Kapitel 2

Okay, der Abgrund entpuppte sich in Wahrheit als schlichter Keller.

Mein ganzes Leben lang lebte ich in der panischen Angst, durch eine der metallenen Doppeltüren zu fallen, die die Gehsteige Manhattans säumen. Als kleines Mädchen habe ich sogar ein Riesentrara darum gemacht, diesen Dingern zu entgehen.

Sie wissen schon, das ganze Programm – ich bin darüber hinweggesprungen, darum herumgelaufen, an besonders gefährlich aussehenden habe ich mich Zentimeter für Zentimeter vorbeigeschoben, besonders wenn sich viele Leute auf dem Bürgersteig drängten. Aber mit zunehmendem Alter begriff ich, dass ich mit etwas Vorsicht (und etwas weniger Affentheater) durchaus erfolgreich verhindern konnte, in einem stinkenden, feuchten Kellerloch zu landen.

Was sich als Irrtum erwies.

Der Keller war dunkel, feucht, und es roch nach Schimmel. Zum Glück war ich auf etwas Weichem gelandet – obwohl, wenn ich recht darüber nachdachte, wir waren hier in New York – der Heimat von Son of Sam, der Gotti-Mafia und 1100 Folgen von Law & Order. Mein Gehirn beschwor die grausigsten Bilder herauf, woraufhin ich mich erschaudernd hochzurappeln versuchte.

Doch meine Beine verweigerten ihren Dienst, so dass ich erneut in mich zusammensackte, während ein scharfer Schmerz durch mein Bein und meine Brust fuhr und mir etwas Klebriges übers Gesicht sickerte. Mein linker Absatz war abgebrochen, und mein Kleid zierte ein Riss, womit sich Altheas Vorwurf der Durchsichtigkeit am Ende doch noch bewahrheitete. Und das Kleid war nicht nur zerrissen, sondern unwiederbringlich ruiniert. Die positive Nachricht war, dass die Stelle meines Absturzes inzwischen erhellt war, nachdem ich mein Gewicht verlagert hatte.

Kohlköpfe – umgeben von Kisten mit Tomaten, Schnittlauch und Petersilie. Ich war in einem Gemüseladen gelandet. In dessen Vorratskeller, genauer gesagt.

So viel zum Thema Leichen im Keller.

»Alles klar da unten?« Eine tiefe Stimme wehte durch die geöffneten Türen herab. Einen Moment lang täuschte mich mein Gehör, und ich glaubte, Dillon sei zu meiner Rettung herbeigeeilt. (Was aus vielerlei Gründen völlig schwachsinnig war, aber ich hatte schon immer eine lebhafte Fantasie.)

Ein dunkler Schopf, der eindeutig nicht Dillon gehörte, erschien in der Luke. »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«

Mir graute bei der Vorstellung, noch mehr Aufhebens zu verursachen. Wieder verlagerte ich das Gewicht und machte mich auf das Schlimmste gefasst, doch zu meiner Erleichterung wurde mir lediglich leicht übel, und der Schmerz hielt sich in erträglichen Grenzen. »Nein.« Ich raffte die kläglichen Fetzen meines Kleids zusammen. »Ich glaube, ich schaffe es auch so nach Hause. Ich wohne nur ein paar Blocks von hier.«

»Ich komme lieber runter. Nur zur Sicherheit.«

Genau das, was ich jetzt brauchte – ein Zeuge des Debakels.

»Nein, nein, ehrlich«, rief ich. »Ich schaffe es schon. Wenn Sie mir nur vielleicht heraushelfen würden?« Doch ehe ich mich vom Fleck rühren konnte, war er bereits die Treppe heruntergekommen (eine wesentlich vernünftigere Methode als meine) und kniete sich neben mich.

»Wo tut es denn weh?«

»Am Kopf. Aber nur ein bisschen. Und die Brust schmerzt auch. Na ja, eher seitlich.«

Er streckte die Hand aus und strich mir behutsam eine Strähne aus der Stirn. »Sie haben da eine ziemlich hässliche Schnittwunde.«

»Das erklärt, warum es sich so klebrig anfühlt«, murmelte ich. »Ich glaube, es wäre mir lieber, wenn es von einer Tomate oder Avocado stammen würde.«

Mit gerunzelter Stirn tastete er um die Wunde herum. »Wie sehr haben Sie sich den Kopf angeschlagen?«

»Hier wird Gemüse gelagert.« Ich deutete auf einen Haufen Kartoffeln in der Ecke. »Also nicht allzu sehr. Zumindest glaube ich das. Sind Sie Arzt?«

»Nein.« Er verzog das Gesicht zu einem Lächeln. Erstaunt registrierte ich, wie weich es seine Züge werden ließ. »Nur der gewöhnliche Durchschnittssamariter.«

Ich sah nach oben, in der Erwartung, ein halbes Dutzend Gesichter zu erblicken. Doch da war niemand.

»Und Sie sagten, Sie haben Schmerzen in der Brust?« Vorsichtig wanderten seine Hände an meinen Armen entlang.

»Es geht mir gut«, wiegelte ich ab und entzog mich ihm. »Ehrlich.« In Anbetracht der Situation genoss ich seine Fürsorge viel zu sehr.

»Wieso überlassen Sie es nicht mir, das zu beurteilen?« Wieder lächelte er, worauf ich nickte, dankbar, dass jemand anders für den Augenblick das Ruder in die Hand nahm. Mein Schädel begann zu dröhnen, und offen gestanden war mir ein klein wenig schwummerig.

»Was ist denn passiert?«, fragte er.

»Keine Ahnung. Ich ging die Straße entlang, und, zack, auf einmal lag ich hier unten.«

»Alkohol?«

Ich suchte seine Miene nach einem Hinweis auf Kritik ab, doch sie verriet nichts. »Ein bisschen Champagner«, erwiderte ich wahrheitsgetreu. Na gut, nicht ganz wahrheitsgetreu. »Aber ich hatte es nötig. Ich habe mich gerade von meinem Freund getrennt.«

»Verstehe«, erwiderte er.

»Nein, nicht so«, sagte ich eilig, auch wenn ich nicht recht wusste, weshalb es mir so wichtig war. »Er hat gebeichtet, dass er mich betrogen hat. Bei einer Party. Vor der halben Upper East Side.« O Mann, das klang ja sogar noch schlimmer.

»Tja, das erklärt natürlich alles.« Sein Lachen klang warmherzig und freundlich, und es ließ mich erschauern. Aber vielleicht lag es auch am klammen Keller. Ja, das musste der Grund sein. Schließlich war der Kerl ein Fremder. Ich hatte einen Schock oder so etwas.

»Ich glaube nicht, dass Sie sich etwas gebrochen haben«, erklärte er und setzte sich auf die Fersen zurück. »Wollen wir Sie hier rausbringen, was meinen Sie?«

Ich nickte, worauf er den Arm um mich legte und mich hochzog. Einen Moment lang drehte sich alles, doch dann gelang es mir, auf eigenen Füßen zu stehen. »Danke«, sagte ich und hielt krampfhaft mein Kleid zusammen. Leider gab es nicht allzu viel, was sich zusammenhalten ließ, und der reichlich provokante Riss machte es mir nicht leicht, meine Blöße halbwegs zu bedecken.

»Moment«, sagte er und zog sein Jackett aus. »Nehmen Sie das hier.«

Großer Gott, es gab sie also noch, ehrliche Ritterlichkeit, und zwar in einem Gemüsekeller mitten in Manhattan. Wer hätte das gedacht?

»Aber dann wird es ja ganz blutig.«

»Dann lasse ich es eben reinigen«, erwiderte er achselzuckend. Ich schlüpfte in das Jackett, das er mir hinhielt, und schmiegte mich in die wohlige Wärme. »Soll ich hinter Ihnen die Treppe raufgehen?«

Bei der »Treppe« handelte es sich in Wahrheit eher um eine Leiter, und die Vorstellung, wie er mir (Jackett hin oder her) nach oben folgte, hatte etwas beinahe Pornografisches. Zögernd stand ich da, das Gewicht auf meinem unverletzten Bein, und sah nach oben.

»Alles in Ordnung«, erklärte er beruhigend wie zu einem verängstigten Kind. »Ich halte etwas Abstand, versprochen.«

Ich lief tiefrot an und musterte ihn, um zu sehen, ob er mich auslachte. Tat er nicht. Stattdessen wartete er geduldig.

»Tut mir leid. Ich fürchte, ich kann im Moment nicht klar denken.«

Mit einer Hand meinen Rocksaum umklammernd, gelang es mir, nach oben zu klettern, wo mich zu meiner grenzenlosen Erleichterung kein bekanntes Gesicht erwartete. Ich erntete zwar einige neugierige Blicke, doch wie gesagt, wir waren hier in Manhattan, und mein Kellersturz war kaum spektakulär genug, um Massen von Schaulustigen anzulocken. Obwohl die Tatsache, dass ich eine kleine Berühmtheit war, einem Paparazzo durchaus gelegen gekommen wäre.

Zum Glück war jedoch nirgendwo einer zu sehen.

Mein Retter trat ins Licht, und zu meinem Erstaunen bemerkte ich, dass es sich bei seinem Anzug um einen Smoking handelte. Und zwar einen, der reichlich teuer aussah.

»O Gott«, rief ich in einem Anfall von Gewissensbissen. »Der ist ja von Armani.«

»Keine Sorge. Sie können ihn im Moment wesentlich besser gebrauchen als ich.« Beim Anblick meines zerfetzten Kleides schlich sich erneut ein leises Lachen in seine Stimme. »Und sind Sie sicher, dass ich keine Hilfe holen soll?«

»Ja.« Ich nickte. »Ehrlich, ich schaffe es schon. Es ist nicht sehr weit.« In Wahrheit war ich keineswegs sicher, dass ich den Heimweg schaffen würde. Aber wenn ich ins Krankenhaus ging, würde man Althea anrufen, und nach allem was passiert war, fühlte ich mich einer Begegnung mit ihr nicht gewachsen.

»Oder soll ich jemanden anrufen?«, schlug er vor, als hätte er meine Gedanken gelesen.

Ich schüttelte den Kopf, ohne auf die Schmerzen zu achten. »Am liebsten würde ich so wenig Aufsehen wie möglich erregen.«

»Aber Sie sind doch verletzt. Jemand muss sich um Sie kümmern.«

»Ich sorge schon seit langem für mich allein. Ehrlich. Ich komme zurecht.«

»Dann werde ich Sie wenigstens nach Hause begleiten.« Er bot mir seinen Arm, den ich dankbar nahm, da sich die Welt erneut zu drehen begonnen hatte.

»Danke«, sagte ich und rang mir ein Lächeln ab. »Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte.«

»Oh, ich nehme an, Sie wären sehr gut klargekommen.«

Ich nickte, allerdings hatte ich Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Vorsichtig wagte ich ein paar Schritte, ehe sich meine Knie ohne Vorwarnung in Wackelpudding verwandelten.

Im nächsten Moment spürte ich seine Arme, die sich um mich legten, und öffnete den Mund, um mich zu entschuldigen, doch auch meine Zunge zeigte sich alles andere als kooperationsbereit. Stattdessen sackte ich mit meinem gesamten Körpergewicht gegen ihn und vergrub die Nase an seinem Hemd aus ägyptischer Baumwolle, während sich ein samtiger, blauschwarzer Schleier über die Welt um mich herum legte.

Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in der Notaufnahme, zwischen einem Schreihals im Behandlungsraum links von mir und einer Frau hinter dem Vorhang zu meiner Rechten, die allem Anschein nach seit 1966 keine Freude mehr im Leben gehabt hatte.

Vage erinnerte ich mich an einen Krankenwagen und mehrere Ärzte und Schwestern, doch seltsamerweise war die Erinnerung an meinen fremden Wohltäter am klarsten. Der meine Hand gehalten hatte, wenn mich mein Gedächtnis nicht trog. Aber wahrscheinlich hatte ich ihm keine andere Wahl gelassen.

Jedenfalls war ich nun offenbar allein. Nicht einmal ein Arzt war zu sehen. Meine Handtasche war verschwunden, ebenso wie mein Kleid und sein Jackett. Vorsichtig betastete ich meinen Haaransatz und erkundete den Verband über meinem rechten Auge.

»Du musstest genäht werden.« Eingehüllt in eine Wolke Opium schwebte meine Tante herein, und ich ertappte mich bei dem Wunsch, es wäre nicht nur das Parfum, sondern die echte Substanz. »Sieben Stiche am Haaransatz und fünf unterhalb der Rippe. Du kannst von Glück sagen, dass du dir nichts gebrochen hast. Aber offenbar hast du sehr viel Blut verloren.«

»Das würde die Ohnmacht erklären.«

»Ja, aber sonst nicht allzu viel.« Althea setzte sich auf die Bettkante und musterte mich mit sorgenvoller Miene.

»Woher weißt du, dass ich hier bin?«, fragte ich.

»Ein fremder Mann hat mich angerufen.« Aus ihrem Mund hörte es sich an, als wäre dies die schlimmste Sünde der Menschheit. »Er hat dein Handy an sich genommen, und offenbar hattest du meine Nummer ganz oben abgespeichert.«

Ein schwerer Fehler.

»Tut mir leid. Ließ sich wohl nicht vermeiden. Ich war bewusstlos.« Ich versuchte mich an einem ärgerlichen Stirnrunzeln, brachte jedoch nur eine schmerzverzerrte Grimasse zustande. »Ist er noch hier?« Ich wollte ihn unbedingt sehen – um ihm zu danken, natürlich.

»Nein. Er musste weg. Er meinte, du sollst dir wegen des Jacketts keine Gedanken machen – was auch immer damit gemeint sein mag.«

»Ach, nichts. Hat er dir seinen Namen gesagt?« Mit einem Mal erschien mir die Antwort schrecklich wichtig, und ich wartete mit angehaltenem Atem.

»Ivan, Aaron oder so was«, erwiderte Althea. »Ach, was weiß ich. Er war nicht wichtig. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.«

»Oh.« Ein Gefühl der Enttäuschung durchströmte mich, das jedoch augenblicklich in Gewissensbisse umschlug. Bestimmt waren die Umstände schuld daran. Oder es handelte sich um irgendeine merkwürdige Reaktion auf ein traumatisches Erlebnis. War es das Gleiche wie damals bei Patty Hearst? Das Stockholm-Syndrom? Na gut, die Situation war wohl etwas anders, aber Sie wissen schon, was ich meine. Jedenfalls musste es eine Art Illusion sein. Ich hatte gerade Dillon verloren. Und konnte mich folglich wohl kaum für einen anderen Mann interessieren.

Ich schüttelte den Kopf, bereute es jedoch augenblicklich. Schnell schloss ich die Augen und wartete geduldig, bis die Welt wieder zum Stillstand gekommen war.

»Geht es dir gut?«, erkundigte sich Althea, deren verschwommenes Gesicht vor meinen Augen erschien. »Der Arzt meinte, du hättest vielleicht eine Gehirnerschütterung.«

»Mir ist nur ein bisschen schwindlig, das ist alles.«

»Und willst du mir erzählen, was passiert ist?« Sie nahm meine Hand.

Natürlich nicht, aber bei der Beschaffung von Informationen konnte Althea eine erstaunliche Hartnäckigkeit an den Tag legen.

Ich weiß noch, wie meine Freundin Olivia Brookston und ich mit fünfzehn von zu Hause ausbüxten und in einen Club gingen – in der felsenfesten Überzeugung, dass alles Aufregende und Spannende in Manhattan nach unserem Zapfenstreich stattfand. Mit gefälschten Ausweisen mogelten wir uns hinein und feierten gerade unseren Erfolg bei einem Singapore Sling (ich war ein Teenager und fand alles, was mit Schirmchen serviert wurde, ultracool), als meine Tante auf der Bildfläche erschien und uns beide nach Hause zerrte. Ich bekam einen Monat Stubenarrest, und bis zum heutigen Tage ist es mir ein Rätsel, wie sie uns aufgestöbert hat.

Worauf ich hinauswill, ist, dass Althea aus irgendeinem Grund immer genau das weiß, was man unbedingt vor ihr verheimlichen will. Vielleicht liegt darin das Geheimnis, weshalb sie es schafft, so viele erfolgreiche Manhattaner als Klienten zu gewinnen. Es würde mich nicht überraschen. Schließlich ist Wissen doch Macht, oder nicht?

Jedenfalls war es klüger, gleich zu beichten.

»Ich bin in einen Lagerkeller gefallen.«

»Das habe ich mitbekommen. Aber dein anonymer Retter sagte irgendetwas von Dillon?«

»Er hat mich nicht gestoßen, falls es das ist, was du denkst.«

»Natürlich nicht.« Sie schüttelte den Kopf. Trotzdem wusste ich, dass sie es nicht gänzlich ausschließen würde. Was in gewisser Weise sogar tröstlich war. Selbst wenn es von Althea kam. »Aber er hatte etwas damit zu tun.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Wartete.

Ich seufzte. »Indirekt. Du hattest recht, was Diana Merreck betrifft. Er ist mit ihr zusammen.«

»Hinter deinem Rücken?«

»Wie denn sonst?« Ich nickte kläglich. So wütend ich auf Dillon war, ich liebte ihn doch. Zumindest hatte ich das getan. Nein, wahrscheinlich tat ich es immer noch. Im Moment war alles ein wenig durcheinander. »Aber nachdem er es mir heute Abend gebeichtet hat, schlug er vor, er könnte doch mit uns beiden zusammen sein.«

»Worauf du gesagt hast, er soll sich zum Teufel scheren.« Altheas Tonfall ließ keine Alternative zu. Was zum Glück auch der Fall war.

»Natürlich, aber es war nicht so leicht, wie es aus deinem Mund klingt. Ich war praktisch eine Ewigkeit mit Dillon zusammen.«

»Drei Jahre sind keine Ewigkeit, Andrea«, wandte Althea stirnrunzelnd ein. »Außerdem war er sowieso nie der Richtige für dich.«

»Ich dachte jedenfalls, dass er es ist.« Es war völlig idiotisch, ihr ausgerechnet jetzt zu widersprechen, wo Dillons Geständnis ihr Urteil bestätigte, aber das würde ich natürlich niemals zugeben. »Außerdem bereut er es ja vielleicht schon, wenn er heute Nacht nach Hause kommt.«

»Und du nimmst ihn wieder zurück.«

»Nein. Na ja, ich weiß es nicht. Vielleicht?« Die Antwort war vage, doch in Wahrheit fehlte er mir bereits jetzt.

»Andrea, du wirst ihn unter keinen Umständen zurücknehmen. Nicht nachdem er dich betrogen hat.« Ihre Missbilligung war förmlich mit Händen greifbar. »Offen gestanden überrascht mich Diana Merreck ein bisschen. Ich bezweifle ernsthaft, dass sie ihrer Mutter von dieser Liaison erzählen wird.«

»Können wir später darüber reden? Bitte. Mein Kopf tut weh.« Und das tat er auch. Ehrlich. »Ich möchte nur noch nach Hause und so tun, als wäre all das nie passiert.«

»Das wird wohl kaum möglich sein«, sagte eine Schwester und trat durch die zugezogenen Vorhänge. »Sie haben mehrere Rippenprellungen, eine Schnittwunde am Bauch und eine große Platzwunde am Kopf. Das kann nicht einfach ignoriert werden.«

Miss Superschlau nahm mein Handgelenk und überprüfte meinen Puls, den die Aufzählung meiner Blessuren gefährlich in die Höhe getrieben hatte. »Und obendrein«, fuhr sie fort, ohne die geringste Notiz von meiner Bestürzung zu nehmen (oder vielleicht weidete sie sich insgeheim sogar daran), »besteht nach wie vor das Risiko einer Gehirnerschütterung. Deshalb hat der Arzt Ihrer Entlassung nur unter der Bedingung zugestimmt, dass jemand in den nächsten zwölf Stunden bei Ihnen ist.«

»Ich kann allein auf mich aufpassen«, erklärte ich, rutschte an die Kante des Krankenbetts und setzte mich auf. Prompt geriet die Welt erneut in Schieflage, und mir wurde übel. Ich spürte, wie sich die sorgfältig manikürten Finger meiner Tante um meinen Arm legten.

»Wohl eher nicht«, stellte die Schwester mit einem befriedigten Lächeln fest – unübersehbar keine Frau, die die Pflege kranker Menschen als Berufung betrachtete.

»Kein Problem«, beruhigte Althea sie. »Andrea kann bei mir bleiben.«

Ich kämpfte gegen eine weitere Woge der Übelkeit an, als die Schwester mir einen winzigen Pappbecher reichte.

»Gegen die Schmerzen.«

Ich schluckte die Tabletten und wünschte, sie würden mich geradewegs in ein weit, weit entferntes Königreich befördern. Fehlanzeige.

»Mach dir keine Sorgen, Liebes«, sagte Althea, während die Schwester eine Notiz auf meiner Krankenakte machte und verschwand. »Ich kümmere mich um alles, versprochen.«

Genau das, wovor ich mich am meisten fürchtete. Altheas Versprechungen neigten dazu, eine ganz besondere Eigendynamik zu entwickeln.

»Aber ich muss nach Hause«, widersprach ich. »Was ist mit Bentley?«

»Bentley ist ein Hund.« Ein West Highland Terrier, um genau zu sein.

»Umso mehr ein Grund, nach Hause zu fahren.« Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war eine Demonstration von Altheas mütterlichen Fähigkeiten. »Er kann nicht allein bleiben.«

»Gut«, sagte sie. »Dann rufe ich eben Dillon an.«

»Nein«, blaffte ich. »Er ist mein Hund. Zumindest sollte er es sein. Ich meine, das Recht steht auf der Seite des Besitzers.« Okay, rein rechtlich gehörte Bentley Dillon, aber die meiste Zeit war er bei mir gewesen. Was nie ein Problem dargestellt hatte – bis jetzt. »Jedenfalls braucht mich Bentley.« Oder ich ihn. »Deshalb kannst du ihn nicht Dillon überlassen.«

Althea dachte einen Moment lang nach. Sie konnte Hunde nicht besonders leiden. Aber zum Glück galt das nicht für Bentley.

»Also gut.« Resigniert hob sie die Hände. »Ich lasse Wilson rüberfahren und ihn abholen.« Wilson Hartley war Altheas Chauffeur. Althea beschäftigte einen ganzen Stab an Personal. Die meisten Angestellten hatte sie von meiner Großmutter Harriet geerbt, als diese beschlossen hatte, ihren Lebensabend vorwiegend im Ausland zu verbringen. Jedenfalls kannte ich Wilson schon mein ganzes Leben, sprich, ich konnte ihm Bentley getrost anvertrauen.

»Danke.« Ich seufzte. Es war ein kleiner Erfolg.

»Das Wichtigste ist jetzt, dass du wieder auf die Beine kommst.«

Die Vorstellung, dass Althea jemanden wieder auf die Beine brachte, war geradezu lachhaft. Herzenswärme und Mütterlichkeit konnte man ihr nicht unbedingt zuschreiben. Für solche Dinge hat sie Menschen, die sie bezahlt. Aber offen gestanden war die Vorstellung, allein zu sein, auch nicht sonderlich verlockend. An einem einzigen Abend war ich verlassen, gerettet, wieder verlassen (wenn man das Verschwinden meines unbekannten Retters hinzuzählte) und mit einem schmerzenden Körper und gebrochenem Herzen einfach zurückgelassen worden.

Was die Gegenwart einer übermäßig dominanten Tante geradezu himmlisch erscheinen ließ. Okay, das mag übertrieben sein, aber es war zumindest das kleinere Übel. Ich schloss die Augen und versuchte alles auszublenden: das Krankenhaus, Althea, die Schmerzen. Ich brauchte Dillon nicht. Ich brauchte überhaupt keinen, verdammt noch mal.

Und was noch viel wichtiger war: Morgen war ein neuer Tag.

Ein überaus tröstlicher Gedanke, wäre Scarlett O’Hara nicht so eine dusselige Ziege.