10 – RUE DABRAY, NIZZA
10
RUE DABRAY, NIZZA
Er war ein Bürger des vergessenen Frankreichs, der riesigen Wohnanlagen der Banlieues, die Großstädte wie Paris, Lyon und Toulouse umgaben. Ihre Bewohner lebten überwiegend in heruntergekommenen Sozialwohnungsblöcken, die Brutstätten für Verbrechen, Drogenmissbrauch, Unzufriedenheit und mehr und mehr radikalen Islam waren. Die überwältigende Mehrheit der wachsenden muslimischen Einwohnerschaft Frankreichs wollte nur in Frieden leben und für ihre Angehörigen sorgen. Aber eine kleine Minderheit hatte sich vom Sirenengesang des IS betören lassen. Und manche von ihnen waren wie Nouredine Zakaria bereit, im Namen des Kalifats zu morden.
Viele Männer wie ihn – Mitglieder nordafrikanischer Banden – hatte Keller bei seiner Arbeit für Don Antonio kennengelernt. Vermutlich wusste Zakaria nicht viel über den Islam, die Gebote des Dschihads oder die Lebensweise der Salafisten, der ursprünglichen Gefolgsleute Mohammeds, die der IS zu imitieren versuchte. Aber der Marokkaner besaß etwas, das für den IS wichtiger war als Koranwissen. Als Berufsverbrecher war er ein Naturtalent, das wusste, wie man sich Waffen und Sprengstoff beschaffte, Autos und Mobiltelefone klaute und Unterkünfte fand, in denen Terroristen sich vor und nach einem Anschlag verstecken konnten. Kurz gesagt, er wusste, wie man Dinge erledigt, ohne die Polizei auf sich aufmerksam zu machen. Für eine Terrororganisation – oder auch einen Geheimdienst – war das ein unerlässliches Talent.
Zakaria war vier bis fünf Zentimeter kleiner als Keller und auffallend kräftig gebaut. Dies war kein im Sportstudio geformter Körper, sondern der durch endlose Gymnastik auf beengtem Raum gestählte Körper eines Häftlings. Er schien ungefähr Mitte dreißig zu sein, aber was das Alter von Nordafrikanern betraf, war Keller sich nie ganz sicher. Äußerlich war er geradezu prototypisch: hohe Stirn mit leicht eingesunkenen Schläfen, schmale Nase, breite Wangenknochen, volle, dunkle Lippen. Obwohl er eine Pilotenbrille mit gelben Gläsern trug, hatte Keller den Eindruck, seine Augen seien fast schwarz. Am rechten Handgelenk hatte er eine teure Schweizer Uhr, zweifellos gestohlen. Dass er sie rechts trug, bedeutete vermutlich, dass er Linkshänder war. Also würde er mit der linken Hand nach der Waffe greifen, die er unter seiner Lederjacke trug. Die Ausbeulung war unübersehbar. Und bewusst zur Schau gestellt, vermutete Keller.
Im nächsten Augenblick fuhr ein Streifenwagen der Police Nationale langsam an ihnen vorbei: ein umweltfreundlicher Peugeot 308, ein auffällig lackiertes Gokart mit Blinkleuchten. Der Uniformierte am Steuer musterte die beiden vor der Bar Saint Étienne sitzenden Männer. Keller zündete sich eine Zigarette an, während er beobachtete, wie der Wagen um die Ecke fuhr. Als er schließlich sprach, tat er’s auf korsische Art, damit Nouredine Zakaria wusste, dass mit ihm nicht zu spaßen war.
»Sie hatten Anweisung, allein zu kommen«, sagte er.
»Sehen Sie hier noch jemanden sitzen, mein Freund?«
»Ich bin nicht Ihr Freund. Nicht einmal annährungsweise.« Keller sah zu dem Citroën auf der Rue Vernier, dann zu dem Peugeot auf der Rue Dabray hinüber. »Was ist mit den beiden Autos?«
»Jungs aus der Nachbarschaft«, sagte Zakaria mit einer wegwerfenden Handbewegung.
»Sagen Sie ihnen, dass sie ein bisschen spazieren fahren sollen.«
»Kann ich nicht.«
Keller begann aufzustehen.
»Warten Sie!«
Keller hielt in der Bewegung inne, setzte sich nach kurzem Zögern wieder. Mayhew und Quill wären stolz auf ihren besten Schüler gewesen, der es mühelos geschafft hatte, einen Informanten zu unterwerfen. Dabei war diese Technik so alt wie der Basar: die demonstrierte Bereitschaft, Verhandlungen abzubrechen. Aber auch Nouredine Zakaria war ein Mann des Basars. Marokkaner waren geborene Verhandler.
Er begann, in seine Jacke zu greifen.
»Langsam«, sagte Keller mahnend.
Die braune Hand brachte ein Mobiltelefon zum Vorschein – ein Wegwerfhandy wie Kellers. Der Marokkaner benutzte es, um eine kurze SMS zu schreiben. Ping, dachte Keller, als die Nachricht durchs französische Mobilfunknetz flitzte. Zehn Sekunden später wurden zwei Motoren angelassen, dann fuhren zwei Beispiele für erfolgreiche französische Autos fast gleichzeitig davon.
»Zufrieden?«, fragte Nouredine Zakaria.
»Überglücklich.«
Der Marokkaner zündete sich ebenfalls eine Zigarette an, eine Gauloise. »Wo ist Yannick?«
»Unabkömmlich.«
»Also sind Sie der Boss?«
Keller ließ diese Frage unbeantwortet. Dass er der Boss war, lag auf der Hand, fand er.
»Ich mag keine Veränderungen«, sagte der Marokkaner. »Die machen mich nervös.«
»Veränderungen sind immer gut, Nouredine. Sie halten jedermann auf Trab.«
Über dem Rand der Pilotenbrille erschien eine Augenbraue. »Woher kennen Sie meinen richtigen Namen?«
Keller tat so, als beleidige ihn die Frage. »Ich wäre nicht hier«, sagte er ruhig, »wenn ich den nicht wüsste.«
»Sie reden wie ein Korse«, sagte Zakaria, »aber Sie sehen nicht wie einer aus.«
»Der äußere Schein kann trügen.«
Der Marokkaner äußerte sich nicht dazu. Der Tanz ist fast zu Ende, dachte Keller – der Tanz, den zwei erfahrene Verbrecher aufführten, bevor sie zur Sache kamen. Er hatte kein Interesse daran, ihn schon zu beenden, noch nicht. Er war kein Berufskiller mehr, sondern hatte den Auftrag, Informationen zu sammeln. Und die bekam man nur, indem man redete. Er beschloss, eine weitere Münze in die Musikbox zu werfen und noch etwas länger auf der Tanzfläche zu bleiben.
»Von Yannick weiß ich, dass Sie sich für den Kauf von zwanzig Artikeln aus unserem Angebot interessieren.«
»Sind zwanzig ein Problem?«
»Keineswegs. Tatsächlich handelt meine Organisation im Allgemeinen mit weit größeren Posten.«
»Wie groß?«
Keller sah zu den Wolken auf, als wolle er sagen, der Himmel sei die Obergrenze. »Für zwanzig lohnen Zeit und Aufwand sich ehrlich gesagt kaum. Vor irgendwelchen Zusagen hätte Yannick bei mir nachfragen sollen. Er bringt es sicher mal weit, aber er ist noch jung. Und manchmal«, fügte Keller hinzu, »stellt er nicht genügend Fragen.«
»Zum Beispiel?«
»Meine Organisation funktioniert ein bisschen wie eine Behörde«, erklärte Keller ihm. »Wir wollen wissen, wer unsere Käufer sind und wie sie die gelieferte Ware einsetzen wollen. Verkaufen die Amerikaner beispielsweise ihren saudischen Freunden Flugzeuge, müssen die Saudis versprechen, sie nicht gegen Israel einzusetzen.«
»Zionistische Schweine«, murmelte der Marokkaner.
»Trotzdem«, sagte Keller stirnrunzelnd, »verstehen Sie hoffentlich, was ich meine. Wir nehmen Ihren Auftrag nur mit bestimmten Einschränkungen an.«
»Unter welchen?«
»Wir bräuchten Ihre Zusicherung, dass nichts hier in Frankreich oder gegen französische Bürger eingesetzt wird. Wir sind Verbrecher, aber wir sind auch Patrioten.«
»Das sind wir auch.«
»Patrioten?«
»Verbrecher.«
»Ach, tatsächlich?« Keller rauchte einen Augenblick lang schweigend. »Hören Sie, Nouredine, was Sie in Ihrer Freizeit machen, ist mir egal. Wollen Sie in den Dschihad ziehen, können Sie’s meinetwegen tun. An Ihrer Stelle wäre ich wahrscheinlich versucht, das auch zu tun. Aber wenn Sie die Waffen auf französischem Boden einsetzen, ist die Gefahr groß, dass sie zu meinem Boss zurückverfolgt werden. Und das würde ihn extrem unglücklich machen.«
»Ich dachte, Sie wären der Boss.«
Zigarettenrauch waberte über den Tisch. Kellers Augen tränten unwillkürlich. Er hatte sich nie viel aus dem Geruch von Gauloises gemacht.
»Versichern Sie’s mir, Nouredine. Schwören Sie mir, dass Sie meine Waffen nicht gegen meine Landsleute einsetzen. Versprechen Sie mir, mir keinen Grund zu geben, Sie aufzuspüren und zu liquidieren.«
»Sie drohen mir doch nicht etwa?«
»Oh, das würde mir nicht im Traum einfallen. Ich will nur verhindern, dass Sie etwas tun, das Sie später bereuen könnten. Benehmen Sie sich dagegen anständig, kann mein Boss Ihnen alles beschaffen, was Sie wollen. Haben Sie verstanden?«
Der Marokkaner drückte langsam seine Zigarette aus. »Hören Sie, Habibi, allmählich verliere ich die Geduld. Können wir ins Geschäft kommen – oder muss ich mir einen anderen Waffenhändler suchen? Einen, der nicht so beschissen viele Fragen stellt.«
Keller sagte nichts.
»Wo lagern sie?«
Keller sah nach Westen.
»Spanien?«
»Nicht ganz so weit entfernt. Ich kann mit Ihnen hinfahren, nur wir beide.«
»Kommt nicht infrage.« Zakaria griff nach seinem Handy und beorderte mit einer zweiten SMS den Citroën zurück. »Eine kleine Abänderung des Plans.«
»Ich mag keine Veränderungen.«
»Veränderungen sind immer gut, Habibi. Sie halten jedermann auf Trab.«