Morse bringt unter Zuhilfenahme seiner Phantasie die Rekonstruktion der Ereignisse zum Abschluß – fast.

Es war noch gar nicht so lange her, seit Morse zum erstenmal auf den Ausdruck «faction» gestoßen war, der, selber eine Verbindung aus «fact» und «fiction» zur Bezeichnung eben dieser Mischung aus Erfundenem und Tatsachen diente. Während Lewis noch unterwegs war, den Kaffee zu holen, dachte Morse, daß dieser Begriff exakt auf die von ihm vorgenommene Rekonstruktion der Ereignisse, nachdem man sich der Leiche entledigt hatte, passe. Aber nicht nur, daß sich hier sozusagen Dichtung und Wahrheit mischten, nein, die wenigen Fakten, die er hatte, waren zu allem Übel auch noch eher merkwürdig und nur schwer zu deuten. Da war erstens die Tatsache, daß man ihn, nachdem er den Geschäftsführer der Flamenco Bar befragte hatte, dort noch eine halbe Stunde mehr oder weniger gegen seinen Willen festgehalten hatte. Warum? Da war ferner das merkwürdige Faktum, daß man ihm beim zweitenmal, als er am Cambridge Way vorsprach, schließlich doch die Tür geöffnet hatte, und drittens und letztens war da die eigenartige Begegnung mit dem eleganten Araber im grauen Maßanzug, offenbar einem wohlhabenden Bewohner des Hauses und der erstaunte, ja argwöhnische Blick, mit dem dieser sich nach ihm umgesehen hatte … Warum, warum, warum? Nun, er hatte so seine Vermutungen, und Lewis war der geeignete Zuhörer, um sie zu testen. Kaum war er wieder zurück, so begann Morse denn auch mit seinen Ausführungen.

«Ich komme jetzt zu meinem Besuch in London, genauer gesagt, zu meinem ersten Besuch. Wie Sie wissen, ging ich dort zunächst, der Spur Browne-Smiths folgend, in die Flamenco Bar. Der Geschäftsführer der Bar hat eine Frau, die sich ‹Racquel› nennt – vermutlich weil das so schön exotisch klingt. Aber das tut hier nichts zur Sache. Als er nun im Verlauf unseres Gespräches merkt, daß ich eine ganze Menge weiß – zuviel weiß – bedeutet er ihr durch eine vermutlich für solche Fälle verabredete Geste, daß Gefahr im Verzug sei. Sie ruft daraufhin sogleich (Mr. Sullivan› alias Alfred Gilbert an, der die Anweisung erteilt, man solle mich um jeden Preis eine Weile dort festhalten. Genau dies geschieht auch. Die Frage ist jetzt: warum? Offenbar doch wohl deswegen, weil es irgend etwas gibt, das noch schnell getan werden muß, bevor ich möglicherweise in Cambridge Way 29 (das heißt der Adresse, nach der ich mich erkundigt habe!) auftauche. Dazu müssen Sie nun wissen, daß die Gilberts von Browne-Smith für ihre ‹Hilfe› schon ein ganz schönes Sümmchen kassiert hatten, daß aber Westerby bisher noch ungeschoren geblieben war. Und so, um ihn – ziemlich drastisch, wie ich finde – daran zu erinnern, daß er schließlich in einen Mord verwickelt und es darum angebracht sei, sich mit ihnen gut zu stellen, beschlossen Sie, den Kopf der Leiche, den sie eigentlich hätten beseitigen sollen, erst noch einmal zu benutzen – zum Zweck der Abschreckung. Sie erbrachen eine der Umzugskisten in Westerbys Apartment, die ebenfalls einen Kopf enthielt – den Kopf Jacob Burckhardts tauschten den Schädel der Leiche gegen den Marmorkopf aus und plazierten letzteren deutlich sichtbar auf dem Kaminsims. Westerby – da durften sie sich sicher sein – würde die Botschaft schon verstehen. Nun aber komme plötzlich ich ihnen dazwischen, deshalb muß das Ganze wieder rückgängig gemacht werden. Alfred begibt sich also eilig auf den Weg, um den Marmorkopf in die Kiste zurückzulegen und den Kopf der Leiche verschwinden zu lassen. Und jetzt spielt der Zufall eine verhängnisvolle Rolle. Ausgerechnet an diesem Morgen nämlich ist Westerby zu der Überzeugung gekommen, daß er nun lange genug in seinem billigen Hotel ausgeharrt habe und sich allmählich, ohne Gefahr zu laufen, in seine Wohnung trauen könne. Das erste, was er sieht, als er sein Wohnzimmer betritt, ist der Kopf Jacob Burckhardts auf dem Kaminsims! Ich nehme an, er hat sofort Bescheid gewußt – was ich von mir nun ehrlicherweise nicht behaupten kann. Als Alfred Gilbert die Wohnung erreicht, ist Westerby vermutlich gerade dabei, die Kiste, in der sich der Kopf befunden hat, zu öffnen um festzustellen, ob seine Vermutung stimmt … Nun, und was danach passiert ist, wissen wir ja: Westerby brachte Alfred Gilbert um.»

Das war Lewis denn doch ein bißchen zu viel ‹fiction›, und zu wenig ‹fact›. «Aber, Sir», protestierte er, «diese Annahme müßten Sie schon mit ein paar Beweisen untermauern, bevor ich sie glaube. Warum um alles in der Welt sollte Westerby Alfred Gilbert umbringen wollen? Schließlich waren sie, nach allem was Sie mir erzählt haben, Komplizen.»

Morse nickte. «Ja. Waren sie. Aber versuchen Sie doch, sich die Situation einmal vorzustellen. Alfred strebt in höchster Eile Cambridge Way zu. Er weiß nicht, wieso wir überhaupt dazu gekommen sind, uns für diese Adresse zu interessieren, aber er weiß, was wir finden könnten, wenn wir erst einmal da sind. Ich nehme an, er wird ganz schön in Panik gewesen sein! Er betritt Westerbys Wohnzimmer, natürlich ohne zu ahnen, daß Westerby bereits dort ist. Wahrscheinlich hat er ihn auch überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Westerby benutzte, obwohl er, wie wir wissen, nur leicht schwerhörig war, ein Hörgerät – er wird also mitbekommen haben, als sich der Schlüssel im Schloß dreht und, da er ja nicht weiß, wer dort kommt, versucht haben, sich zu verbergen. Wahrscheinlich im Badezimmer.

Im Gegensatz zu Gilbert – und das ist wichtig – hat Westerby nicht die geringste Ahnung, daß ich, wenn auch momentan noch aufgehalten, über kurz oder lang bei ihm auf der Matte stehen werde. Ich könnte mir vorstellen, daß er nach einem Moment der Panik versucht hat, durch den Türspalt nach außen zu spähen, um festzustellen, wer der Eindringling ist. Und wen sieht er? Alfred Gilbert, der zielsicher auf die Kiste zusteuert, die, wie Westerby inzwischen weiß, den Kopf der Leiche enthält. Hat er bis dahin noch irgendwelche Zweifel gehabt, so ist er sich jetzt ganz sicher, daß die beiden Gilberts ein böses Spiel mit ihm treiben, daß sie versuchen, ihn noch tiefer in diese schlimme Geschichte hineinzuziehen, um ihn immer mehr in die Hand zu bekommen und ihn desto besser erpressen zu können. Ich nehme an, in diesem Moment hat ihn die Wut gepackt, er schleicht hinter Gilbert ins Zimmer und bohrt ihm den Schraubenzieher, den er sowieso noch von vorhin, als er die Kiste zu öffnen versuchte, in der Hand hält, zwischen die Schulterblätter. Anschließend schleppt er, wie ich annehme, die Leiche ins Badezimmer. Auf dem Teppichboden im Wohnzimmer waren jedenfalls keine Blutflecken; das Badezimmer dagegen sah, als ich ankam, frisch gewischt aus.

Aber im Badezimmer kann die Leiche natürlich nicht bleiben. Er zieht also Gilbert den Schlüsselbund aus der Tasche, hievt die Leiche in den Fahrstuhl und fährt mit ihr in den vierten Stock, wo es noch eine freie Wohnung gibt, wie er vermutlich gesprächsweise erfahren hat, als er selbst noch potentieller Käufer war. Er packt die Leiche in einen der Wandschränke im Wohnzimmer, kehrt dann in seine eigene Wohnung zurück und versucht, alle dort eventuell vorhandenen Spuren zu tilgen. Genau in diesem Moment klingelt es, und er geht zur Tür. Die Frage liegt nahe, warum Westerby überhaupt geöffnet hat. In seiner Situation ist das doch der schiere Wahnsinn – es sei denn, er hätte jemanden erwartet, jemanden, der bereit sein könnte, ihm zu helfen: Browne-Smith. So geht er also zur Tür – und sieht sich mir gegenüber. Und in Sekundenschnelle verwandelt sich G. Westerby, emeritierter Professor für Kunstgeschichte am Lonsdale College, in den Hausmeister Hoskins, gesprochen ‹oskins›. Das Cockney dürfte ihm noch die wenigsten Probleme gemacht haben, er war ja – wie Sie in Ihrem hervorragenden Bericht festgehalten haben, gebürtiger Londoner. Ich begreife jetzt noch nicht, wie ich mich so täuschen lassen konnte; ich wurde nicht einmal stutzig, als wir einem der Hausbewohner, einem Araber, begegneten und dieser uns erstaunt, ja argwöhnisch ansah. Ich fand sein Verhalten nur übertrieben empfindlich – ein fremdes Gesicht und gleich soviel Mißtrauen … aber inzwischen kann ich den Mann gut verstehen: Da war ja nicht ein unbekannter Mann im Haus, es waren gleich zwei.

Aber die Ereignisse spielen sich nicht nur in, sondern auch außerhalb von Cambridge Way 29 ab. Alfred Gilbert hat, bevor er sich eilends auf den Weg machte, dem Bruder noch eine Nachricht geschickt, er möge so schnell wie möglich dorthin nachkommen. Was ich jetzt erzähle, ist wieder nicht mehr als eine Mutmaßung, aber ich denke, daß Albert draußen vor dem Haus Browne-Smith begegnet ist und weiter denke ich, daß Browne-Smith schon länger dagewesen ist und mitbekommen hat, wie ich von Westerby eingelassen worden bin. Wenn dem so ist, so wird er seine Beobachtung Albert mitgeteilt haben, und bei diesem dürften daraufhin die Warnlampen aufgeleuchtet haben! Er selbst besitzt keinen Schlüssel vom Haus, die hat alle Bruder Alfred, und so beschließen sie, sich zu trennen: Browne-Smith soll die Vorder-, Gilbert die Rückseite des Hauses im Auge behalten. Als er sieht, wie Westerby das Haus verläßt, erkundigt er sich bei Browne-Smith, ob auch ich und Alfred inzwischen gegangen seien. Die Antwort ist negativ. Beide dürften jetzt ziemlich besorgt gewesen sein. Vielleicht ist das der Moment gewesen, in dem Browne-Smith Gilbert erzählt hat, in welches Hotel Westerby sich zurückgezogen hat. Jedenfalls wußte Gilbert ein paar Tage später, wo dieser zu finden war. Da sie sich Gedanken machen, was drinnen vor sich gehen mag, bleiben beide weiter auf ihren Beobachtungsposten, doch was sie dann sehen, dürfte sie kaum beruhigt haben; denn als ich das Haus endlich verlasse, ist bereits die Metropolitan Police da. Und von Alfred Gilbert noch immer nichts! Irgendwann später haben die beiden dann erfahren, daß er ermordet wurde, und jeder hat seine im wesentlichen identischen Schlußfolgerungen gezogen.

In den folgenden Tagen läßt Gilbert das Haus so gut wie nicht mehr aus den Augen, weil er weiß, daß Westerby früher oder später dort auftauchen muß, um herauszufinden, ob die Polizei die corpora delicti in den Umzugskisten entdeckt hat oder nicht. Als Westerby am Freitag tatsächlich erscheint, das Haus betritt und nach einiger Zeit mit einer Tragetasche wieder herauskommt, weiß Gilbert, daß die blutigen Beweisstücke nicht gefunden worden sind. Er folgt nun Westerby, der sich vom Cambridge Way in Bloomsbury nach Paddington begibt. Ich schließe nicht aus, daß er ihm sogar noch auf das Klo des Bahnhofshotels nachgegangen ist. Der Anruf eben kam übrigens von der Metropolitan Police. Sie haben in der letzten Kabine der Herrentoilette dort die Hände der Leiche gefunden. Sie lagen im Wasserkasten. Ich habe übrigens den Londoner Kollegen angekündigt, daß Sie morgen kommen werden, Lewis. Vergessen Sie nicht, Ihrer Frau rechtzeitig Bescheid zu sagen.

Gilbert wird, denke ich, angenommen haben, daß Westerby sowohl den Kopf als auch die Hände im Wasserkasten hat verschwinden lassen, und genau das wird er auch vorgehabt haben. Aber der Kasten war zu klein – der Kopf paßte nicht hinein. Wie auch immer. Gilbert ist zufrieden, daß die inkriminierenden Leichenteile fürs erste verschwunden sind (wer wird schon, wenn man sie an diesem anonymen Ort findet, eine Verbindung zu ihm herstellen?). Er folgt Westerby nicht länger, sondern begibt sich in dessen Hotel. Dank der Feuerleiter hat er keine Schwierigkeiten, in sein Zimmer zu kommen, vielleicht hat er aber auch ganz frech die Vordertreppe benutzt. Der Empfang dort soll, wie ich hörte, oft unbesetzt sein. Aber das sind im Grunde alles nur Details, die zu klären wir getrost den Londoner Kollegen überlassen sollten. Was genau passiert, nachdem Westerby – vermutlich sehr erleichtert – in sein Zimmer zurückkehrt und dort Gilbert vorfindet, weiß ich nicht. Aber ich wette, daß er geglaubt hat, einen Geist vor sich zu haben, und ich könnte mir gut vorstellen, daß er kaum Widerstand leistet, als ‹Alfred› ihn erdrosselt … Und damit ist die Tragödie nun fast am Ende – aber eben nur fast.

Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß Browne-Smith inzwischen zu der Ansicht gekommen ist, daß den Dingen, so wie sie sich in den letzten Tagen entwickelt haben, Einhalt geboten werden muß. Ich habe irgendwie das Gefühl, als ob er letzten Samstag unterwegs gewesen sei, um mich zu treffen … Aber ich kann es natürlich nicht mit Bestimmtheit sagen. Fest steht, das wissen wir durch die Aussage des Schaffners, daß er dringend nach Oxford wollte. Ich bedaure sehr, daß wir nicht mehr miteinander gesprochen haben, aber vielleicht ist es auch das beste so … Ebenfalls letzten Samstag muß Albert Gilbert das Gefühl gehabt haben, vielleicht doch nach den letzten Tagen etwas Trost und Ruhe zu brauchen, und so kehrt er nach Hause zurück. Doch seine Frau ist nicht da. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel (die Polizei hat ihn später entdeckt), auf dem sie ihm mitteilt, daß sie es mit ihm nicht mehr aushalte und deshalb gehe. Das muß für Albert der Tropfen gewesen sein, der das Faß zum Überlaufen gebracht hat. Der Tod seines Bruders, die Polizei ihm auf den Fersen und nun auch noch verlassen von dem einzigen Menschen, dem er all die Jahre blindlings hat vertrauen können … Vielleicht ist ihm in diesem Moment bewußt geworden, was er eigentlich an ihr gehabt hat. Offenbar hat er keine Hoffnung mehr, daß sich doch noch alles zum Guten wenden könne. Er öffnet ein Fenster seiner im siebten Stock gelegenen Wohnung und springt … der zweite von den Brüdern Gilbert, der durch Selbstmord endet.»

Über dem Bericht hatte Morse seinen Kaffee ganz vergessen und betrachtete jetzt mit einigem Ekel die dunkelbraune Haut, die sich inzwischen auf der Oberfläche gebildet hatte. «Haben die Pubs eigentlich schon geöffnet?» fragte er.

«Das wissen Sie in der Regel besser als ich, Sir», sagte Lewis.

«Ich denke, bis wir in Thrupp sind, ist der Boat Inn allemal auf. Kommen Sie, Lewis. Wir haben einen Fall gelöst. Da haben wir es uns redlich verdient, nach langer Zeit endlich einmal wieder in Ruhe ein Bier zu trinken.»

«Aber ich weiß noch immer nicht …»

«Sie haben völlig recht, Lewis, das Stück im Herzen des Puzzles fehlt noch …»