Ohne auch nur einen einzigen Wurm zu sich genommen zu haben, begab sich der Maulwurf am nächsten Morgen direkt in den Dachsbau, ein Beweis dafür, daß er sich wirklich Sorgen machte. Wieder war der Bau leer. Der Maulwurf verließ den Dachsbau durch einen der Ausgänge und machte sich, so schnell es ihm seine kurzen Beine erlaubten, auf den Weg zum Fuchs. Dabei verfluchte er seine Langsamkeit. Aber seine Eile hätte er sich sparen können, denn als er den Fuchsbau erreichte, teilte ihm die Füchsin mit, daß der Fuchs schon auf Suche gegangen sei. Nachdem er vom Waldkauz erfahren habe, daß dieser den Dachs nicht hatte nach Hause zurückkehren sehen, sei er sofort aufgebrochen. Sie konnten also nichts anderes tun, als abzuwarten.
Schon bald war dem Fuchs klar, daß er nie die Kraft haben würde, den ganzen Hirschpark nach dem Dachs abzusuchen, falls er ihn nicht in dem Teil des Parkes fand, in dem die Tiere des Farthing-Waldes jetzt wohnten. Zudem wurde seine Suche durch Pulverschnee und große Schneewehen erschwert. Der Marsch ermüdete ihn sehr, manchmal versank er bis zu den Schultern im Schnee. Und nach einer Weile fing es wieder in dicken Flocken an zu schneien, und die Sichtweite nahm weiter ab.
Er umging den Tiefen Grund und umkreiste dann ihr Heimatgebiet. Der Schnee hatte alle Spuren und Fährten zugeweht, die ihm hätten Hinweise liefern können, und der Fuchs sah ein, daß es so nicht ging. Er mußte Hilfe holen. Ein flinkeres und nicht so schweres Tier wie der Hase würde die weite Strecke schneller bewältigen können, dachte er. Aber vor allem wünschte sich der Fuchs den Turmfalken herbei. Der würde mit seinen scharfen Augen von hoch oben den Dachs schneller ausmachen als irgend jemand sonst. Für den Augenblick jedoch mußte er mit dem Hasen vorliebnehmen.
Glücklicherweise fand er ihn in seinem Unterschlupf zusammen mit seiner Gefährtin in einer Schneemulde hinter einem Weißdornbusch. Die jungen Hasen waren nicht zu sehen. Der Fuchs erklärte, warum er so schnell wieder zu Besuch käme.
»Das überrascht mich wirklich«, meinte der Hase. »So ein alter Knabe, und macht solche Sachen! Was der wohl vorgehabt haben mag?«
»Das weiß im Augenblick niemand«, antwortete der Fuchs. »Ich fürchte nur, daß ihm etwas zugestoßen ist. Normalerweise entfernt er sich nie weit von seinem Bau.«
»Wie kann ich dabei helfen?« fragte der Hase.
»Du bist um vieles flinker auf den Beinen als ich«, erwiderte der Fuchs. »Und du kannst größere Entfernungen zurücklegen. Wenn ich diesen Teil des Hirschparks durchkämme, könntest du dann ein bißchen weiter draußen suchen?«
Der Hase schwieg lange. Schließlich sagte er vorsichtig: »Das könnte ich. Aber ich entferne mich nicht gern so weit von zu Hause. Schließlich gibt es außer dir und der Füchsin noch andere Füchse im Park, und die jagen mich nur zu gern.«
Der Fuchs nickte. »Ich weiß« sagte er. »Aber ich habe noch nie einen Fuchs gesehen, der schneller als ein Hase laufen konnte.«
Bei den letzten Worten des Fuchses hatte die Gefährtin des Hasen die Ohren aufgestellt. »Bring ihn doch nicht in solche Gefahr«, bat sie den Fuchs. »Er ist Familienvater, das weißt du doch. Der Dachs ist ein Einzelgänger und hinterläßt keine Frau, die um ihn weint.«
»Nein, aber die Zahl derer, die ihn beweinen würden, wäre groß«, sagte der Fuchs betont.
Der Hase blickte von einem zum anderen, konnte sich nicht entscheiden.
»Nun gut, ich will dich nicht drängen«, sagte der Fuchs abschließend. »Vielleicht hat die Verantwortung, die du deiner Familie gegenüber hast, doch Vorrang.« Schon wollte er sich in Bewegung setzen, da rief ihn der Hase zurück.
»Ich mach es«, verkündete er. »Ich könnte es mir nie verzeihen, auf einen solchen Hilferuf nicht reagiert zu haben.«
»Danke«, sagte der Fuchs schlicht. Er beschrieb dem Hasen die Gegend, die dieser absuchen sollte — sie lag hinter dem Teich der Eßbaren Frösche. »Wir treffen uns dann später im Tiefen Grund«, setzte er hinzu. »Ich bin bei Anbruch der Nacht dort. Viel Glück.«
Dann verließ er die beiden, mußte aber noch mit anhören, wie der Hase von seiner Gefährtin beim Weggehen ausgeschimpft wurde. »Warum hast du dich nur von ihm überreden lassen?«
Und hierauf die gelassene Antwort des Hasen: »Wegen des Farthing-Waldes.«
Als der Fuchs durch den unablässig fallenden Schnee seine Spur zog, besserte sich seine Laune ein wenig, und etwas von seiner Müdigkeit fiel von ihm ab. Er fand härteren Schnee, da, wo es zu tauen begonnen hatte und dann wieder gefroren war. Hier konnte er schneller laufen. Und die ganze Zeit suchte er nach Fährten seines alten Freundes. Er erreichte eine Lichtung im Park, wo gewöhnlich das Rudel der weißen Hirsche anzutreffen war, und es dauerte auch nicht lange, da erblickte er eine Gruppe von ihnen. Sie fraßen von dem Heu, das der Wildhüter ihnen gebracht hatte. Unter ihnen war auch der Alte Hirsch, ein Riese, der jetzt aber gar nicht so eindrucksvoll aussah wie sonst. Der harte Winter forderte von allen Lebewesen seinen Zoll, vom größten bis zum kleinsten. Gegen den gleißend weißen Schnee wirkten die Felle der Hirsche stumpfer, als der Fuchs sie in Erinnerung hatte. Der Alte Hirsch hatte ihn bemerkt und kam behende auf ihn zu.
»Wie geht es dir und den Deinen?« fragte er.
»Nicht gut«, antwortete der Fuchs. »Das Futter wird knapp, und die Kälte setzt uns sehr zu.«
»Ja, ja, ich kann mich auch nicht an viele so kalte Winter erinnern«, sagte der Alte Hirsch. »Ich weiß auch nicht, warum, aber in diesem Jahr brauchen wir uns nicht ganz allein durchzuschlagen. Die Menschen in ihrer Güte wollen uns gegen die schlimmste Not helfen.«
»Wohl weil dein Rudel das einzige weit und breit ist. Da überrascht es nicht, daß man euch nicht ganz aussterben lassen will.«
Weise nickte der Hirsch. »Wie schade, daß du kein Heu frißt«, meinte er. »Wir haben davon mehr als genug.«
Dem Fuchs fielen die Kaninchen und die Mäuse ein. »Du könntest allerdings etwas helfen«, sagte er. »Wenn du willst, natürlich. Ganz besonders leiden jetzt meine kleineren, schwächeren Freunde. Wenn es dir nichts ausmacht, könntest du ja ein paar Hälmchen für sie beiseite legen?«
»Aber natürlich«, sagte der Alte Hirsch bereitwillig. »Aber sogar du kommst nicht oft in diese Gegend? Wäre das Herkommen nicht zu anstrengend für Tiere, die kleiner sind als du selbst?«
»Da hast du recht«, sagte der Fuchs. »Aber wenn sie richtig hungrig sind, werden sie wohl den Weg auf sich nehmen.« Der Alte Hirsch dachte einen Augenblick nach. Dann meinte er: »Außerordentlich ungewöhnlich, diese gegenseitige Unterstützung und Fürsorge in deiner Gruppe. Normalerweise geht jedes Tier auf der freien Wildbahn seiner eigenen Wege, und — wie soll ich es sagen — nur die Stärksten überleben. Ich finde diese Idee der gegenseitigen Hilfe höchst interessant, ja sogar faszinierend. Auch wir Hirsche sollten einmal bereit sein, unseren Mitkreaturen zu helfen. Vielleicht könnte ich es so einrichten, daß jedes Tier meines Rudels ein Maulvoll Heu nimmt und es an einem für deine Freunde zugänglicheren Ort ablegt?«
»Das wäre furchtbar nett«, sagte der Fuchs und fügte noch hinzu, der beste Platz dafür wäre der Tiefe Grund.
»Wird noch heute gemacht«, sagte der Hirsch. »Aber sag mir doch, lieber Freund, was dich hierhergeführt hat?«
»Einer aus unserer Gruppe — der Dachs — ist verschwunden«, sagte der Fuchs. »Ich bin auf der Suche nach ihm.«
»Hm, schon wieder diese Fürsorge. Höchst interessant«, wiederholte der Anführer des Rudels. »Also, sollte ich von ihm hören, dann komme ich und benachrichtige dich. Alles Gute weiterhin.«
Er gesellte sich wieder dem Rudel zu, und der Fuchs setzte seinen Weg fort.
Schon bald kam er in Sichtweite des Wildhüterhäuschens und des Gartens jenseits des Zaunes, und hier hatte er zum zweiten Mal Glück, denn auf einem der Zaunpfähle hockte der Turmfalke. Freudig begrüßte er den Fuchs, flog auf ihn zu und zog spielerisch Kreise über seinem Kopf.
»Komm runter, Turmfalke, ich brauche deine Hilfe«, rief der Fuchs.
Sofort hörte der Falke auf zu kreisen und glitt neben ihm zu Boden. »Was ist geschehen?« fragte er.
Der Fuchs erzählte.
»Ich fliege los — und das sofort. Ich habe heute früh schon einmal den Park überflogen, aber vom Dachs habe ich nichts gesehen.«
Der Fuchs berichtete noch vom geplanten Treffen mit dem Hasen im Tiefen Grund, dann sagte er: »Eine Frage, bevor du fliegst, Turmfalke. Wäre es dir möglich, die nächsten Tage ein bißchen in unserer Nähe zu bleiben? Vielleicht brauchen wir deine Hilfe noch.«
Der Turmfalke nickte zustimmend und schwang sich in die Luft, um mit seiner Suche zu beginnen.
Den Rest des Tages kämmte der Fuchs systematisch so viel vom Naturschutzgebiet durch, wie er schaffen konnte. Bis er merkte, daß es nicht weiterging. Mit allerletzter Kraft schleppte er sich zum Treffpunkt. Als er den Tiefen Grund erreichte, hatte es zu schneien aufgehört. Er erblickte die Füchsin, den Maulwurf, das Wiesel und den Waldkauz, die alle auf Nachrichten warteten. Als er sie sah, schüttelte er nur den Kopf.
Der Maulwurf sagte nichts, so als wagte er nicht zu sprechen.
»Ich habe den Hasen und den Turmfalken gebeten, mir zu helfen«, sagte der Fuchs erschöpft. »Ich hoffe auf gute Nachricht.«
Als nächster traf der Hase ein, aber auch er hatte nichts Tröstliches zu berichten. Aber sie wollten den Mut so lange nicht sinken lassen, bis der Turmfalke zurück sein würde. »Wenn einer den Dachs finden kann, dann dieser Falke«, sagte das Wiesel, um sich und den anderen Mut zu machen.
»Leider bedeutet das, daß, wenn der Turmfalke ihn nicht findet, wir anderen überhaupt keine Chance haben«, meinte der Waldkauz.
Wieder schwiegen sie und stampften mit ihren Füßen abwechselnd den Boden, damit sie in der grimmigen Kälte nicht erstarrten.
Schließlich traf der Turmfalke ein.
»Ich habe jeden Winkel des Naturschutzgebietes zweimal durchsucht«, sagte er, »und nirgends auch nur die kleinste Spur vom Dachs gefunden. Er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.«
Als der Maulwurf diese erschreckende Nachricht über seinen geliebten Freund vernahm, brach er vollends zusammen, und die Füchsin mußte ihm Trost zusprechen.
»Er kann doch nicht einfach verschwunden sein«, murmelte der Fuchs. »Irgend etwas stimmt da nicht.«
»Vielleicht hat man ihn in einem anderen Bau aufgenommen«, meinte der Hase.
»Niemals — nicht unseren Dachs«, sagte das Wiesel bestimmt.
»Es sei denn, man hat ihn gezwungen«, fügte der Waldkauz hinzu.
»Genau das macht mir ja solche Sorgen«, sagte der Fuchs. »Die einzige Lösung scheint zu sein, daß der Dachs sich hat fangen lassen und irgendwo unter der Erde sitzt oder abtransportiert worden ist. Aber nein, nein... das kann ich nicht glauben.«
»Nun, es gibt nichts, was wir im Augenblick tun könnten«, sagte der Waldkauz. »Ich bin fast verhungert, und ich brauche jetzt mehr Zeit als früher, wenn ich mein Abendessen besorgen will. Bis morgen also.«
Lange war er nicht fort, als die Tiere eine Gruppe von Hirschen erblickten, die sich ihnen näherte. Der Fuchs berichtete von seiner Unterhaltung mit dem Alten Hirsch, und sie alle sahen zu, wie jeder Hirsch im Tiefen Grund ein Maulvoll Heu niederlegte und sich dann gemächlich entfernte. Dies brachte den Fuchs auf andere Gedanken.
»Wenn du nach Hause gehst, Hase, benachrichtige doch bitte deine Vettern, die Kaninchen.«
»Zuerst will ich selbst einen Bissen zu mir nehmen«, antwortete dieser.
»Ich gehe jetzt und sage es den bedauernswerten Mäusen«, fuhr der Fuchs fort.
»Nein«, meinte das Wiesel, »du bist dazu viel zu müde. Du gehst jetzt nach Hause und ruhst dich aus. Ich sag’ es ihnen.«
Der Fuchs wollte noch von seinem Gespräch mit dem Alten Hirsch berichten und was dieser über Nachbarschaftshilfe gesagt hatte, aber er war einfach zu erschöpft und erlaubte der Füchsin, ihn in seinen Bau zu bringen.
Als letzter verließ der Maulwurf den Tiefen Grund. »Ich kann es nicht glauben«, murmelte er immer wieder. »Er ist nicht verschwunden. Ich finde ihn! Ich finde ihn!«