Da der Alte Hirsch seinen beabsichtigten Besuch nicht sofort machte, wurden die Worte des Kühnen zu einer prophetischen Aussage. Es schien, als habe der Narbige nur darauf gewartet, daß etwas von seiner alten Kraft in ihn zu-rückkehre. Als es soweit war, machte er in seinem Haß auf die wehrloseren Farthing-Wald-Tiere Jagd. Die Oberste Feldmaus mußte zusammen mit ein paar ihrer Familienmitglieder sterben, und ihre Verwandte, die Oberste Wühlmaus, entkam mit knapper Not, aber ihre Gefährtin, und bis auf eine einzige Maus ihre ganze weitere Familie, fielen ihm zum Opfer. Der einzige überlebende war leider auch ein Männchen.
Noch bevor sich die Morde dieser einen Nacht herumgesprochen hatten, fügte der Narbige am frühen Morgen seiner Liste noch vier Kaninchen, drei davon unerfahrene Kinder, und ein kleines Eichhörnchen hinzu. Mit geradezu teuflischem Appetit fraß der Mörder alle Mäuse und eines der Kaninchen, und die, die er nicht mehr hinunterschlingen konnte, hatte er eins nach dem anderen weggetragen und in einem Ginsterbusch versteckt. Als er nach Hause zurückkehrte, ließ er nur das tote Eichhörnchen als Warnung zurück.
Seit dem Sieg des Fuchses hatte man die Nachtwachen eingestellt, und als sich nun die entsetzliche Nachricht herumsprach, machte sich der Fuchs die allerheftigsten Vorwürfe. Das Oberste Kaninchen, die Oberste Wühlmaus und das Eichhörnchen waren ganz gebrochen in seinen Bau gekommen, aber man konnte ihnen auch ihre Wut anmerken, Wut auf den Narbigen — und, besonders bei der Obersten Wühlmaus, auch auf den Fuchs selbst.
»Du hättest ihn töten sollen!« keifte sie. »Ich habe gewußt, daß es falsch war, ihn leben zu lassen! Jetzt siehst du, was du angerichtet hast. Meine arme Familie...« Sie konnte in ihrem Schmerz nicht weitersprechen.
»Du hast recht gehabt, er ist allein gekommen«, sagte der Kühne. »Aber ein so feiges und rachsüchtiges Tier verdient nicht zu leben!«
»Mit meinem Leben ist es auch vorbei«, jammerte die Wühlmaus. »Es gibt keine weiblichen Wühlmäuse mehr. Ich muß mich nun auf meine alten Tage allein durchschlagen. Und in deiner Macht hätte es gestanden, unser aller Leben ein für allemal zu retten!«
»Der Wildhüter hat den Fuchs gestört«, verteidigte die Füchsin ihren Gefährten.
»Nein... nein... sie hat ja recht«, stöhnte der Fuchs. »Ich hätte es tun können, ich hätte es tun können...«
Draußen vor dem Bau versammelte sich eine Gruppe, denn inzwischen hatten alle von den Ereignissen gehört.
Der Dachs betrat den Bau. »Jetzt muß er sterben«, sagte er hart. »Laß uns gehen, Fuchs, und unsere Aufgabe endlich zu Ende bringen.«
»Ach, wo war nur der Alte Hirsch?« rief die Schöne. »Er sollte doch dem allen ein Ende bereiten!«
»Der Narbige hört auf nichts, nur auf sein eigenes böses Herz«, antwortete der Kühne. »Ich habe dir doch schon gesagt, wie alles kommen würde.«
»Ja, ja«, stöhnte der Fuchs. »Ich bin zu weich geworden. Ich habe meine Freunde genauso auf dem Gewissen wie er.« Und er ließ verzweifelt den Kopf hängen.
»Wie hättest du das wissen sollen, wie wohl?« beruhigte ihn die Füchsin, die seinen Schmerz teilte.
»Ich hätte es aber wissen müssen«, murmelte er. »Es war meine Pflicht. Ach, welch ein böses, böses Tier!« Er stolperte ins Freie, die anderen folgten ihm. Abgesehen von der Kreuzotter waren alle anderen Tiere versammelt, sogar die Kröte war gekommen.
»Wo warst denn du, Waldkauz?« fragte das Kaninchen. »Hättest du nicht etwas tun können?«
Der Waldkauz ordnete seine Flügel und blickte verlegen zur Seite. »Ehem — nein«, antwortete er. »Ich war wohl in einer anderen Gegend.«
»Und wer beschützt uns dann?« zeterte die Wühlmaus. »Wir sind, scheint’s, die reinsten Zielscheiben!«
»Also, Wühlmaus«, stotterte der Waldkauz seine Entschuldigung, »ich — chrrr — jage natürlich nicht in diesem Gebiet, sozusagen. Sonst könnte es Unfälle geben und — chrrr — es wurde doch keine Wache mehr aufgestellt...«
»Unfälle!« unterbrach ihn das Eichhörnchen. »Und wie nennst du dann diese Morde?«
»Das waren ganz sicher keine Unfälle, Eichhörnchen«, meinte der Igel. »Es war ein geplanter Rachefeldzug. Ich wußte, daß es so kommen würde...«
»Wen interessiert das schon«, fuhr die Wühlmaus es an. »Alle Warnungen waren doch in den Wind gesprochen.«
»Ich weiß, alles, was ich jetzt noch tun kann, kommt zu spät«, flüsterte der Fuchs. »Ich kann diese Tiere nicht wieder lebendig machen. Aber laßt ihr mich wenigstens versuchen, für meine Nachlässigkeit zu sühnen?« Bittend blickte er die drei hinterbliebenen Tiere an. »Und ich möchte allein gehen«, sagte er, und jeder wußte, was das bedeutete. »Keiner von euch soll je wieder in Gefahr kommen — jetzt nicht, und...«
Bei diesen Worten schlug dem Fuchs eine Welle der Sympathie entgegen, und der Maulwurf fing wieder, wie immer schon, an zu schluchzen.
»Jeder von uns hat Verluste erlitten«, sagte der Oberste Hase. »Wir können nicht ein Tier allein dafür verantwortlich machen.«
»Ganz richtig«, sagte das Wiesel. »Warum sollte der Fuchs alles auf sich nehmen? Wir haben ganz vergessen, daß er und die Füchsin als erste ein Familienmitglied verloren haben.«
»Ich bin der Ansicht«, sagte der Pfeifer ernst, »daß alle diese schrecklichen Dinge nicht passiert wären, wenn wir uns nicht anfangs alle so abgesondert hätten. Wir waren gekommen, um im Hirschpark zu leben, also hätten wir uns auch mit Tieren unserer Art anfreunden sollen.«
»Weise Worte, Pfeifer«, gab ihm der Dachs recht. »Unser Fehler war, daß wir versuchten, innerhalb des Parkes einen neuen Farthing-Wald zu gründen.«
»Aber nun ist das Kind einmal in den Brunnen gefallen«, sagte das Wiesel.
Bedächtig schüttelte der Pfeifer den Kopf. »Schon vor langer Zeit habe ich euch geraten, meinem Beispiel zu folgen«, sagte er. »Aber bislang hat das nur die Kröte getan.«
»Auf meine eigene Art zwar«, sagte die Kröte schnell. »Zum Unterschied von vielen von euch gehe ich keine lebenslange Bindung ein.«
»Aber vielleicht ist dies eine Warnung?« sagte der Oberste Hase. »Ich muß mir nun, wenn ich eine neue Gefährtin haben will, eine aus dem Hirschpark wählen.«
»Das scheint mir eine vernünftige Idee zu sein«, meinte die Füchsin und blickte die Schöne an. »Wir müssen jetzt versuchen, wie die einheimischen Tiere zu richtigen Einwohnern des Hirschparks zu werden.«
Bewundernd blickte der Fuchs sie an. »Von allen Anwesenden habe nur ich allein meine Gefährtin auf der Wanderung hierher gefunden«, sagte er. »Und in diesem Park hätte ich keine bessere finden können. Aber meine ganze Familie wird sich an diesem vortrefflichen Plan beteiligen. Eine von uns — ihr kennt sie alle — ist schon dabei.«
»Stromer!« entfuhr es dem Kühnen. »Ein Sohn unseres gemeinsamen Feindes!«
Traurig blickte die Schöne ihn an. »Wenn du glaubst, daß ihm diese Morde nicht genauso weh tun wie uns, dann kennst du ihn schlecht!« sagte sie standhaft.
Gemurmel unter den anderen Tieren, denn die vorgeschlagene Verbrüderung weckte ganz unterschiedliche Reaktionen.
Der Turmfalke faßte alles in einer Bemerkung zusammen: »Wenn wir an der Schönen Verbindung mit diesem Stromer denken, der ja wirklich ein gutes Herz haben mag, wie können wir dann den Tod seines Vaters planen?« Nachdenklich blickte der Fuchs den Turmfalken an. »Sehr richtig«, sagte er. »Daran habe ich sicher irgendwie gedacht, als ich sein Leben schonte.«
»Dann sollen wir unsere Lieben also wegen eines fremden jungen Fuchses verloren haben?« fragte die Oberste Wühlmaus verbittert.
Der Pfeifer kam dem Fuchs zu Hilfe. »Der Narbige und sein Clan haben schon immer in dieser Gegend gejagt«, sagte er ernst. »Nach dem Gesetz der Wildnis hätten auch in friedlichen Zeiten viele daran glauben müssen.«
»Ja«, unterstützte ihn der Oberste Hase. »Wir Nagetiere leben gefährlich, wenn Fleischfresser in der Nähe sind. Im vergangenen Winter wurde eines meiner Jungen von einem Tier aus dem Park getötet.«
»Das war ein Hermelin«, sagte der Dachs. »Das, mit dem ich einmal einen Streit hatte. Ja. Gegen die Natur können wir nichts ausrichten.«
»Und was soll jetzt mit dem Narbigen werden?« fragte das Oberste Kaninchen. »Soll er weiterleben dürfen?«
Ein langes Schweigen folgte. Niemand getraute sich als erster zu sprechen. Schließlich sagte der Fuchs: »Ich frage den Alten Hirsch um Rat. Seid ihr damit einverstanden?« Keines der Tiere widersprach, nicht einmal die Oberste Wühlmaus.
»Also abgemacht. Ich gehe jetzt und berichte ihm über die Ereignisse dieser Nacht. Er ist nun einmal der Herrscher des Parkes, die Entscheidung liegt bei ihm.«
»Und wie sollen wir uns in der Zwischenzeit verteidigen?« wollte das Eichhörnchen wissen.
»Für Baumkletterer wie dich ist das doch einfach«, meinte das Kaninchen. »Denk mal an mich und die Wühlmaus...«
»Bleibt alle zusammen«, sagte der Fuchs. »Ich mache meinen Besuch und komme so schnell wie möglich zurück. Zusammen seid ihr sicher.«
Und schon war er auf und davon und überließ dem Dachs und der Füchsin die Oberaufsicht.
Es war nicht lange nach seinem Weggehen — die Tiere hatten ausführlich über das seinerzeitige Versprechen des Hirsches gesprochen, dem Narbigen ins Gewissen zu reden — , als die Kreuzotter in ziemlich erschöpftem Zustand herangekrochen kam und ihnen eine Nachricht überbrachte, die wirklich keiner erwartet hatte.