Noch immer weiß man nicht, wer der Tote ist, den man bei Thrupp aus dem Kanal geborgen hat. Dies ist um so erstaunlicher, als sich die Zahl derer, die als Opfer in Frage kamen, inzwischen drastisch reduziert hat.

Am Mittwoch nachmittag hatte Morse, kaum daß er von seinem Gespräch mit dem Superintendent zurück war, Lewis eröffnet, daß nun die Reihe an ihm sei, nach London zu fahren. Er solle gleich morgen aufbrechen, es gebe dort eine Menge zu erledigen: Protokolle seien aufzunehmen, bestimmte noch offene Fragen zu klären, und nicht zuletzt solle er den Kollegen von der Metropolitan Police seine, Morse’, Entschuldigung überbringen. Lewis hatte sich geduldig alles angehört und nur dann und wann zustimmend genickt. Am nächsten Morgen war er losgefahren. Er hatte zwei Tage gebraucht, um die vielen ihm von Morse übertragenen Aufgaben zu erledigen, doch am Freitag abend hatte er alles gut hinter sich gebracht, und jetzt war er auf dem Heimweg. Wie immer am Samstagmorgen war relativ wenig Verkehr auf der Autobahn, und so konnte er ohne allzu viele Gewissensbisse seinem Laster frönen, dem Schnellfahren.

Während er so auf der M 40 Richtung Oxford raste, dachte er, daß sein Abstecher nach London alles in allem doch recht erfolgreich verlaufen sei. Gleich nach seiner Ankunft hatte er zunächst bei der Metropolitan Police vorbeigeschaut. Die Kollegen dort, die meisten aus London gebürtig und mehr oder weniger stark Cockney sprechend, waren ein freundlicher Haufen und hatten ihn überaus herzlich in ihrer Mitte aufgenommen. Sie wußten, daß Morse den Ruf hatte, ein brillanter Mann zu sein und hatten ihm, selbst allesamt gewiefte und kompetente Kriminalisten, längst verziehen. Eine Erklärung für Morse’ Verhalten hätten sie allerdings schon gern gehabt, aber damit konnte Ihnen der Sergeant nicht dienen. Morse hatte über das, was er nach der Entdeckung der Leiche im Cambridge Way gemacht hatte, mehr oder weniger Stillschweigen bewahrt. Über einige Dinge herrschte, dank der schnellen Ermittlungen der Londoner, bereits am Donnerstag Gewißheit. So war der im Wandschrank aufgefundene Tote inzwischen identifiziert als Alfred Gilbert, Immobilienmakler, ledig, mit Wohnsitz London. Tatwerkzeug war der in der Wohnung gefundene Schraubenzieher, auf dessen Griff man einige Fingerabdrücke sichergestellt hatte, die jedoch zu undeutlich waren, als daß man mit ihnen wirklich etwas hätte anfangen können. (Das wird Morse freuen, hatte Lewis gedacht.) ‹Mr. Hoskins›, außer Morse der einzige andere Zeuge am Tatort, war weiterhin verschwunden, was keinen der Beamten sonderlich überrascht hatte, nachdem festgestellt worden war, daß Cambridge Way 29 nicht von einem Hausmeister, sondern seit Jahren schon von einer Putzfrau betreut wurde, die jeden Tag für ein paar Stunden vorbeikam. Erstaunt hatte sie dagegen die detaillierte Personenbeschreibung dieses ‹Mr. Hoskins›, die ihnen Morse via Lewis hatte übermitteln lassen. Sie enthielt so gut wie alle Angaben, die man sich als Kriminalbeamter nur wünschen konnte: Alter, Augenfarbe, Gewicht, Körper- und Schuhgröße.

Am Freitag dann hatte Lewis die Protokolle in Angriff genommen. Dazu waren drei Besuche nötig gewesen: bei dem Manager der Flamenco-Oben-Ohne-Bar, bei Miss Winifred Stewart, Colebourne Road 23 sowie Mrs. Emily Gilbert in Berrywood Court, Seven Sisters Road. Bei allen drei Aussagen hatte Lewis den Eindruck gehabt, daß sein Gegenüber etwas zurückhielt, aber Morse hatte ihm ausdrücklich vorher eingeschärft, keine zusätzlichen Fragen zu stellen, sondern lediglich zu notieren, was ihm gesagt würde. Daran hatte er sich gehalten.

Mit den drei Protokollen in der Tasche hatte sich Lewis am Freitag nachmittag schließlich noch darum bemüht, etwas über die Gilbert-Brüder in Erfahrung zu bringen – eine Aufgabe, die, wie sich herausstellte, nicht weiter schwierig war. Albert und Alfred waren offiziell eingetragene Partner einer Makler/Umzugsfirma und stille Teilhaber eines weiteren Unternehmens, das sich Soho Enterprises nannte. Zu letzterem gehörten neben der Oben-Ohne-Bar zwei nicht ganz koschere Buchhandlungen sowie ein Porno-Kino. Der Londoner Polizei waren die Brüder durchaus bekannt. Man hatte jedoch keinen Grund zum Einschreiten gesehen, und zwar vor allem deshalb, weil die Sex-Welle als Folge der wirtschaftlichen Stagnation am Abebben war und viele Unternehmen ganz von allein eingingen. Lewis, der Soho mit seinen Bordells, Clubs und Saunen seit jeher abstoßend gefunden hatte, war froh, dies zu hören. Bei all seinen Nachforschungen war am Ende nur eine einzige Frage offengeblieben: Wo eigentlich steckte Albert Gilbert? Aber was das anging, so hatte Morse gleich von vornherein gesagt, daß wenig Hoffnung bestünde, dies herauszufinden. Und wie immer, hatte er recht gehabt.

Am Kreisverkehr von Headington überlegte Lewis einen Moment, ob er zuerst zu Hause hereinschauen und der Frau sagen solle, daß er heil wieder zurück sei. Doch dann entschied er sich, nach Kidlington durchzufahren. Er wußte, der Chef würde schon auf ihn warten.

Während Lewis’ Tage in London recht anstrengend waren, hatte Morse in Oxford Zeit zur Muße gehabt; denn weder bei der gleich am Mittwoch eingeleiteten Großfahndung noch bei der erneut angesetzten Schleppnetzsuche im Kanal waren sein Rat oder gar seine Mithilfe vonnöten. Er war jedoch nicht ganz und gar untätig gewesen. Am Donnerstag vormittag hatte er das Blutspende-Zentrum im Churchill Hospital aufgesucht und Einblick in die laufende Kartei verlangt. Dies hatte ihm dann offenbar nicht gereicht, denn nach einiger Zeit hatte er darum gebeten, ihm auch die bereits abgeschlossenen Unterlagen aus den letzten fünf Jahren zu holen. Hier schien er endlich gefunden zu haben, was er suchte, denn nach kurzer Zeit schon hatte er alles Material, das man ihm zur Verfügung gestellt hatte, wieder zurückgegeben, sich bedankt und war gegangen. Vom Churchill Hospital aus war er dann gleich weitergefahren zum Akademischen Prüfungsamt, wo er sich beim Justitiar hatte melden lassen. Beide Männer hatten ein längeres Gespräch miteinander geführt, dessen Ergebnis offenbar zu Morse’ Zufriedenheit ausgefallen war, denn am Ende hatte er sich ausgesucht höflich verabschiedet.

Als Lewis gegen zwölf ins Büro kam, fand er Morse so umgänglich wie selten.

«Na, Lewis, ich hoffe, Sie haben trotz der vielen Arbeit noch ab und zu Zeit für Spiegeleier und Chips gefunden?»

Lewis grinste. «Doch, doch. So schlimm war es nun auch wieder nicht.»

«Dann lassen Sie mal hören, was Sie in London erfahren haben. Übrigens – ist Ihnen aufgefallen, daß meine Backe schon fast wieder normal aussieht?»

Zwanzig Minuten später klingelte das Telefon.

Lewis sah, wie sich Morse’ Gesicht, während er zuhörte, anspannte. Schließlich sagte er knapp: «Ich komme, so schnell ich kann», und legte auf.

Lewis sah ihn fragend an.

«Ein Anruf von der Metropolitan Police. Man hat Westerbys Leiche gefunden – in einem kleinen Hotel in der Nähe der Paddington Station. Er ist ermordet worden – erdrosselt.»

Lewis wußte nicht recht, was er mit dieser Nachricht anfangen sollte. Gerade eben noch hatte Morse ihm erklärt, der Fall sei so gut wie gelöst – und jetzt das. Doch Fragen zu stellen, blieb keine Zeit. Morse war schon aufgestanden und zählte das Geld in seinem Portemonnaie.

«Tippen Sie noch Ihren Bericht, und dann ab nach Hause, Lewis. Klar? Ihre Frau weiß ja bald gar nicht mehr, wie Sie aussehen.»

«Gibt es nichts, was ich noch für Sie tun könnte, Sir?» fragte Lewis beinahe unglücklich.

«Doch. Sie können mir etwas Geld leihen.»

Nachdem Morse gegangen war, rief Lewis zu Hause an, um seiner Frau zu sagen, daß sie in etwa einer Stunde mit ihm rechnen könne. Dann begann er, seinen Bericht abzufassen, nicht ohne ab und zu Chambers’s Dictionary zu konsultieren – der Chef war, was Rechtschreibung anging, unglaublich pingelig.

Er war gerade fertig, als ein Anruf kam. Es war der Pathologe.

«Morse ist nicht da? Wo ist er denn nun schon wieder hin?»

«Nach London. Es hat da eine neue Entwicklung gegeben.»

«Na schön. Richten Sie ihm aus, wenn er zurückkommt, er hätte mal wieder recht gehabt – wir haben eins der Beine gefunden. Ich habe gerade eben eine grobe Berechnung angestellt – der Mann muß so zwischen 1,78 und 1,80 m groß gewesen sein. Hoffen wir, daß Morse mit der Auskunft etwas anfangen kann …»

«Was für ein Bein?» fragte Lewis, der einige Zeit gebraucht hatte, sich von seiner Überraschung zu erholen.

«Hat er Ihnen nichts davon erzählt? Das ist doch mal wieder typisch. Er ist und bleibt eben ein alter Geheimniskrämer. Nun, seit Donnerstag haben sie doch wieder den Kanal abgesucht und gerade vor einer Stunde das Bein entdeckt. Morse hatte schon so etwas vermutet. Aber es war auch viel Glück dabei.»

Kaum hatte Lewis aufgelegt, da klingelte es erneut.

Eine Frau, die ihren Namen nicht nennen wollte, verlangte Morse zu sprechen. Als sie hörte, daß Morse nicht da sei, hängte sie ohne ein weiteres Wort wieder ein.

Und auf einmal ging es Schlag auf Schlag; das Telefon schien gar nicht mehr stillzustehen. Erst war Strange am Apparat. Er knallte wütend den Hörer auf, als er erfuhr, daß Morse nicht zu erreichen sei; dann meldete sich eine weitere Frau, deren Stimme Lewis zu erkennen meinte. Auch sie wollte jedoch nur mit Morse persönlich sprechen und lehnte Lewis’ Angebot, mit ihm vorlieb zu nehmen, glattweg ab. Der dritte Anruf kam von Dickson aus der Telefonzentrale. Lewis glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.

«Was!? Da hast du bestimmt mal wieder nicht richtig hingehört!»

«Doch. Der Anruf kam von unseren Kollegen aus Swindon. Sie haben gesagt, daß er, als der Krankenwagen eintraf, schon tot gewesen sei.»

«Steht denn fest, daß er es wirklich ist?»

«Anscheinend ja. Haben sie jedenfalls gesagt.» Lewis legte den Hörer auf. Er überlegte. Nein, Morse zu erreichen war im Moment aussichtslos, der hatte ja diesmal den Wagen genommen. Ob ihn die Nachricht überraschen würde? Vermutlich ja – mit Westerbys Tod jedenfalls schien er offenbar nicht gerechnet zu haben. Und nun auch noch Browne-Smith!

Ungefähr zur gleichen Zeit, als Lewis die Nachricht vom Tode Browne-Smiths erhielt, bog Morse von der Hanger Lane kommend auf die North Circular ein. Er wußte, er hatte noch eine gute halbe Stunde zu fahren – viel zu lange. Die samstagnachmittägliche Verkehrsstille ausnutzend, fuhr er in einer Weise, die bisweilen ans gemeingefährliche grenzte. Doch als er endlich ankam, war er trotzdem zu spät. Der zerschmetterte Körper war bereits abtransportiert, die Menge der neugierigen Gaffer, die sich vor dem Berrywood Court versammelt hatte, begann sich bereits wieder zu zerstreuen.

Etwas später am selben Nachmittag betrat ein elegant gekleideter Geschäftsmann im Nadelstreifenanzug die letzte Kabine der Herrentoilette im Bahnhofshotel von Paddington Station. Bevor er die Kabine wieder verließ, zog er an der neben dem Klo angebrachten Strippe und hörte, als er hinausging, das vertraute Rauschen. Das Paar menschlicher Hände im Wasserkasten schien die Funktionstüchtigkeit der Spülung nicht im geringsten beeinträchtigt zu haben.