Kapitel 10
Ich weiß nicht genau, wie wir vor Starbucks überhaupt existieren konnten. Okay, in Manhattan hatte es auch schon früher massenhaft Coffeeshops gegeben, aber irgendwie war es nicht dasselbe. Nicht dass ich zu diesen Drei-Latte-mit-entrahmter-Milch-am-Tag-Typen gehöre, keine Sorge. In Wahrheit kann ich Kaffee nicht allzu viel abgewinnen. Ich trinke lieber Tee. Meistens als Eistee. Aber ich habe auch eine Schwäche für die heißen Tazo-Tees bei Starbucks entwickelt. Ich meine, wer kann schon widerstehen, nach »Passion« zu fragen, insbesondere wenn der Barista hinterm Tresen süß ist? (Ganz ehrlich, das ist der Name des Tees, der unter anderem aus Hibiskus- und Mohnblüten besteht. Was an sich schon eine Menge erklärt.)
Jedenfalls herrscht bei Starbucks eine ganz besondere Atmosphäre, die einen einlädt, sich dort aufzuhalten, unabhängig davon, was man trinkt. Aber vielleicht ist genau das die Absicht der Marketingexperten. Und da Bethany eine ausgeprägte Schwäche für Macchiatos mit Karamellsirup besaß, war es nur logisch, dass wir uns dort trafen.
Seit meiner Verabredung mit Ethan hatte ich sie nicht mehr gesehen. Wir hatten zwar am nächsten Morgen telefoniert, doch sie war mit den Gedanken nur bei Michael gewesen. Nicht dass ich ihr einen Vorwurf daraus machen könnte. Der Beginn einer Beziehung war immer etwas besonders Aufregendes. Besonders wenn es danach aussah, als könnte etwas Dauerhaftes daraus werden. (Und nur fürs Protokoll, ich hielt noch immer an meiner Meinung fest, dass das Ganze trotz und nicht dank Altheas Einfluss zustande gekommen war. Eins zu null für die Ausnahmen von der Regel.)
»Hier drüben.« Bethany winkte mir von der Milchbar zu, als ich mich durch die Menge schob. »Tut mir leid, dass ich nicht länger Zeit habe, aber in einer Stunde habe ich den nächsten Termin. Ein Paar aus Texas. Keine Ahnung, wie ich etwas Passendes für sie finden soll. Die beiden sind an ein Haus mit vier Schlafzimmern in einem Vorort mit Waschküche und Pool gewöhnt. Und ich werde ihnen vier Zimmer insgesamt ohne besondere Aussicht und mit drei winzigen Einbauschränken zeigen. Ich fürchte, das wird ein ziemlicher Schock für sie werden.«
»Es wird schon klappen«, erwiderte ich, als wir ein paar Touristen einen Tisch wegschnappten. »Immerhin sind wir hier in Manhattan. Die Leute erwarten nicht, dass sie einen Palast gezeigt bekommen.«
»Keine Ahnung. In Texas ist alles so riesig.«
»Dann werden sie sich eben umgewöhnen müssen.« Ich zuckte die Achseln und lächelte. »Aber wenn ich ehrlich sein soll – deinen Job möchte ich nicht haben. Übellaunige Leute mit limitiertem Budget, die nach dem perfekten Apartment suchen. Ich weiß noch nicht mal, ob es so etwas überhaupt gibt.«
»Wieso, du hast doch auch eines gefunden.«
»Reines Glück.«
»Und dank der Hilfe einer Freundin mit Insiderwissen.« Habe ich schon erwähnt, dass Bethany mein Apartment aufgestöbert und mir drei Tage, bevor es offiziell zur Vergabe ausgeschrieben wurde, gezeigt hat?
»Ja, das stimmt. Aber ich sage nur, dass die Wohnungssuche in New York selbst mit dem besten Makler alles andere als ein Garant für Glücksgefühle ist.«
»Na ja, ich hatte schon schlimmere Kunden. Und irgendwann werde ich bestimmt etwas für sie finden.« Sie setzte sich auf den Stuhl neben mir. »Aber wir sind nicht hier, um über die Jacksons zu reden.« Sie hob vielsagend die Brauen. »Das Date mit Ethan ist dir eindeutig bekommen. Du siehst wesentlich besser aus als beim letzten Mal.«
»Ich bin definitiv auf dem aufsteigenden Ast.« Verlegen schob ich mir eine Strähne hinters Ohr.
»Du hattest wirklich Glück. Die Sache hätte erheblich schlimmer ausgehen können.«
»Rein physisch schon. Aber psychologisch betrachtet habe ich wohl ziemlich in die Vollen gegriffen.«
»Wenigstens waren keine Paparazzi in der Nähe. In den Zeitungen stand jedenfalls nichts mehr.«
»Stimmt.« Ich nippte an meinem Tee. »Zum Glück haben sie sich auf den nächsten peinlichen Prominenten gestürzt.«
»In diese Kategorie kann man dich wohl kaum einordnen.« Bethany schüttelte den Kopf.
»Nein. Wohl nicht. Aber mit meinem Sturz in den Abgrund der Verzweiflung habe ich definitiv alles getan, um in genau diese Kategorie aufgenommen zu werden.«
»Schnee von gestern. Erzähl mir lieber von deinem Essen mit Ethan. Ich fasse es immer noch nicht, dass du Dillon und Diana in die Arme gelaufen bist.«
»Es war auch eine ziemlich üble Geschichte. Da scherzt man, was für ein Dorf New York ist, aber wie groß ist die Chance, dass man sich ausgerechnet im selben Restaurant über den Weg läuft? Noch dazu bei Nino’s, wo Dillon es hasst.«
»Offenbar nicht so sehr, wie du dachtest.«
»Er macht nur den Kotau vor Diana.«
»Also war es wahnsinnig peinlich?«
»Grauenhaft. Zumindest bis Ethan auftauchte. Obwohl es mir halbwegs gelungen sein dürfte, die Fassung zu bewahren.«
»Und Dillon? Wie hat er sich verhalten?«
»Er sah aus, als wäre es ihm ziemlich unangenehm. Zumindest bis sie allein waren.« Ich schloss die Augen, um das Bild von ihm, wie er lachte und ihre Hand hielt, aus meinem Gedächtnis zu verbannen. »Aber er hat angerufen, um sich zu entschuldigen.«
»Du hast mit ihm geredet?«
»Nein. Dazu konnte ich mich nicht überwinden. Aber ich habe mir die Nachricht auf dem Anrufbeantworter angehört. Und ich muss sagen, sie hat mich ein klein wenig versöhnt. Obwohl ich immer noch nicht nachvollziehen kann, was er in ihr sieht.«
»Nichts, wovon sie nicht will, dass er es sieht«, erklärte Bethany. »Sie hat ihn verhext, aber früher oder später wird er zur Besinnung kommen und merken, was er angerichtet hat. Nur wirst du dann nicht mehr da sein, um die Scherben aufzusammeln.«
»Wohl nicht.«
»Wohl nicht?« Bethany kniff die Augen zusammen. »Also bitte. Du weißt, dass das nicht so sein wird. Ich meine, jetzt wo du Ethan hast.«
»Ich war doch nur einmal mit ihm aus. Und mit Dillon war ich eine halbe Ewigkeit zusammen. Es ist nicht so einfach, loszulassen. Auch wenn ich weiß, dass ich es tun sollte. Ich denke, ein Teil von mir wird ihn immer zurückhaben wollen.«
»Das ist verständlich«, sagte sie und nippte an ihrem Kaffee. »Hat Diana etwas wegen des Mardi Gras verlauten lassen?«
»Nur dass sie die Sendung gesehen hat. Aber wenn Blicke töten könnten …«
»Eins zu null für dich.« Bethany lächelte, dann runzelte sie die Stirn. »Da fällt mir gerade ein, dass ich vielleicht dazu beigetragen haben könnte. Hast du Althea von Ethan erzählt?«
Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. »Nur das von meinem Sturz. Wieso?«
»Bitte spring mir jetzt nicht ins Gesicht …«
»Was hast du ihr erzählt?«, fragte ich seufzend.
»Nur dass du mit ihm ausgegangen bist. Sie hat von deinem Wochenende gesprochen, und ich dachte, du hättest es ihr erzählt. Aber ich bin nicht ins Detail gegangen. Tut mir leid, ich hätte überhaupt nichts sagen sollen.«
»Mach dir keine Gedanken. Althea beherrscht es wie keine Zweite, einem Informationen zu entlocken. Und wenn du es ihr nicht gesagt hättest, dann hätte es jemand anders getan. Wann hast du mit ihr gesprochen?« Es konnte noch nicht lange her sein, da ich nichts von ihr gehört hatte. Althea gehörte nicht zu den Menschen, die Neuigkeiten für sich behielten.
»Heute Morgen. Ich habe sie wegen Michael angerufen.«
»Ich dachte, das sei keine richtige ›Vermittlung‹.«
»Ist es auch nicht. Aber du kennst doch Althea. Sie will auf dem Laufenden sein.«
»Das ist noch untertrieben. Aber wenn es dir nichts ausmacht …« Ich zuckte die Achseln und fragte mich, weshalb mir Bethanys Bündnis mit Althea so gegen den Strich ging.
»Tut es nicht. Ehrlich. Sie hat mir sogar ein paar gute Ratschläge erteilt. Diese Geschichte entwickelt sich sehr schnell. Und du weißt ja, dass meine Mutter nicht unbedingt der Mensch ist, der einem Beistand leistet.« Bethanys Mutter war nicht der Typ Frau, den man sich unter einer Mutter vorstellte. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Das ist eine unserer vielen Gemeinsamkeiten. »Ich brauche einfach jemanden, der die Situation realistisch einschätzt. Und genau das tut Althea. Außerdem kennt sie Michael gut.«
»Es ist ihr Job. Und vergiss nicht, dass sie alles daransetzen wird, eure Beziehung zu einem Erfolg zu machen. Sie ist wahnsinnig ehrgeizig, und selbst wenn es bei euch keine offizielle Vermittlung ist, wird sie sie trotzdem als Erfolg verbuchen wollen. Sie wird wollen, dass ihr beide zusammenbleibt.«
»Genau das will ich auch.«
»Gut. Dann ist ja alles bestens. Aber sollte sich etwas daran ändern, darfst du nicht vergessen, dass Althea sich auf Michaels Seite schlagen wird. Für sie gehört das einfach zum Spiel.«
»Aus deinem Mund klingt es so nüchtern und sachlich. Aber wir reden hier von einer Beziehung und nicht von einer Firmenfusion.«
»Für Althea ist das ein und dasselbe. Deshalb solltest du ihren Rat mit ein klein wenig Vorsicht genießen. Trotzdem freue ich mich sehr, dich so glücklich zu sehen.«
»Das kann ich nur zurückgeben«, erwiderte Bethany und nickte. »Wann immer ich Ethan erwähne, grinst du wie eine Idiotin. Hast du seit eurer Verabredung noch mal von ihm gehört?«
»Nur kurz am Telefon. Aber immerhin hat er Blumen geschickt.«
»Ehrlich? Das ist herrlich altmodisch. Wie schön!«
»Es war sehr süß. Aber ich versuche, mich nicht allzu sehr hineinzuhängen.«
»Immerhin hast du Blumen bekommen. Wann hat Dillon dir das letzte Mal welche geschenkt?«
»Zum Valentinstag habe ich welche bekommen – normalerweise.« Ich zuckte die Achseln. »Aber es ist sinnlos, die beiden zu vergleichen. Ethan lässt sich mit keinem Mann vergleichen, den ich je kennengelernt habe.«
»Ich wusste es.« Bethany strahlte triumphierend. »Du verliebst dich. Sag schon, wann seht ihr euch wieder?«
»Das weiß ich nicht. Er sagte etwas vom Wochenende. Aber da findet ja deine Party statt.«
»Hast du ihn etwa nicht eingeladen? Ich dachte, das würdest du tun.«
»Es ist alles noch so frisch. Außerdem sollte es doch um dich und Michael gehen. Darum, ihn deinen Freunden vorzustellen.«
»Aber wenn Ethan ein Teil deines Lebens sein wird, sollte er dabei sein.«
»Bist du nicht ein bisschen vorschnell?«
»Ich bitte dich. Es ist doch nicht so, dass du dich noch nie Hals über Kopf in eine Beziehung gestürzt hättest. Du und Dillon hattet nach dem ersten Date gleich Sex. Und nach dem dritten oder vierten ist er praktisch bei dir eingezogen, wenn ich mich recht erinnere.«
»Du übertreibst. In Wahrheit ist er überhaupt nie richtig bei mir eingezogen. Wir haben nur zeitweise zusammen in einer Wohnung gelebt. Und was daraus geworden ist, sieht man ja. Wäre ich etwas vorsichtiger gewesen, hätte man mich vielleicht nicht wegen Diana Merreck abserviert.«
»Ich kann es immer noch nicht glauben.«
»Da sind wir schon zwei. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass all das passiert ist, sollte ich mich eben nicht blindlings in eine neue Beziehung stürzen, finde ich.«
»Ethan zu einer Dinnerparty einzuladen kann man wohl kaum als blindlings in eine neue Beziehung stürzen bezeichnen. Es ist nur eine Verabredung. Du wärst inmitten deiner Freunde. Außerdem hat er dir Blumen geschickt. Das sollte doch etwas zu bedeuten haben.«
»Wahrscheinlich.« Ich senkte den Kopf und rief mir ins Gedächtnis, wie unglaublich ich mich nach seinem Kuss gefühlt hatte. »Es ist nur alles so kompliziert. Ich hatte noch nicht einmal Zeit, in Ruhe über das Ende meiner Beziehung mit Dillon nachzudenken. Ich werde bestimmt noch etwas Zeit zum Trauern brauchen.«
»Das Leben wartet aber nicht auf uns, Andi. Manchmal muss man eine Gelegenheit beim Schopf packen, wenn sie sich bietet. Selbst wenn das Timing nicht perfekt ist. Sonst verstreicht sie ungenutzt. Und du weißt genauso gut wie ich, dass es nicht allzu viele Chancen gibt, den richtigen Mann in dieser Stadt zu finden.«
»Na ja, so gesehen … Trotzdem könnte es ein großer Fehler sein. Ich meine, was weiß ich schon über ihn? Er ist hier aufgewachsen und hilft, die Firma seiner Familie zu leiten, nachdem sein Vater einen Herzinfarkt erlitten hat. Er ist gerade erst zurückgekommen und wohnt in einer Mietwohnung auf der Upper East Side. Wenn ich es mir genau überlege, weiß ich eigentlich gar nichts über ihn.«
»Nur dass er einen Hang zur Ritterlichkeit hat«, sagte Bethany. »Immerhin hat er dich … keine Ahnung … mittlerweile dreimal gerettet?«
»Das reicht wohl kaum, um ein Urteil über ihn zu fällen. Er könnte auch ein Serienkiller sein.«
»Also bitte«, stöhnte Bethany. »Das ist wohl kaum wahrscheinlich.«
»Ted Bundy war ein sehr charmanter Mann.«
»Ja, klar.« Sie schnaubte. »Außerdem lassen sich die Details jederzeit problemlos herausfinden. Du hast ihn doch bestimmt schon gegoogelt, oder?«
»Darauf bin ich noch gar nicht gekommen.« Ich muss zugeben, dass ich eine gewaltige Aversion gegen Computer hege. Auch wenn ich nicht genau weiß, warum. Sie sind einfach nicht mein Ding. Jeder, den ich kenne, hat Text-Messaging und eine MySpace-Seite. Und ich schaffe es kaum, mein Handy einzuschalten, ganz zu schweigen davon, mit dieser winzigen Tastatur umzugehen.
Ich weiß, ich weiß. Ich lebe im Mittelalter. Aber, hey, zumindest beweist es, dass ich mich nicht jeder Form gesellschaftlichen Drucks beuge. Für mich war der Begriff »googeln« jedenfalls ähnlich fremd wie Swahili.
»Du bist definitiv im falschen Jahrhundert geboren«, stöhnte Bethany. »Keine Ahnung, wie du jeden Tag zurechtkommst. Ehrlich.«
Gerade als ich etwas erwidern wollte, läutete erwähntes Handy mit dem reichlich penetranten lateinamerikanischen Klingelton, was mir einen finsteren Blick der Frau am Nebentisch einbrachte.
Achselzuckend zog ich es heraus und sah aufs Display. »Er«, formte ich lautlos mit den Lippen, während mein Magen sich zusammenzog.
»Geh schon ran«, drängte Bethany.
Ich klappte es auf, worauf die Macarena-Klänge verstummten. »Hallo?«
»Andi?« Ethans tiefe Stimme sandte den mittlerweile vertrauten wohligen Schauer durch meinen Körper. »Störe ich?«
»Nein. Ich sitze gerade beim Tee mit Bethany.«
»Gut. Ich hatte schon Angst, ich störe dich bei der Aufzeichnung oder so. Aber ich habe einen Moment Zeit bis zum nächsten Termin und wollte hören, wie es dir geht.« Das klang gut. Sogar sehr gut.
»Und hast du Großes vollbracht?«, fragte ich, wieder einmal die Eloquenz in Person. Dieser Mann brachte mich völlig aus dem Konzept. »Bei deinen Terminen, meine ich.«
»Im Prinzip das, was ich erreichen wollte. Obwohl es ein paar Verluste gab, fürchte ich.«
»Klingt ja sehr geheimnisvoll«, bemerkte ich. »Sehr nach Sopranos.«
»Keine Leichen«, lachte er. »Aber um unseren Marktanteil bewahren zu können, mussten wir ein paar Mitbewerber verdrängen.«
»Im Sinne von ausschalten?«
»So könnte man es bezeichnen.«
»Also hast du ernsthaft die Firma von jemand anderem zerstört?« So ausgedrückt klang es ziemlich übel.
»Ich habe sie übernommen. Geschäft ist nun mal Geschäft. Und nur fürs Protokoll – hätten wir es nicht getan, wäre ein anderer gekommen. Da draußen ist der Dschungel. Aber ich habe nicht angerufen, um mich übers Geschäft zu unterhalten, sondern wollte hören, ob du morgen Zeit für ein Mittagessen hast.«
»Mittagessen?«
»Du weißt schon, die Mahlzeit zwischen Frühstück und Abendessen.« Wieder lag dieser Anflug eines Lachens in seiner Stimme.
»Ja, schon mal davon gehört.«
»Und, hast du Zeit?«
»Ja. Für dich schon.« Okay, allmählich klang ich annähernd wie ich selbst.
»Hervorragend. Wie wär’s mit dem Shake Shack? Du kannst Bentley mitbringen. Ich nehme an, du versuchst ihn immer noch außerhalb von Dillons Reichweite zu halten?«
»Ja, genau. Obwohl er seit gestern nicht mehr angerufen hat. Und ich habe die Schlösser auswechseln lassen. Trotzdem ist es süß von dir, dass du daran denkst.«
»Na ja, Bentley und ich sind schließlich Freunde. Aber jetzt muss ich Schluss machen. Ich sehe euch beide morgen?«
»Klingt gut. Bentley wird außer sich sein.« Auf meinem Gesicht lag ein dümmliches Grinsen, als ich auflegte. Offenbar war mein Hund nicht der Einzige, den die Aussicht auf ein paar Pommes mit Ethan McCay in gespannte Erregung versetzte.
»Und?«, fragte Bethany.
»Wir treffen uns morgen zum Mittagessen. Im Shake Shack. Mit Bentley.«
»Das gibt dem Begriff Anstandswauwau eine völlig neue Bedeutung.«
»Er war besorgt, weil Dillon versucht, ihn mir wegzunehmen.«
»Wie süß von ihm.«
»Genau das habe ich auch gesagt. Aber es hörte sich an, als hätte er einen wirklich üblen Tag.«
»Das habe ich mitbekommen. Irgendetwas von wegen Sopranos?«
»Wie es aussieht, hat er die Konkurrenz eliminiert. Irgendeine Art feindliche Übernahme.«
»Klingt nicht sonderlich spaßig. Andererseits geht es im Geschäftsleben wohl selten spaßig zu. Und, bist du schon aufgeregt?«
»Irgendwie schon. Es geht alles so schnell. Und nach wie vor weiß ich praktisch nichts über ihn.«
»Stimmt. Wir wollten ihn googeln.« Bethany tippte seinen Namen in ihren Blackberry und wartete. »O mein Gott.« Stirnrunzelnd blickte sie auf den winzigen Bildschirm, und ihre Augen weiteten sich.
»Das klingt nicht gut«, sagte ich und beugte mich vor, mit einem Mal durchaus interessiert an moderner Technik und dem Wissen, das sie barg. »Was steht da?«
»Dass er für Mathias Industries arbeitet.«
»O mein Gott«, echote ich. »Du machst Witze.«
»Nein.« Sie drehte den Blackberry um, so dass ich auf das kleine Display sehen konnte. »Walter Mathias ist sein Großvater. Steht zumindest hier.« Sie tippte auf den Bildschirm.
Die Mathias’ gehörten zu den alteingesessenen Familien der Stadt. Einer ihrer Vorfahren hatte sogar die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet, ich weiß nur nicht mehr, welcher. Unter dem Adel Manhattans waren sie eindeutig die Blaublütigsten der Blaublütigen. Eine Dynastie, wie sie im Buche stand.
Die Mitglieder dieser Familie saßen in den Vorständen der wichtigsten Firmen, und einen Mathias als Schirmherr einer Wohltätigkeitsveranstaltung zu gewinnen war das gesellschaftliche Äquivalent dazu, einen Baseball geradewegs über die Mauern des Yankee Stadium zu schlagen. Der Name dieser Familie begegnete einem praktisch jeden Tag hier in der Stadt. Parks, Bibliotheken, Museen, ganz zu schweigen von der Vielzahl florierender Unternehmen, firmierten unter dem Dach von Mathias Industries.
Walter Mathias, Ethans Großvater, war eine lebende Legende. Als einer der letzten Vertreter einer Generation von Königsmachern hatte er Firmen und Menschen mit unvergleichlichem Instinkt und Geschäftssinn ge- und verkauft. Er war einer der Männer, von denen die Leute stets mit ehrfurchtsvoll gesenkter Stimme sprachen, teils aus Bewunderung, teils aus blanker Angst.
Und Ethan war seine rechte Hand.
Allein die Vorstellung war schier unfassbar – ich fühlte mich wie Cinderella, der schlagartig bewusst wurde, dass sie mit einem Prinzen tanzte. Dem Prinzen von Manhattan. Wenn mich jemand mit einer Nadel piekste, würde mein Blut damit wohl als blau gelten. Doch ich blickte auf eine nicht minder eindrucksvolle Reihe aufrechter griechischer Vorfahren großväterlicherseits zurück. Und wenn ich ganz ehrlich war, erfüllten sie mich mit noch größerem Stolz. Wie ich schon sagte – ich gehöre nicht zu denen, für die gesellschaftlicher Status und Herkunft von Bedeutung sind. Dennoch ging ich mit dem Erben einer der größten Konzerne in Privatbesitz aus.
»O mein Gott« traf es nicht einmal ansatzweise.
»Und er hat kein Wort davon gesagt?«
»Nur dass er für die Firma seiner Familie arbeitet. Wenn ich nachgedacht hätte, dann hätte ich wohl eins und eins zusammenzählen können. Er erwähnte, dass er beruflich in Europa und in Asien war. Und dass sein Großvater mit Stahl angefangen hätte.«
»Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass er Stahl ist.« Selbst Bethany klang belustigt.
»Was soll ich jetzt tun?«, fragte ich und starrte noch immer auf Ethans lächelndes Gesicht auf dem Foto.
»Gar nichts. Es ist ein ziemlicher Schock, aber ändern tut es rein gar nichts.«
»Spinnst du? Es ändert alles.«
Okay, ich weiß, was Sie jetzt denken. Dass ich der schlimmste Anti-Snob aller Zeiten bin. Und vielleicht bin ich das auch. Aber Sie dürfen nicht vergessen, wo ich herkomme. Mag sein, dass meine Großmutter die Zurückweisung meines Urgroßvaters nicht weiter kümmerte. Meinen Großvater hingegen schon. Er verabscheute die Vorstellung, dass Geld und Herkunft so etwas Fundamentales wie die Liebe eines Vaters zu seiner Tochter beeinträchtigen könnten. Und deshalb war er fest entschlossen, seine Töchter nach anderen Wertmaßstäben zu erziehen.
Natürlich funktioniert so etwas selten so, wie man es sich vorstellt. Meine Mutter, das Flittchen, war viel zu nachgiebig. Ihr hätte eine etwas strengere Hand gewiss gutgetan und sie auf einen völlig anderen Lebensweg geführt. Und Althea … nun ja, sie schien die Überzeugungen ihres Vaters zugunsten der Vorstellungen meines Urgroßvaters über Bord gekippt zu haben – »Gleich und Gleich gesellt sich gern« und all das.
Was ich damit sagen möchte, ist, dass Niko Sevalas kein Mann war, der viel auf Zeremonien gab. Seiner Ansicht nach bestimmte sich der Wert eines Menschen nicht nach seiner Herkunft, sondern nach seinem Charakter. Und er war der festen Überzeugung, dass die Mehrzahl der Leute, die die High Society bilden, nicht damit gesegnet ist.
Und in diesem Punkt kann ich ihm nur zustimmen.
Wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, musste ich zugeben, dass ich auf Dillon deshalb so wütend war, weil er mich für eine Frau wie Diana Merreck verlassen hatte. Und auf Bethany, weil sie sich mit Althea und Michael Stone eingelassen hatte. Während ich mit der Crème de la Crème ausgegangen war. Einem Spross der Mathias-Familie. Und nicht nur irgendeinem, nein, sondern mit demjenigen, der eines Tages das Firmenimperium und damit das Königreich übernehmen würde.
Was mich … wozu machte? Zur Kronprinzessin von Manhattan?
Wahrscheinlich drehte sich mein Großvater in diesem Moment im Grabe um.