Die Kreuzotter, die den Rest der Nacht auf des Kühnen Rückkunft gewartet hatte, merkte, wie die ersten Sommersonnenstrahlen ihren Körper wärmten. Jetzt war es an der Zeit, das Fehlen des jungen Fuchses zu melden.
So schnell es eben ging, glitt sie durch Schilf und trockene Blätter und kam zum Bachufer. Sie war eine gute Schwimmerin, und so war der Bach kein Problem für sie. Schnell war sie auf der anderen Seite. Aber der Fuchsbau war noch weit entfernt, und die Kreuzotter wußte, es würde Stunden dauern, bis sie dort ankam. Für lange Märsche war sie einfach nicht geschaffen. Sie mußte dringend jemanden finden, der die Botschaft schneller überbringen konnte. Leider kannte sie kein Tier aus dem Farthing-Wald, das hier lebte. Der Turmfalke wäre ein wunderbarer Botschafter gewesen, aber wie sollte die Kreuzotter mit ihm Kontakt aufnehmen, er schwebte so hoch über ihr, selbst wenn er gerade den Park überflog. Vielleicht traf sie einen anderen Vogel; aber der Waldkauz würde wohl schlafen, während der Pfeifer die meiste Zeit am Wasser verbrachte. Doch immer war auch der Reiher nicht am Bachufer, deshalb durfte die Kreuzotter keine Zeit auf eine vielleicht ergebnislose Suche verschwenden. Also kämpfte sie sich weiter.
Aber sie hatte Glück. Als sie sich durch das Gras schlängelte, traf sie auf den Obersten Hasen, der sich auf einem Grasbett ausruhte.
»Du kommst hier vorbei?« sagte der Hase erstaunt.
»Ich habe gute Gründe«, sagte die Kreuzotter und erklärte die Dringlichkeit der Botschaft. »Ein Glück, daß ich dich getroffen habe. Du hast die schnellsten Beine im ganzen Naturschutzgebiet.«
Der Oberste Hase zögerte keinen Augenblick. Ohne ein Lebewohl war er auf und davon. Die Kreuzotter suchte sich eine warme Stelle auf der Erde und beschloß, ein Sonnenbad zu nehmen. Später am Tag würde man sie über die Ereignisse informieren.
Minuten später hatte der Hase in halsbrecherischem Tempo den Fuchsbau erreicht. Drinnen fand er eine besorgte Familie vor, die sich die Abwesenheit des Kühnen nicht erklären konnte. Als sie nun hörten, daß dieser mit Absicht in das Revier des Narbigen eingedrungen war, mußten sie das Schlimmste befürchten.
Der Fuchs machte ein verkniffenes Gesicht. »Wir müssen sofort zu ihm«, entschied er. »Es kann bereits zu spät sein.«
»Ich gehe und alarmiere den Dachs und ein paar andere«, erbot sich der Hase.
»Nein. Ich habe es schon einmal gesagt und sage es noch einmal: Dies ist mein Krieg. Damit müssen wir allein fertigwerden. Ich möchte nicht, daß irgendeinem Freund unseretwegen etwas passiert.«
»Schon gut«, sagte der Hase. »Aber wenn du Hilfe brauchst, dann wäre es dumm, nur aus Stolz nicht darum zu bitten.«
»Wir sind vier«, sagte der Fuchs und zeigte auf seine Familie. »Der Friedfertige und die Schöne sind voll ausgewachsen. Wir gehen als Rudel und suchen den Fehlenden.«
»Wir wollen keinen Streit«, sagte die Füchsin, »und wir wollen auch nicht kämpfen. Wir wollen nur den Kühnen finden und ihn zurückholen.«
»Alles Gute«, sagte der Hase.
»Vielen Dank für die Nachricht«, sagte die Füchsin. »Der Kreuzotter werden wir auch noch danken.«
Der Hase sah die Familie aufbrechen. Er hatte wenig Hoffnung, daß sie den Kühnen finden würden. Und ebensowenig glaubte er daran, daß sie, falls sie ihn heimbrachten, unverwundet dem Narbigen entkommen könnten.
Wieder draußen im Sonnenschein, setzte er sich hin und dachte nach. Ungern wollte er dem Wunsch des Fuchses zuwiderhandeln, aber er wußte auch, daß der Dachs und zumindest der Waldkauz es ihm nie verzeihen würden, wenn er sie nicht über die Entwicklung der Dinge unterrichtete. »Ich glaube, ich kann zumindest die Worte des Fuchses an sie weitergeben«, sagte er zu sich, »und dann hoffen, daß sie sie respektieren.« Wieder grübelte er. »Natürlich wird der Waldkauz so impulsiv handeln wollen wie üblich. Vielleicht sage ich es nur dem Dachs.«
Nachdem er zu diesem Entschluß gekommen war, rannte er flink zum Dachsbau und fand den Dachs in einer Unterhaltung mit dem Maulwurf. Er erklärte ihnen die Lage.
»Ich wußte, daß wir mit dem Probleme bekommen würden«, sagte der Dachs. »Aber schließlich ist er kein Kind mehr. Er führt sein eigenes Leben. Natürlich, die Reife fehlt ihm noch...«
»Ach, warum will der Fuchs sich nicht von uns helfen lassen?« zeterte der Maulwurf. »Ich glaube, der Narbige würde unsere vereinte Streitmacht respektieren.«
»Viele von uns Farthing-Wald-Tieren sind so klein, daß er ganz bestimmt vor ihnen keine Angst hat«, sagte der Dachs. »Ich möchte dir nicht weh tun, Maulwurf, aber ein alter Krieger wie der Narbige wird sich wohl kaum vor dir und der Obersten Wühlmaus fürchten, oder gar etwa vor der Kröte. Er ist imstande und verspeist euch als köstliches Abendessen.«
Der Maulwurf tat ein wenig beleidigt. »Meine Absichten sind aber edle«, verteidigte er sich. »Und dann beeindruckt ja immer noch unsere Zahl.«
»Ich glaube, der Maulwurf hat wirklich recht«, stimmte ihm der Hase zu. »Die meisten Tiere im Park halten uns immer noch für etwas Besonderes. Wir waren es, die jene berühmte Wanderung gemacht haben — gegen alle Widerstände. Wir werden als besonders erfinderisch angesehen — warum sollten wir uns von irgendeiner Gefahr einschüchtern lassen, wenn wir schon soviel hinter uns haben?«
»Genau das ist es!« rief der Maulwurf entzückt. »Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.«
»Nur dürfen wir nicht vergessen, daß wir uns nicht einmischen sollen.«
»Ich glaube, der Fuchs hätte nichts dagegen, wenn wir ihm in sicherer Entfernung folgen würden«, meinte der Hase. »Na ja — nur um sicherzugehen, daß alles in Ordnung ist.« Der Dachs blickte den Maulwurf an. »Was meinst du dazu, Maulwurf?«
»Ach, ich denke, deswegen kann niemand uns böse sein.«
»Dann machen wir uns am besten sofort auf den Weg«, sagte der Dachs schnell. Sie hatten den Vorwand gefunden, den sie brauchten.
»Auf dem Weg nehmen wir das Wiesel mit«, sagte er. »Und so viele von den anderen wie nur möglich.«
Der Hase äußerte Zweifel wegen des Waldkauzes.
»Aber nicht doch, wir können den Kauz doch nicht zurücklassen«, sagte der Dachs, »überlaßt das nur mir. Er wird nichts Impulsives unternehmen, da bin ich ganz sicher.« Der Maulwurf nahm seine alte Reisestellung auf dem Rücken des Dachses ein, und dann ging es los. Das Wiesel war der Vierte im Bunde, dazu kamen dann noch der Igel, das Oberste Kaninchen und das Oberste Eichhörnchen. Bald hatte man auch den Waldkauz ausgemacht, und alle freuten sich, als der Turmfalke zu ihnen herabstieß, nachdem er die Gruppe aus der Luft erspäht hatte.
»Habe mir schon gedacht, daß da etwas im Gange ist«, bemerkte er, als der Dachs ihm alles erklärt hatte. »Ich fliege voraus und sehe nach, ob ich den Fuchs und seine Familie finde.«
Unterwegs fühlten die Tiere, wie etwas von dem Kameradschaftsgeist von früher zurückkehrte, und sie erinnerten sich an ihre vielen gemeinsamen Abenteuer auf der langen Wanderung zum Hirschpark. Jetzt waren sie wieder einmal durch eine neue Krise vereint. Das Leben ihres früheren Anführers war in Gefahr, und es war ihre Pflicht, ihm zu helfen.
Sie kamen zu der Stelle, wo die Kreuzotter den Obersten Hasen getroffen hatte, aber die Schlange war nirgends zu entdecken.
»Sicher hat sie sich irgendwo versteckt«, meinte das Wiesel. »Die Kreuzotter hat noch nie viel Gemeinschaftsgeist entwickelt. Sie macht alles lieber im Alleingang.«
»Aber bei Gefahr hat sie uns noch nie im Stich gelassen«, versicherte der Dachs. »Es sollte mich nicht wundern, wenn sie den Fuchs und die Füchsin begleitete. Sie müssen hier vorbeigekommen sein.«
Der zurückkehrende Turmfalke brachte neue Nachrichten. »Der Fuchs und die Füchsin sind auf der anderen Seite des Baches mit den anderen beiden Jungen. Sie haben noch nichts gehört oder gesehen und gehen sehr vorsichtig vor.«
»War die Kreuzotter bei ihnen?« fragte der Maulwurf. »Nein, die ist nirgends zu sehen«, erwiderte der Falke. »Sicher schläft sie irgendwo, schließlich ist sie ein vernünftiges Tier«, schnarrte der Waldkauz und gähnte dabei.
»Wenn die Sonne scheint, kann man gar nichts Besseres tun.«
»Die Kreuzotter schläft nie richtig«, sagte der Maulwurf. »Nicht wie wir. Sie hat keine Augenlider.« Und er kicherte. »Wir haben alle unsere Eigenheiten, Maulwurf«, wies ihn der Dachs zurecht. »Die Kreuzotter könnte sich genausogut über deine Kurzsichtigkeit lustig machen.«
Jetzt sagte der Maulwurf nichts mehr. Der Dachs hatte seinen wunden Punkt getroffen.
Der Waldkauz gähnte schon wieder. »Herrje, ich habe gar nicht gewußt, daß ich so müde bin. Vielleicht hätte ich weiterdösen sollen. Wahrscheinlich bin ich nur von wenig Nutzen.«
»Ich weiß gar nicht, ob einer von uns überhaupt von Nutzen sein kann«, gab der Dachs zurück. »Der Fuchs möchte nicht, daß wir uns einmischen. Wir können ihn eigentlich nur moralisch unterstützen.«
Sie liefen zum Bach und schwammen einer hinter dem anderen hinüber. Der Turmfalke und der Waldkauz begleiteten sie in der Luft. Einmal am anderen Ufer, wurde kein Wort mehr gewechselt, sie wußten zu genau, daß sie feindliches Gebiet betreten hatten.
Das Oberste Kaninchen flüsterte: »Haltet ihr es für ratsam weiterzugehen? Hier patrouilliert doch der gräßliche Narbige mit seiner Familie und... also der Hase und ich sind doch seine natürliche Beute.«
»Du meinst, daß es wenig ratsam für dich ist, weiterzugehen«, sagte das Wiesel spitz. »Ich denke, wenn jemand mit so bangem Herzen Hilfe leistet, dann kann man das wohl kaum Hilfe nennen.«
»Einen Augenblick, Wiesel«, kam der Oberste Hase sofort seinem Verwandten zu Hilfe. »Das Kaninchen hat guten Grund, ängstlich zu sein. Hasen und Kaninchen können es mit einem Fuchs nicht aufnehmen.«
»Bislang haben wir noch keine Füchse gesehen«, erinnerte ihn das Wiesel.
»Ich kann sie aber riechen«, sagte das Oberste Kaninchen. »Ich habe das Gefühl, daß ich direkt in ein aufgesperrtes Maul laufe.«
»Hier ist das Ufer ganz voller Brennesseln«, sagte der Waldkauz. »Warum versteckt ihr euch da nicht eine Weile, und der Turmfalke und ich begeben uns auf die Suche.«
Die Tiere stimmten zu, und die beiden Vögel ließen sie in diesem guten Versteck zurück.
Die Luft schien stillzustehen — alle Tiere fühlten sich unbehaglich.
Vor allem das Oberste Kaninchen war nun sehr unruhig. »Es ist wie die Ruhe vor dem Sturm«, flüsterte es dem Obersten Hasen nervös zu.
Das Oberste Eichhörnchen lief den Stamm des nächsten Baumes bis zu einem Zweig hoch, einer »guten Ausgangsposition«, wie es das nannte.
Plötzlich konnte man Schritte hören, die sich schnell näherten. Die Tiere lugten aus dem Gestrüpp, und wer lief hinter ihnen zum Bach — niemand anders als der Kühne.
Der Dachs rief ihn an, und der Junge stand am Ufer still. Die Tiere stürmten alle auf einmal auf ihn zu.
»Ich bin entwischt«, keuchte er. »Ich war zu schnell für sie.« Seine Schulter war etwas blutig, aber das kümmerte ihn nicht. »Es gab einen kleinen Kampf«, erklärte er. »Einmal sah es wirklich bedrohlich für mich aus. Ich bin sehr schnell gelaufen — jetzt muß ich mich ausruhen.«
Der Dachs und das Wiesel führten ihn ins Brennesselgestrüpp.
»Nur erst wieder etwas Luft kriegen, dann erzähle ich euch alles.«