Was vermutlich damit enden würde, dass er sein Leben verlor, während er versuchte, eine Horde halb nackter, reicher Ausländer zu beschützen. So wollte er eigentlich nicht sterben. Aber in Casablanca waren Jobs knapp, vor allem für Jungs aus den Bidonvilles. Und es war besser, die Plage Lalla Meriem im Auge zu behalten, als in der alten Medina Obst von einem Karren zu verkaufen. Auch das hatte er schon gemacht.

An diesem Nachmittag war selbst für August wenig los, deshalb konnte der Sicherheitsmann sich ganz auf die Frau konzentrieren, die aus Westen herankam, wo das Tahiti und weitere Beach Clubs lagen. Sie war klein und schwarzhaarig und anders als die meisten Ausländerinnen am Strand dezent gekleidet. Selbst aus der Ferne wirkte sie irgendwie traurig, als sei sie vor Kurzem Witwe geworden. Über ihrer rechten Schulter hing eine Strandtasche von Louis Vuitton, ein in diesem Sommer sehr beliebtes Modell. Der Wachmann fragte sich, ob der Frau bewusst war, dass ihre Tasche mehr kostete, als viele Marokkaner jemals besitzen würden.

Jetzt hob eine der Frauen in den Liegestühlen am Wasser – die unfreundliche Französin – grüßend den Arm. Die traurig wirkende Schwarzhaarige kam zu ihnen und setzte sich aufs Fußende der Liege der Französin. Die Beach Boys erboten sich, einen dritten Liegestuhl zu bringen, aber die Schwarzhaarige lehnte dankend ab; offenbar wollte sie nicht lange bleiben. Die große schöne Engländerin schien wegen der Störung ungehalten zu sein. Sie starrte gelangweilt aufs Meer hinaus, während die Französin und die traurig aussehende Schwarzhaarige sich angeregt unterhielten und dabei Zigaretten rauchten, die die Französin aus ihrer Strandtasche – ebenfalls von Louis Vuitton, sogar dasselbe Modell – geholt hatte.

Nach einiger Zeit stand die Schwarzhaarige auf und ging. Die Französin, jetzt wieder in ihrem Strandkleid, begleitete sie ungefähr hundert Meter weit am Wasser entlang. Dann umarmten sie sich zum Abschied und gingen ihrer Wege: die traurig aussehende junge Frau zu den Beach Clubs, die Französin zurück zu ihrem Liegestuhl. Nachdem die Französin ein paar Worte gesagt hatte, stand die große schöne Engländerin auf und wickelte sich wieder in ihr Tuch, das sie um die Taille verknotete. Sehr zur Freude des Wachmanns machte sie sich nicht die Mühe, das durchsichtige Top überzustreifen. Und er war vom Anblick ihres perfekten Körpers so fasziniert, dass er nur einen flüchtigen Blick in ihre Strandtaschen warf, als sie gleich darauf durch sein Tor aufs Hotelgelände zurückkamen.

Die beiden Frauen fuhren mit dem Aufzug in den dritten Stock hinauf, wo sie in drei ineinander übergehende Zimmer eingelassen wurden. Die große schöne Engländerin betrat die Suite, die sie sich mit Monsieur Martel teilte. Er zog sie sofort an sich und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das die Französin nicht ganz mitbekam. Aber das spielte keine Rolle; im Haus der Spione hörten sie mit. Sie hörten immer mit.