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ERFOUD, MAROKKO

Die zugesagten Geländewagen standen auf dem heißen, staubigen Platz vor dem Café Dakar in Erfoud bereit: zwei frisch gewaschene Toyota Land Cruiser in blendendem Weiß. Die beiden Fahrer trugen Jeans und Khakiwesten und strahlten die lächelnde Effizienz berufsmäßiger Reiseführer aus. Aber das waren sie nicht. Sie waren Mohammad Bakkars Handlanger.

Südlich von Erfoud lag die riesige Oasengruppe Tafilalet mit ihren endlosen Hainen aus Dattelpalmen – insgesamt achthunderttausend, wenn der französische Guide Michelin, den Natalie mit einer Hand umklammerte, recht hatte. Aus dem Fenster starrend erinnerte sie sich wieder an jene Nacht in Palmyra – und ihren morgendlichen Traum: Saladin mit ihrem Kopf in der Hand in hellem Mondschein neben ihr hergehend … Sie sah weg und merkte nun, dass Olivia, mit der sie sich den Rücksitz eines Toyotas teilte, sie aufmerksam beobachtete.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie.

Natalie sah schweigend nach vorn. Michail saß auf dem Beifahrersitz neben dem Fahrer. Der zweite Toyota, der Keller und Jean-Luc Martel beförderte, fuhr ungefähr hundert Meter vor ihnen. Hinter ihnen war die Straße leer. Selbst der Renault, der ihnen seit Fès gefolgt war, war nirgends mehr zu sehen.

Die Palmenhaine blieben zurück, die Landschaft wurde kahl und felsig. In Rissani endete die befestigte Straße, und wenig später wurde das große Sandmeer des Erg Chebbi sichtbar. Am Südrand der Dünen lag das Dorf Chamlia, eine kleine Ansammlung aus lehmfarbenen Hütten. Natalie verfolgte ihre Fahrt auf ihrem Smartphone: Sie waren der blaue Punkt, der sich durch unbewohntes Land nach Osten in Richtung algerische Grenze bewegte. Dann fror der blaue Punkt plötzlich ein, als sie in ein Gebiet einfuhren, in dem es keinen Handyempfang mehr gab. Für genau diesen Notfall hatte Michail ein Satellitentelefon gekauft. Es lag hinter Natalie in dem Koffer mit der Beretta.

Sie fuhren noch eine halbe Stunde weiter, während die vom Wind geformten Dünen um sie herum sich bei herabsinkender Abenddämmerung ziegelrot verfärbten. Dann kamen sie an einem kleinen Lager nomadischer Berber vorbei, die am Eingang ihres schwarzen Kamelhaarzelts saßen und Teewasser kochten. Ansonsten war nirgends eine Menschenseele zu sehen. Nur die gewaltigen Dünenberge unter dem dunkler werdenden Abendhimmel. Die Leere war fast unerträglich; trotz ihrer räumlichen Nähe zu Michail und Olivia fühlte Natalie sich schmerzlich einsam. Sie scrollte durch die Fotos auf ihrem Handy, aber das waren Madame Sophies Erinnerungen, nicht ihre. Sie konnte sich kaum mehr an die Farm in Nahalal erinnern. Das Hadassah Medical Center, in dem sie früher gearbeitet hatte, war nur noch eine verblasste Erinnerung.

Endlich tauchte das Camp auf, eine Gruppe bunter Beduinenzelte in einem Einschnitt zwischen Dünen. Ein weiterer Land Cruiser war vor ihnen angekommen; er hatte das Personal gebracht, vermutete Natalie. Sie ließ zu, dass ein Träger in einer Dschellaba ihr Gepäck nahm, aber Michail, der wieder den hochmütig misstrauischen Dmitri Antonow spielte, schaffte es, sein Gepäck allein ins Lager zu tragen. Drei Zelte umstanden einen zentralen kleinen Platz; ein etwas entfernt aufgestelltes viertes Zeit enthielt Duschen und Toiletten. Auf dem mit Teppichen ausgelegten Platz gab es große Sitzkissen und lange Sofas auf beiden Seiten eines niedrigen Tisches. Auch die Zelte waren mit Teppichen ausgelegt und mit Schreibtischen und richtigen Betten möbliert. Elektrizität schien es hier nicht zu geben, nur Kerzen und ein in der Platzmitte loderndes Feuer, das Licht und Schatten über die Flanken der Dünen laufen ließ. Natalie zählte insgesamt sechs dienstbare Geister, von denen zwei Sturmgewehre umgehängt hatten. Sie vermutete, dass auch die anderen bewaffnet waren.

Bei Sonnenuntergang kühlte die Luft merklich ab. Natalie zog in ihrem Zelt ein Sweatshirt an und ging ins Sanitärzelt hinüber, um sich vor dem Essen die Hände zu waschen. Dort gesellte Olivia sich zu ihr.

Halblaut fragte sie: »Wozu sind wir hier?«

»Um ein traditionelles marokkanisches Mahl zu genießen«, antwortete Natalie.

Olivias Blick begegnete ihrem im Spiegel. »Erzähl mir bitte, dass uns jemand beobachtet.«

»Natürlich tun sie das. Und sie hören auch mit.«

Natalie ging ohne ein weiteres Wort hinaus und fand den Tisch mit einem üppigen marokkanischen Mahl gedeckt vor. Das Personal wahrte Abstand und erschien nur gelegentlich, um ihre Gläser von hoch oben mit stark gesüßtem Minztee zu füllen. Trotzdem hielten Natalie, Michail und Christopher Keller sich weiter an ihre Legende. Sie waren Sophie und Dmitri Antonow mit ihrem Freund und Mitarbeiter Nicolas Carnot. Sie waren in diesem Sommer in Saint-Tropez sesshaft geworden und hatten nach einigen missglückten falschen Anläufen Jean-Luc Martel und seine glamouröse Lebensgefährtin Olivia Watson kennengelernt. Und jetzt, dachte Natalie, sind wir zu fünft am Ende der Welt und warten darauf, dass aus der Nacht ein Ungeheuer auftaucht.

Maimonides … Wie schön, dich wiederzusehen …

Kurz nach 21 Uhr trug das Personal das Geschirr ab. Natalie hatte kaum etwas gegessen. Sie stand auf und trat an den Rand des Platzes, um eine von Madame Sophies Gitanes zu rauchen. Sie stand genau auf der Grenze zwischen Feuerschein und Nachtdunkel. Am Rand der Welt, dachte sie. Vierzig bis fünfzig Meter von ihr entfernt hielt einer der Bewaffneten Wache in der Wüste. Er trug das weiße Gewand und den Turban eines Berbers aus dem Süden. Natalie, die vorgab, ihn nicht bemerkt zu haben, trat ihre Zigarette aus und ging in die Wüste hinaus. Der Wachposten schreckte hoch, vertrat ihr den Weg und bedeutete ihr, sie müsse ins Lager zurück.

»Aber ich möchte die Dünen sehen«, sagte sie auf Französisch.

»Das ist nicht gestattet. Sie können sie morgen früh besichtigen.«

»Nein, lieber jetzt«, antwortete sie. »Bei Nacht.«

»Das ist gefährlich.«

»Begleiten Sie mich. Dann ist’s ungefährlich.«

Damit setzte sie sich erneut in Bewegung, und der Berber folgte ihr mit einigen Schritten Abstand. Sein weißes Gewand schien zu leuchten, aber das dunkle Gesicht darüber hob sich kaum von der Nacht ab. Als sie nach seinem Namen fragte, antwortete er, er heiße Azûlay – »der Mann mit den hübschen Augen«.

»Stimmt«, bestätigte sie.

Er sah verlegen weg.

»Entschuldigung«, murmelte Natalie.

Sie gingen weiter. Über ihnen leuchtete das Band der Milchstraße in nie gesehener Pracht, und die schmale Mondsichel schien weiß zu glühen. Vor ihnen erhoben sich weitere Dünen, die von Nord nach Süd gewaltiger wurden. Natalie streifte ihre Schuhe ab und erstieg, von Azûlay dem Berber begleitet, die nächste Düne. Sie brauchte mehrere Minuten, um den Kamm zu erreichen. Oben sank sie in dem weichen, warmen Sand auf die Knie, bis sie wieder zu Atem gekommen war.

Ihre Augen suchten das Land ab. Im Westen erstreckte sich eine mehrfach unterbrochene dünne Lichterkette von Erfoud durch die Palmenhaine der Oase Tafilalet bis nach Rissani und Chamlia. Im Osten und Süden lag nur leere Wüste. Aber im Norden erkannte Natalie ein Scheinwerferpaar, das schwankend und wippend durch die Dünen auf sie zukam. Im nächsten Augenblick verschwand es. Vielleicht eine Fata Morgana, ein weiterer Traum? Dann tauchten die Lichter jedoch wieder auf.

Natalie wandte sich ab und joggte die Düne hinunter zu der Stelle, an der sie ihre Schuhe zurückgelassen hatte. Du bist die Einzige, die ihn identifizieren kann … Aber auch er würde sich an sie erinnern. Und wieso auch nicht? Schließlich, dachte sie, bist du diejenige, die ihm sein elendes Leben gerettet hat.