Der Dachs hatte lange und gründlich über die Schwierigkeiten der Tiere nachgedacht, und dabei war ihm aufgegangen, daß keiner von ihnen wußte, wie die Alteinwohner des Naturschutzgebietes mit dem Winter fertig wurden. Da sie die Nahrungsquellen des Hirschparkes viel besser kennen mußten als die Neuankömmlinge aus dem Farthing-Wald, konnte es wohl nichts schaden, wenn er sich bei ihnen Rat holte.
Ohne seine Freunde zu benachrichtigen, verließ er seinen Bau zur gewohnten Zeit und machte sich auf die Suche. Die Nacht war windstill und sternenklar, und der Mond spendete Licht. Es war schrecklich kalt, und der Dachs lief so schnell, wie es ihm sein watschelnder Gang erlaubte. Längst lagen die vertrauten Gegenden des Parkes hinter ihm, als er auf ein anderes Lebewesen stieß. Unter einem Gebüsch überraschte er ein Hermelin über einem toten Kaninchen. Die beiden Fremden musterten einander mißtrauisch.
»Eine bitterkalte Nacht«, sagte der Dachs endlich.
»Es reicht nicht für zwei«, erwiderte das Hermelin, das wohl glaubte, der Dachs wolle ihm sein Futter wegnehmen.
»Ich will dein Futter nicht«, sagte der Dachs. »Ich sehe doch, daß du hungrig bist.«
»Bin fast verhungert«, erwiderte das Hermelin kurz angebunden. »Habe seit drei Tagen nichts zu fressen gehabt.«
»Schwierigkeiten mit der Jagd?« fragte der Dachs überflüssigerweise.
»Das ist stark untertrieben«, kam die Antwort. »Es gibt keine Jagd mehr. Wenn du mich schon fragst: Dieses Kaninchen ist erfroren. Natürlich ist es steinhart. Aber heutzutage muß man nehmen, was man kriegt.« Es riß noch ein Stück Fleisch aus dem toten Körper, und es schien ihm hervorragend zu schmecken. »Was ist mit dir?« fragte es kauend. »Ich habe dich noch nie in dieser Gegend gesehen?«
»Nein, das konntest du auch nicht«, meinte der Dachs. »Ich bin ein Neuankömmling.«
»Ah, dann gehörst du zu den berühmten Auswanderern«, sagte das Hermelin, aber es klang ein wenig spöttisch. »Ich wette, ein Paradies des Überflusses habt ihr nicht gefunden.«
»Mit solch einem Wetter hatten wir nicht gerechnet«, antwortete der Dachs. »Es sieht aber so aus, als ob es überall so kalt wäre.«
»Klar doch«, versicherte das Hermelin. »Dieser Winter verringert die Bevölkerung des Hirschparks auf die Hälfte.«
»Meinst du? Steht es so schlimm?«
»Sicher«, sagte das Hermelin schroff. »Wenig Futter bedeutet, daß nur wenige überleben werden.«
Der Dachs nickte. »Ja, wahrscheinlich hast du recht.«
Das Hermelin schien darauf zu warten, daß man es endlich in Frieden ließ. Schließlich merkte das auch der Dachs. »Ehem — entschuldige, daß ich dich gestört habe«, sagte er. »Ich werde dich jetzt verlassen.« Er setzte sich in Trab und warf ein zögerndes »Viel Glück« zurück, aber das Hermelin war viel zu beschäftigt mit seiner Mahlzeit, um antworten zu können.
Seine Worte jedoch hatten dem Dachs klargemacht, daß es keinem Lebewesen im Park besser erging. Der Alte Hirsch fiel ihm ein. Der war weise und konnte vielleicht den Tieren in ihrer Not helfen. Aber wo war er? Jedenfalls nicht im Wald. Er würde auf einer der Lichtungen zu finden sein. Der Dachs setzte seinen Weg fort.
Aber er erreichte das Hirschrudel nie. Wohl sah er es schon von weitem, als der Unfall geschah. Er wollte einen kleinen Abhang hinunterlaufen, der blankgefroren war, rutschte aus, überschlug sich beim Fallen und sauste wie ein Schlitten zu Tal. Unten lag ein großer Felsen. Der Dachs konnte ihm nicht ausweichen. Mit einer Seite seines Körpers und einem Hinterbein prallte er hart gegen den Felsen. Er stieß einen Schmerzensschrei aus, die Luft blieb ihm weg. Als er wieder atmen konnte, versuchte er sich aufzurichten, aber ein so heftiger Schmerz durchzuckte sein verletztes Bein, daß er wieder zurücksank.
So lag er nun für den Rest der Nacht. Er wußte, laufen konnte er nicht mehr, und die fürchterliche Kälte drang ihm durch Mark und Bein. Er fragte sich, was wohl aus ihm werden würde. Welche Hoffnung habe ich noch? dachte er. Meine Freunde sind so weit, ich habe nichts zu fressen, keinen Unterschlupf, und ich kann mich nicht bewegen. Schließlich fiel er in einen unruhigen Schlaf.
Als der Morgen heraufdämmerte, wachte der Dachs so steifgefroren auf, daß er kaum noch den Kopf heben konnte. Aber die Rettung nahte schon, obwohl er es nicht wußte. Der Wildhüter im Park hatte Heu für das Hirschrudel gebracht und machte gerade im Landrover seine gewohnte Kontrollfahrt durch den Park. Von Zeit zu Zeit hielt er an und betrachtete das Gebiet durch sein Fernglas, da entdeckte er den bewegungslosen Körper des Dachses und stieg aus, um nachzusehen. Plötzlich merkte der Dachs, daß er hochgehoben und sanft auf ein paar alte Teppichläufer gelegt wurde. Dann brachte ihn der Wildhüter in die Wärme und Behaglichkeit seiner Küche.
Er holte einen ausgedienten Hundekorb, polsterte ihn mit Tüchern und Stoffresten aus und legte den Dachs, der sich nicht wehrte, hinein. Dann betrachtete er das Tier nachdenklich und begann ein Essen zuzubereiten. Der Dachs schlummerte wieder ein, seine Schwäche und die Wärme im Raum waren zu einladend.
Als er dann wieder aufwachte und schläfrig blinzelte, fand er vor sich etwas rohes Hackfleisch und einen Teller warme Milch. Es gelang ihm, an das Fressen heranzukommen, und er verschlang es gierig. Das schien seinen Retter zu freuen, denn als der Dachs sich beobachtet fühlte, blickte er auf. Der Mann lächelte freundlich, und der Dachs war erstaunt, ja fast entsetzt über die Heiterkeit des menschlichen Gesichtes. Noch nie hatte er einen Menschen aus der Nähe gesehen. Er spürte etwas Geheimnisvolles, ja Ehrfurchtgebietendes: etwas, das weit über seine Erfahrungen und Begriffe hinausging.
Der Wildhüter hielt sich nicht länger mit ihm auf, und so konnte der Dachs sein Mahl in Ruhe und Frieden genießen. Als er in das für ihn gemachte Bett zurücksank, dachte er an seine Freunde im Park und daß er ihnen hatte helfen wollen. Eine schöne Hilfe war er gewesen. Sie litten immer noch unter dem grimmigen Winter — kämpften gegen die Elemente, drohten zu unterliegen. Er wußte, daß man seine Abwesenheit bemerken würde. Die Tiere würden nichts über sein Schicksal erfahren, so wie er nichts über das ihre erfahren würde. Ob er je wieder würde laufen können? Er wußte, der Wildhüter meinte es gut mit ihm. Aber wie lange mußte er noch hierbleiben? Wie schrecklich, daß er so hilflos war.
Diese Hilflosigkeit machte ihn noch trauriger, und in seinem geschwächten Zustand fiel er bald wieder in Schlaf. Er merkte nicht, daß der Wildhüter mehrere Male, während er schlief, zu ihm hineinschaute und sich über sein Schnarchen amüsierte. Aber als er abends zu seiner gewohnten Zeit aufwachte, stand vor ihm ein neuer Teller mit Gehacktem und dazu frisches Wasser.
Kaum hatte er alles gefressen, da spürte er, daß jemand im Zimmer war, obwohl er keinerlei Bewegung hören konnte. In dem schwachen Licht, an das er gewöhnt war, erkannte er bald ein Paar grüne Augen, die ihn von der Tür her unverwandt anstarrten. Sie gehörten einer großen, rotbraunen Katze, dem Haustier des Wildhüters.
»Dir geht es aber nicht gut«, meinte sie und kam auf leisen Pfoten unendlich gelassen auf ihn zu. Am Korb angelangt, neigte sie den Kopf und beschnupperte den Dachs sehr lange. »Du riechst nach wildem Tier«, meinte sie.
Ihre Kaltblütigkeit verblüffte den Dachs. Schließlich war er keine Maus oder Taube, sondern ein großes, ungezähmtes kraftvolles Tier.
»Hast du mein Fleisch gefressen?« war ihre nächste Frage. »Dein Herrchen hat es mir gegeben«, erwiderte der Dachs. Sofort gab die Katze zurück: »Ich habe kein Herrchen. Ich bin mein eigener Herr. Ich mache, was ich will.«
»Warum frißt du dann das Fleisch, daß dir die Menschen geben?« fragte der Dachs hinterlistig.
»Warum sollte ich nicht?« wollte die Katze wissen, aber ihr Schwanz zuckte etwas irritiert. »So brauche ich mich nicht selbst um Futter zu bemühen.«
Der Dachs schwieg.
»Ich habe sowieso nichts dagegen, daß du es gefressen hast«, sagte die Katze lässig. »Es gibt noch viel mehr davon, und noch alle möglichen anderen Sachen. Magst du Fisch?«
»Ein paarmal habe ich schon Fisch gegessen«, antwortete der Dachs.
»Hm, was frißt du denn sonst?«
»Raupen, Wurzeln, Knollen, kleine Tiere...«
»Auch Ratten?«
»Manchmal.«
»Gut. Dann haben wir etwas gemeinsam. Ich mache schrecklich gern Jagd auf Ratten.«
»Gibt es hier viele?« wollte der Dachs wissen, der dabei sofort an den Fuchs und die Füchsin und auch an den Waldkauz dachte.
»Nicht mehr, seitdem ich hier auf getaucht bin«, prahlte die Katze und spreizte ihre Krallen. »Der Mann hat mich vor zwei Wintern als kleines Kätzchen hierhergebracht.«
Der Klang menschlicher Schritte machte ihrer Unterhaltung eine Ende. Der Wildhüter betrat den Raum, und der Dachs bemerkte mit Erstaunen, wie dieses gezähmte Tier vollkommen den Charakter wechselte. Es lief auf sein Herrchen zu und verwandelte sich in ein spielerisches und zärtliches Haustier, rieb sich an seinen Beinen und schnurrte laut; dann flitzte es in eine Ecke, sprang zurück und fing wieder von vorn an. Der Mann sprach mit seinem Tier, und sofort fing es noch lauter an zu schnurren.
Natürlich! Es war Essenszeit für die Katze, und das Um-die-Beine-Streichen und das Recken und Strecken und Miauen würde so lange weitergehen, bis sie ihr Fressen bekam. Es hörte dann auch sofort auf, denn nun war die Mahlzeit viel wichtiger.
Auch der Dachs wurde vom Wildhüter angeredet. Natürlich verstand er kein Wort, aber es klang so freundlich und tröstlich, daß er einfach wußte, daß die Worte auch so gemeint waren.
Als der Wildhüter die Küche wieder verließ, folgte ihm die Katze. Kurz danach kam sie zurück und steckte ihren roten Kopf durch die Tür. »Also, ich liege für den Rest des Abends vor dem Kamin«, teilte sie dem Dachs mit. »Ich bin so schön schläfrig. Wir können uns dann später unterhalten. Hoffentlich hast du es auch gemütlich?«
Das konnte der Dachs nur bejahen, und dann war er wieder allein. Er dachte über die seltsame neue Bekanntschaft nach: halb gezähmt und doch halb wild. Trotzdem mochte er die Katze. Von ihr konnte man sicherlich eine Menge interessanter Dinge erfahren.
Draußen schneite es wieder. In der Wärme und Sicherheit seines Körbchens fühlte sich der Dachs richtig schuldig, als ihm seine alten Freunde wieder einfielen. Wenn sie doch nur an seinem neuen, schönen Leben teilhaben könnten!