Der Dachs hätte nie zugegeben, daß es ihm schwerfiel, sich an sein altes Leben und an die alten Freunde zu gewöhnen — selbst wenn er sich dessen bewußt gewesen wäre. Die alten Freunde jedoch stellten die Veränderung an ihm sofort fest. Der Maulwurf, der regelmäßig nach dem Bau des Dachses gesehen hatte, seit sie alle von seinem Verbleib wußten, kroch durch den Verbindungsgang. Zuerst dachte er, ein fremder Dachs habe den Bau in Besitz genommen, denn sein alter Freund roch — so anders.
»Oh, hallo, Maulwurf!« begrüßte der Dachs ihn ohne rechte Begeisterung, als sein kleiner Freund unentschlossen stehenblieb. »Ja, ja, ich bin es wirklich.«
»Ich habe seit Tagen auf deine Rückkehr gewartet«, sagte der Maulwurf. »Wir haben dich so vermißt. Aber wie nett von der Katze des Wildhüters, den weiten Weg zu gehen, um uns zu beruhigen. Es tut mir nur leid, daß sie diesen Unfall hatte.«
»Sicher hätte sie einen besseren Empfang verdient«, meinte der Dachs ziemlich kühl, was den Maulwurf verwunderte. »Sie machte die Reise nur, weil ich sie mehr oder weniger dazu gezwungen hatte. Sie hat mich aber gebeten, dich zu grüßen.«
»Danke«, sagte der Maulwurf leise. Er mochte diese ungewohnte, kurzangebundene Art nicht.
Das Schweigen zog sich in die Länge. Der Dachs schien an einer weiteren Unterhaltung nicht interessiert, und der Maulwurf getraute sich immer weniger, etwas zu sagen. »Du... du siehst so... so anders aus«, stotterte er schließlich. »Irgendwie bist du dicker geworden.«
»Kann sein«, war die kurze Antwort. »Ich habe gut zu fressen bekommen.«
»Das fr... freut mich aber«, flüsterte der Maulwurf. »Ich laufe und sage dem Fuchs, daß du da bist«, fügte er völlig durcheinander hinzu und wollte sich schon auf den Weg machen.
»Laß nur«, sagte der Dachs. »Ich gehe besser selbst. Ehem — bis später dann, Maulwurf.«
Verdattert sah der Maulwurf seinem Freund nach, wie er im Ausgangstunnel verschwand, ohne daß er auch nur einen Blick zurückgeworfen hätte.
Draußen war es dunkel, und frischer Schnee bedeckte den Park. Der Dachs verzog das Gesicht und preßte die Zähne aufeinander. Der Gegensatz zwischen der Öde der Wildnis und der Behaglichkeit der menschlichen Behausungen fiel ihm noch stärker auf. Auf dem Weg zum Fuchsbau erspähte ihn der Waldkauz und glitt von einem Eichenzweig herab.
»Willkommen zu Hause, alter Freund«, krächzte der Vogel und betrachtete den Dachs ganz ungeniert von oben bis unten. »Dir scheint es ja bei dem Wildhüter recht gut gegangen zu sein. Du bist rund — und verweichlicht geworden.« Der Dachs zuckte die Achseln. »Eine schöne Abwechslung im Vergleich zum vorherigen Darben.«
»Das sehe ich«, entgegnete der Waldkauz sarkastisch. »Umso schwerer fällt es dir sicherlich, dich wieder einzugewöhnen.«
»Muß ich das?« fragte der Dachs schroff.
Der Waldkauz tat, als verstehe er nicht. »Was meinst du?«
»Komm mit mir zum Fuchs«, war die Antwort, »dann erkläre ich euch beiden alles.«
»Chrr«, brummelte der Waldkauz. »Das verspricht ein sehr interessantes Gespräch zu werden.«
Als sie ankamen, war der Fuchsbau leer, und der Dachs sagte, er wolle bis zur Rückkehr der Füchse warten. Und so machte er es sich so gemütlich wie möglich, während der Waldkauz sich auf einem Stechpalmenbusch ganz in der Nähe niederließ. Die Gedanken des Dachses wanderten zurück zur warmen Küche im Wildhüterhäuschen. Er sah seine Freundin, die Rote, vor sich, wie sie zusammengerollt in ihrem Körbchen lag, in der süßen Gewißheit, sie werde ihr Fressen bekommen, ohne sich auch nur vor die Tür bemühen zu müssen. Sie konnte den eisigen Winter völlig vergessen, der die Tiere des Hirschparkes quälte.
Ja, das Leben in der Wildnis konnte schrecklich hart sein. Dieser Gedanke wurde nur noch mehr bestätigt durch die Ankunft der Füchse. Mager, mit Reif bedeckt, kamen die Freunde in den Bau geschlichen und sanken erschöpft auf die harte Erde. So schlimm hatte der Dachs es sich nicht vorgestellt. Er vermochte kein Wort hervorzubringen. Dann erholten sich die Füchse so weit, daß sie ihn begrüßten. Von den zweien schien der Fuchs noch dünner und ausgezehrter zu sein, woraus der Dachs folgerte, daß er die besten Stücke ihrer nächtlichen Beute der Füchsin überließ. Das sah ihm ähnlich.
Der Fuchs hatte nichts von seinem Scharfsinn eingebüßt. Sein Blick schien dem Dachs bis in die Seele zu dringen. Auch seine Worte trafen sofort den Kern der Sache. »Bist du für immer zu uns zurückgekommen?« fragte er.
Bei dieser Frage überfiel den Dachs Scham — fast so, als hätte er den Fuchs verraten, wenn auch nur in Gedanken. »Dieses andere Leben scheint dir gut zu bekommen«, fuhr der Fuchs fort und wiederholte damit die Bemerkung des Waldkauzes.
»Aber, Fuchs, du weißt doch, daß ich verletzt war«, verteidigte sich der Dachs, fast als wollte er sich entschuldigen. »Natürlich«, sagte der Fuchs. »Tut mir leid. Wie geht es deinem Bein? Bist du wieder ganz gesund?«
»Ja, völlig«, antwortete der Dachs, ein bißchen munterer. »Aber — lieber Fuchs — und liebe Füchsin — ihr seht aus, als hättet ihr Schreckliches erlebt.«
»Das Leben ist hart, sehr hart«, gab der Fuchs zu und wiegte den Kopf. »Und mit jedem Tag wird es noch härter. Von den Wühlmäusen leben nur noch zwei und von den Feldmäusen auch kaum mehr. Das Kaninchen und seine Freunde haben vier Familienmitglieder verloren. Und die Eichhörnchen kommen kaum noch durch den vielen Neuschnee an ihre vergrabenen Nüsse und Beeren heran und werden auch immer weniger. Ich weiß wirklich nicht, was aus uns allen werden soll? Dachs, wir müssen alle sterben, wenn das Wetter nicht bald umschlägt, soviel ist sicher.« Jetzt, das fühlte der Dachs, war es Zeit, die Trumpfkarte auszuspielen. »Es gibt eine Lösung«, sagte er ruhig.
»Dann heraus damit. Wir wissen nicht mehr weiter.«
»Ihr müßt ja nicht im Park leben. Kommt mit mir zur Hütte des Wildhüters.«
Der Fuchs und die Füchsin blickten ihn erstaunt an.
»Das ist doch wohl nicht dein Ernst, Dachs?« Zum ersten Mal sprach auch die Füchsin.
»Aber natürlich«, sagte der Dachs beharrlich. »Warum seht ihr mich so an? Dort hat man sich um mich gekümmert, ich bekam ordentliches Futter und wurde gesundgepflegt — und jetzt geht es mir besser als je zuvor.«
»Aber du hattest dich doch verletzt, und der Wildhüter hat dich gefunden«, wiederholte der Fuchs. »Natürlich kümmert er sich um das Wohlergehen der Tiere im Park, also war es ganz normal, daß er dich gepflegt hat, bis es dir besser ging.«
»Genau!« rief der Dachs. »Du sagst es selber! Also kümmert ihn doch auch dein Wohlergehen und das der Kaninchen und der Wühlmäuse, eben jedermanns Wohlergehen, oder etwa nicht?«
In diesem Augenblick steckte der Waldkauz den Kopf ins Loch. Diese interessante Diskussion wollte er wirklich nicht versäumen.
Als nächstes war die Stimme des Fuchses zu hören. »Du schlägst also vor«, begann er, und seine Stimme klang ungläubig, »daß wir alle uns vereinen und dir zur Hütte des Wildhüters folgen?«
»Genau.«
»Und was würden wir dann tun? Alle hineinstürmen, wenn er die Tür aufmacht?«
»Also, so genau habe ich mir meinen Plan noch nicht zurechtgelegt«, gab der Dachs zu. »Aber uns fällt schon etwas ein. Die Rote kann uns dabei helfen. Ist dir nicht klar, Fuchs, daß dann unsere Nahrungssorgen ein Ende haben würden? Daran brauchtest du keinen Gedanken mehr zu verschwenden. Das Fressen kommt von selbst.«
Jetzt tauchte der Waldkauz in der Höhle auf. Er konnte es einfach nicht länger draußen aushalten. »Ich glaube, unser Freund, der Dachs, hat sich ein bißchen zu lange in der Gesellschaft von gezähmten Tieren, wie der Katze, aufgehalten«, bemerkte er trocken. »Er fängt schon an zu reden wie eines von ihnen.«
»Ich glaube nicht, daß da unser alter Dachs spricht«, sagte die Füchsin. »Was haben sie nur aus ihm gemacht?«
»Warum wollt ihr mich nicht verstehen?« jammerte der Dachs. »Ich will doch nur euer Bestes. Seht euch doch an — ihr seid halb verhungert. Noch ein paar Wochen, und von den Tieren aus dem Farthing-Wald ist keine Spur übrig. Wollt ihr das etwa?«
»Dachs, dein Verstand hat unter der Abhängigkeit von menschlicher Hilfe gelitten«, knurrte der Waldkauz. »Ich glaube, du hast vergessen, wie man für sich selbst sorgt. Wie sollte dein toller Wildhüter wohl alle Tiere aus dem Farthing-Wald in seinem Haus unterbringen? Die Eichhörnchen, Kaninchen, Hasen, Füchse... Er hat doch keinen Zoo.«
»Dem fiele schon etwas ein, da bin ich ganz sicher«, meinte der Dachs vage. »Es müßte ihm etwas einfallen, wenn er euch alle in eurem beklagenswerten Zustand sähe. Das ist doch sein Beruf!«
»Dummes Zeug, Dachs! Du scheinst die Alteinwohner des Hirschparks vergessen zu haben«, erinnerte ihn der Fuchs. »Wir sind doch nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. Was ist, wenn sie alle mitkommen wollen?«
»Diese Idee ist das Verrückteste, was ich je gehört habe«, krächzte der Waldkauz. »Es tut mir leid, daß du dich verletzt hast, Dachs, aber noch mehr leid tut es mir, daß du in Gefangenschaft geraten bis. Das hat wohl dein Denken verändert.«
»Ich habe nichts davon gesagt, daß du mitkommen sollst«, entgegnete der Dachs verärgert. »Du und der Turmfalke, ihr seid dort nicht willkommen. Denkt an die Rote.«
Der Fuchs und der Waldkauz tauschten Blicke. Es hatte wirklich den Anschein, als hätte der Dachs sich von Grund auf geändert. Die Füchsin versuchte zu vermitteln. »Du denkst sicher anders darüber, wenn du dich erst wieder an dein altes Leben gewöhnt hast«, meinte sie. »Es ist sicher schwierig für dich, da wieder anzufangen, wo du aufgehört hast, das können wir gut verstehen. Wenn wir alle zusammenhalten, werden wir schon durchkommen. Denkt doch einmal nach, was ihr Tiere aus dem Farthing-Wald nicht schon alles überlebt habt! Wenn jemand diesen Winter überhaupt überstehen kann, dann doch ihr.«
Der Dachs war wütend, daß man seine Idee verwarf. »Ihr wollt mich nicht verstehen«, fauchte er. »Ich mag mein altes Leben nicht mehr. Ich hätte gar nicht zurückzukehren brauchen, aber ich bin gekommen — euretwegen. Wenn ihr nicht mitkommt, dann gehe ich eben allein.«
»Zurück zu deiner neuen Freundin, nicht wahr?« knurrte der Waldkauz. »Die hat dich ganz schön herumgekriegt, oder?«
»Auch der Wildhüter ist mein Freund«, bellte der Dachs. »Das ist jetzt nur noch eine reine Geschmacksfrage«, sagte der Waldkauz. »Dann mußt du eben deinem Herzen folgen.«
»Schsch, Waldkauz«, warnte der Fuchs. »Wir vergessen uns.« Er wandte sich an den Dachs. »Lieber Freund, du meinst doch wohl nicht ernst, was du da gesagt hast. Wir sind immer untrennbar gewesen. Du kannst uns doch nicht so den Rücken kehren?«
»Ihr habt mir den Rücken gekehrt«, gab der Dachs mit wildem Blick zurück. »Mein Vorschlag war nur zu eurem Besten. Ich kann euch nicht zwingen mitzukommen. Ihr müßt wählen. Was mich angeht, so habe ich nicht die Absicht zu verhungern. Wenn ihr alle zusammen sterben wollt, dann will ich euch nicht davon abhalten.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und verließ den Bau.
Wie betäubt blieben seine früheren Freunde zurück. Niemand sprach ein Wort. Der Fuchs ging zum Ausgang und blickte der sich entfernenden Gestalt nach. Er wollte ihm nachrufen, ihn zurückholen, aber die Worte wollten nicht über seine Zunge. Ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken. Es hatte schon wieder angefangen zu schneien.