Der Kühne stimmte seinem Vater natürlich begeistert zu. Er war überglücklich, daß man ihn für die wichtige Aufgabe, die Kreuzotter herumzubekommen, ausgewählt hatte. Sein Bruder wollte auch gern dabei sein und drängte seinen Vater, ihn mitgehen zu lassen, bis dieser nachgab.
»Also gut«, sagte der Fuchs. »Ich glaube, es kann nicht schaden, Hauptsache, du überläßt dem Kühnen das Reden.« Dieses Vertrauen in seine Fähigkeiten machte den Kühnen unendlich stolz, er war weit davon entfernt, deswegen überheblich zu sein, er wußte nur, daß man großes Vertrauen in ihn setzte. Der Fuchs erklärte ihm, wo die Kreuzotter zu finden wäre.
»Wir machen uns früh auf den Weg«, sagte der Kühne. »Wenn Leben auf dem Spiel stehen, haben wir keine Zeit zu verlieren.«
So verließen er und der Friedfertige im ersten Morgengrauen den Bau und machten sich auf die Suche nach der ahnungslosen Kreuzotter. Der Fuchs sagte zur Füchsin: »Schafft er das, dann hat er wirklich ein Recht auf mehr Selbständigkeit. Wenn er den Bau für immer verlassen will, müssen wir ihn ziehen lassen.«
»Ihn hätte ich sicher nicht mit Gewalt fortjagen müssen«, meinte die Füchsin. »Aber nur zu oft muß die Mutter allzu anhängliche Jungfüchse hinaustreiben.«
»Das ist sicher eine der weniger angenehmen Aufgaben für eine Mutter«, sagte ihr Gefährte. »In unserem Fall brauchen unsere anderen beiden Kinder vielleicht ein wenig Nachhilfe.«
»Ich glaube, der Friedfertige geht, wohin sein Bruder geht. Aber diese da könnte zum Problem werden«, und sie deutete auf die Schöne, die immer noch schlief.
»Wenn sie keinen Gefährten findet«, meinte der Fuchs etwas dunkel.
Der Kühne und der Friedfertige bewegten sich vorsichtig auf das lange Gras zu, das nahe am Grenzbach wuchs. Das war die Gegend, wo sie die Kreuzotter zu treffen hofften. Nach dem stürmischen Wetter des Vortages war heute ein ruhiger und kühler Morgen.
»Was für ein wunderschöner Morgen für ein Abenteuer!« rief der Friedfertige.
»Wir haben eine sehr ernste Aufgabe übernommen«, sagte der Kühne. »Wir sollten uns geehrt fühlen.«
Der Friedfertige wurde nachdenklich. »Hoffentlich enttäuschen wir niemanden?« meinte er unsicher. »Wenn wir nun die Kreuzotter gar nicht finden?«
»Wenn sie hier ist, dann überwacht sie sicher alles Kommen und Gehen«, meinte der Kühne zuversichtlich.
»Der Maulwurf sagt, daß ihre Augen immer offen sind«, flüsterte der Friedfertige, als sie ins hohe Gras kamen, »weil doch Schlangen keine Augenlider haben.«
»Unsinn«, antwortete der Kühne. »Wie könnte sie dann wohl schlafen?«
»Vielleicht braucht sie keinen Schlaf«, meinte der Friedfertige, »sie tut ja nicht so viel.«
Der Kühne stand still und kratzte sich die Seite. »Wenn du das glaubst, dann hast du noch nie erlebt, wie sie eine Beute anpirscht. Wenn die zubeißt, ist sie schnell wie der Blitz.«
»Vielen Dank für das Kompliment, Knäblein«, zischelte es neben ihnen. Und schon glitt die Kreuzotter in ihr Blickfeld. »Es ist selten, daß jemand etwas Nettes über mich sagt.« Der Kühne wußte, einen besseren Einstieg hätte er gar nicht haben können. »Ich weiß, daß mein Vater und meine Mutter immer nur Gutes über dich reden«, setzte er eifrig hinzu.
Die Kreuzotter lachte trocken. »Mein Gott, welche Treue«, lispelte sie.
Der Kühne wußte nicht so recht, ob sich das auf sie selbst oder auf seine Eltern bezog. Durchdringend starrte die Kreuzotter ihn an. »Hast du vielleicht so ganz zufällig nach mir gesucht?« fragte sie.
»O nein«, log der Kühne. »Wir — also — wir machen einen kleinen Spaziergang.«
»Ja, genau. Ein bißchen herumstromern«, half der Friedfertige nach.
Die Kreuzotter starrte den Kühnen immer noch an. »Na ja«, sagte sie schließlich. »War nett, euch zu treffen.« Und wollte sich entfernen.
»Ehem — willst du nicht ein bißchen bleiben?« fragte der Kühne schnell. »Wir — wir sehen uns doch so selten.«
Die Kreuzotter zeigte immer noch ihre undurchdringliche Miene, aber in ihren roten Augen blitzte es auf. Sie merkte, woher der Wind wehte. »Na gut«, meinte sie. »Wie schön, daß ich so begehrt bin.« Jetzt war der sarkastische Unterton in ihrer Stimme nicht mehr zu überhören. Der Friedfertige geriet in Nervosität, aber der Kühne bemühte sich um Gelassenheit. Er überlegte sich eine passende Eröffnung für sein wichtiges Anliegen. Die Schlange wartete.
»Ehem — also meine Eltern lassen schön grüßen«, sagte er.
»Danke. Dachten sie, ihr würdet mich treffen?«
»Ja — nein. Aber sie wußten, daß wir hier entlang gehen, und da — ja — , da bist du doch oft zu finden.« Der Kühne kam ins Schleudern und sah den Friedfertigen hilfesuchend an.
»Ach ja, ich muß wohl gesagt haben, daß ich hier zu finden bin«, sagte die Schlange, die schon alles wußte. »Geht es dem Fuchs und der Füchsin gut?«
»O ja, ihnen schon«, antwortete der Kühne mit deutlich sichtbarer Erleichterung über die sich endlich bietende Gelegenheit, das Thema anzupacken.
»Darf ich daraus schließen, daß es jemand anders nicht gut geht?« wollte die Kreuzotter wissen.
»Die Gefährtin des Hasen wurde umgebracht«, sagte der Friedfertige ziemlich unverblümt.
»Das sind ja schlechte Nachrichten«, sagte die Kreuzotter. »Wie ist es denn passiert?«
»Der Narbige war es«, antwortete der Kühne.
Jetzt hatte die Kreuzotter endlich begriffen, was die beiden jungen Füchse von ihr wollten. Mit ihrer Unerfahrenheit konnten sie gegen ihre Schläue nichts ausrichten. Sie wußte, man hatte sie mit Absicht zu ihr geschickt. Also ließ sie die beiden in die Falle laufen.
»Sicherlich möchte der Fuchs, daß alle Farthing-Wald-Tiere diesen Mord rächen?«
Der Friedfertige ging voll ins Netz. »Nein, nicht alle, nur eines«, platzte er heraus. Wütend blickte der Kühne ihn an.
»Aha, aha«, zischelte die Schlange. »Und was hat das mit mir zu tun?« (Natürlich wußte sie das ganz genau.)
»Mein Vater möchte dir nur mitteilen, was passiert ist«, sagte der Kühne in der Hoffnung, die Situation noch retten zu können. »Damit du, falls du meinst, daß du irgendwie helfen kannst, damit du — also...«
»Damit ich das dann auch tue«, zischte die Schlange. »Schon gut, ihr braucht nichts mehr zu sagen, ich verstehe ausgezeichnet.« Sie schien ihren Spaß an der Sache zu haben. »Ich soll also Werkzeug bei dieser Sache sein.«
»Warum konntest du nicht bloß den Mund halten?« fuhr der Kühne seinen Bruder ärgerlich an. »Du hast doch gehört, was Vater gesagt hat. Ich sollte allein reden.«
»Du liebe Zeit!« seufzte die Schlange. »Seid ihr euch etwa nicht einig?«
»Wäre ich bloß allein gegangen«, knurrte der Kühne.
Die Kreuzotter amüsierte sich köstlich über das Unbehagen der beiden jungen Füchse. Mit zuckersüßer Stimme lispelte sie: »Ihr braucht euch doch nicht zu entschuldigen, wenn ihr mich besuchen wollt. Ich freue mich immer, wenn ihr kommt. Unsere kleine Unterhaltung hat mir viel Spaß gemacht.«
Des Kühnen Stolz sank in sich zusammen. Für Kreuzottern war er einfach nicht schlau genug. Seine betrübte Miene rührte selbst das kalte Herz der alten Schlange.
»Du kannst deinem Vater bestellen, daß ich alles tun werde, um den gerechten Ausgleich wiederherzustellen«, sagte sie zu ihm. »Und«, fügte sie hinzu, »nichts könnte mir mehr Vergnügen machen.«
Der Kühne spitzte die Ohren und blickte die Schlange erstaunt an.
»Und wenn du mich das nächste Mal besuchst, dann hoffentlich nur zu unserem beiderseitigen Vergnügen.«
Und schon war sie fort, ihre Zickzackzeichnung glitt durch das hohe Gras, es raschelte ganz leise.
»Ich glaube, die könnte sogar noch unseren Vater hereinlegen«, flüsterte der Kühne voller Bewunderung und fragte sich, ob er tatsächlich als Antwort darauf ein Lachen im Farnkraut gehört hatte.
»Wir haben es geschafft! Wir haben es geschafft!« jubelte der Friedfertige.
Der Kühne war zu glücklich, um seinen Bruder noch einmal zu schelten, und wollte jetzt nur eins: dem Fuchs von ihrem geglückten Treffen berichten. »Hör gut zu, Friedfertiger«, sagte er. »Es gibt keinen Grund zu erzählen, daß die Kreuzotter erraten hat, daß man uns absichtlich zu ihr geschickt hatte. Wenn wir zugeben, daß sie uns überlistete, dann ist unser Triumph nur halb so groß.«
»Ist das nicht gelogen?« fragte der Friedfertige einfältig. »Und wenn, macht es nichts. Wir haben erreicht, was wir wollten, oder? Der Narbige wird sterben, und das allein zählt.«
Dem Friedfertigen gefiel es gar nicht, daß er nicht die ganze Wahrheit erzählen durfte, er beschloß jedoch, überhaupt nichts mehr zu sagen, weil er vorhin fast den ganzen schönen Plan zunichte gemacht hatte. Leider sollte des Kühnen Unaufrichtigkeit sie teuer zu stehen kommen, sie war ein Fehler, den er noch lange zu bereuen hatte.