Morse gelangt durch die Lehre von der zweiten Meile zur Erkenntnis und wird vor seinen Chef zitiert.
Während er sich behaglich in die Polster des Erste-Klasseabteils im D-Zug 125 (Abfahrt Paddington 10.00 Uhr) zurücklehnte, spürte Morse in sich noch den Rest jenes euphorischen Gefühls, das er gestern nacht plötzlich empfunden hatte, als ihm klargeworden war, daß der Vorhang des Tempels zerrissen war und er der Wahrheit Auge in Auge gegenüberstand.
Er hatte den letzten Zug gestern nicht mehr erreicht und Schwierigkeiten gehabt, zu so später Stunde noch ein Hotelzimmer zu finden, war aber schließlich doch noch im obersten Stock einer billigen kleinen Pension untergekommen. Nicht anders als Winifred Stewart hatte auch er schlaflos gelegen, wenn auch aus anderen Gründen. Zum einen, weil er in Gedanken noch bei ihr war, zum andern, weil er das sichere Gefühl hatte, nicht mehr weit von der Lösung des Falles entfernt zu sein. Und so hatte er sich wieder und wieder die Fakten vor Augen geführt – die alten und die neuen.
So sehr viel Neues hatte er heute allerdings nicht gehört, weder von Mrs. Gilbert noch von Winifred Stewart. Immerhin jedoch hatte letztere ihm bestätigt, was er zwar vermutet, aber eben nicht gewußt hatte: daß es außer Browne-Smith noch einen zweiten Mann gegeben hatte, den sie auf Gilberts Wunsch hin «betreut» hatte. Darüber hinaus hatte er noch einige andere Dinge von ihr erfahren, nichts besonders Wichtiges, aber Kleinigkeiten, die ihm halfen, sich ein genaueres Bild zu machen. So hatte sie ihm erzählt, daß damals vor vierzig Jahren, als Emily noch ein junges und sehr hübsches Mädchen gewesen sei, sowohl Alfred als auch Albert sich um sie bemüht hätten. Beide Brüder seien sich zwar äußerlich wohl zum Verwechseln ähnlich gewesen – das gelte übrigens, wenn auch mit Einschränkungen, noch heute – vom Wesen her jedoch sehr verschieden. Alfred sei wohl damals schon der Interessantere von beiden gewesen, nicht zuletzt deshalb, weil er klassische Musik sehr liebte. (Wenn beide, wie sie das im Sommer häufiger zu tun pflegten, nach Salzburg zu den Festspielen reisten, dann ging Alfred in den Don Giovanni, Albert zum Platzkonzert.) Offenbar sei Alfreds Fähigkeit zu einem fesselnden Gespräch für Emily jedoch nicht ausschlaggebend gewesen; denn sie habe sich letzten Endes für Albert entschieden. So ganz unverständlich sei es ihr, Winifred, allerdings nun auch wieder nicht – Albert sei zwar ein grober Klotz, aber dafür wesentlich lebendiger und lebenslustiger als Alfred … Morse hatte ihr zugehört und manches ganz aufschlußreich gefunden, am aufschlußreichsten aber die Tatsache, daß sie beim Erzählen eine gewisse nervöse Unruhe nicht völlig hatte verbergen können. Und zwar nicht, wie er zu wissen glaubte, weil das, was sie ihm mitteilte, die Unwahrheit gewesen wäre, sondern – weil es nicht alles war.
An diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen, war er plötzlich im Bett hochgefahren, hatte die Nachttischlampe angeknipst und nach der Bibel gegriffen, die er vorhin beim Ausziehen dort hatte liegen sehen. Mit zitternden Händen hatte er die Seiten durchblättert, bis er die Stelle gefunden hatte: Matthäus 5, Vers 41. «Und so dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei.» Er erinnerte sich, als Junge einmal einen überaus energischen walisischen Pfarrer über diese Textstelle predigen gehört zu haben und glaubte, seine donnernde Stimme noch heute im Ohr zu haben: «Die Lehre von der zweiten Meile …» Im Licht der trüben 40-Wattbirne saß er, die Bibel aufgeschlagen im Schoß auf dem Bett und lächelte glücklich wie jemand, der am Ende eines schwierigen Weges angekommen ist, der die allerletzte, die dritte Meile hinter sich gebracht hat.
Morse wußte, er war endlich bei der Wahrheit angelangt.
Aus dem Lautsprecher im Abteil kam eine Ansage: «Liebe Reisende, in zwei Minuten sind wir in Oxford. Sie haben Anschluß nach Banbury 10.55 Uhr Bahnsteig drei, Birmingham 11.02 Uhr Bahnsteig eins …» Morse sah auf die Uhr. Erst 10.41 Uhr, da konnte er sich auf seinem Weg ins Präsidium ruhig etwas Zeit lassen, und im übrigen – was jetzt noch zu tun war, verlangte keine Eile.
Vom Bahnhof aus ging er zur Bushaltestelle in der Cornmarket Street; gegen halb zwölf traf er im Präsidium ein. Lewis begrüßte ihn mit sichtlicher Erleichterung.
«Hat sich die Fahrt nach London gelohnt, Sir?»
«Über alle Maßen, mein lieber Lewis», sagte Morse und strahlte den Sergeant gutgelaunt an.
«Wir hatten Sie eigentlich schon gestern zurückerwartet.»
«Und wer ist wir?»
«Dem Super ist anscheinend eine Laus über die Leber gelaufen – er will Sie unbedingt sprechen. Gestern hat er mindestens dreimal angerufen und heute morgen auch schon zweimal.»
«So.»
«Ich soll Ihnen ausrichten, Sie sollten sich, sobald Sie zurück seien, bei ihm melden.»
«Na, dann will ich das mal gleich tun», sagte Morse und wählte die Nummer des Superintendent. Doch offenbar sprach dieser gerade, der Anschluß war besetzt.
«Und hier, Lewis?» wandte er sich an den Sergeant. «Irgendwelche aufregenden Neuigkeiten?»
«Ich weiß nicht so genau, Sir. Das hier hat mir gestern der Pedell des Lonsdale College gegeben.» Es war die Ansichtskarte aus Griechenland.
Morse besah sich etwas ratlos die antiken Ruinen und drehte dann die Karte um. Ein Blick auf die Rückseite belehrte ihn, daß es sich um die Reste des Palastes von Philipp II. von Makedonien handelte. Die Karte war mit einer griechischen Briefmarke frankiert; der Text war nur kurz: «Wunderbares Wetter hier. Bitte alle Post ab sofort an meine neue Adresse in London. Falls jemand nach mir fragt – ich werde noch um eine Woche verlängern. Grüße auch an den Rektor und die Kollegen. G. W.»
«Scheint ein hübsches Fleckchen Erde zu sein», bemerkte Morse.
«Ja», sagte Lewis, «dieser Westerby hat es gut. Blauer Himmel, Sonne …»
«Ich glaube nicht, daß dort, wo Westerby jetzt ist, so sehr anderes Wetter ist als hier», orakelte Morse.
Lewis sah ihn verblüfft an.
«Schauen Sie mich nicht so erstaunt an, Lewis. Westerby ist nicht in Griechenland. Die Karte ist ein Bluff.»
«Aber …»
«Sehen Sie sich den Stempel auf der Briefmarke doch mal genau an.»
Lewis hielt sich die Karte dicht vor die Augen, doch alles, was er sah, war ein gräulich-schwarz gefärbter Ring, in dem sich die meisten Buchstaben nur ahnen, jedoch nicht entziffern ließen. Lediglich ein ‹O› und ein ‹N›, offenbar ziemlich zu Anfang eines Wortes, sowie – in größerem Abstand – ein ‹E› waren einigermaßen zu erkennen. Achselzuckend gab Lewis dem Chief Inspector die Karte zurück.
«Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was Sie meinen. Wie soll derjenige das denn angestellt haben? Und die Karte trägt schließlich eine griechische Briefmarke …»
«Aber Lewis, an eine griechische Briefmarke zu kommen, ist doch nun wirklich kein Problem. Und dann nimmt man einen Datumsstempel, der so ähnlich aussieht wie ein Poststempel, und drückt ihn nicht auf, sondern wischt mit ihm über die Marke, so daß sich die Buchstaben nicht mehr lesen lassen. Dann paßt man einen günstigen Moment ab, wenn die Pförtnerloge eine Weile unbesetzt ist und legt die Karte auf den Stapel zu der gerade eingetroffenen Post. Einfach – und absolut narrensicher. Und übrigens, falls es Sie interessiert, der Datumsstempel stammt aus dem Lonsdale College.»
Lewis wollte gerade etwas sagen, da klingelte das Telefon. Die Stimme am anderen Ende klang alles andere als freundlich: «Na, da kann ich mich ja richtig freuen, daß ich Sie endlich mal erwische, Morse! Ich möchte Sie sprechen – und zwar sofort!»
«Der Chef hat Sie momentan auf dem Kieker, was?» sagte Lewis mitfühlend.
Doch Morse schien sich keine allzu großen Sorgen zu machen. Er stand ohne Eile auf, zog sich sein Jackett an und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um.
«Und noch eins, Lewis. Was diese Karte angeht – erinnern Sie sich noch, daß wir in einem der Räume des Lonsdale College ein Manuskript haben liegen sehen – Philipp II. von Makedonien und seine Zeit?»
Lewis nickte. Ja, natürlich, der dicke Stapel Papier war ja nicht zu übersehen gewesen. Er sah Browne-Smiths Schreibtisch noch deutlich vor sich … Überall hatten Dias und Fotografien herumgelegen – und Ansichtskarten. Er fühlte einen kleinen Stich. Warum war es immer Morse, der solche Verbindungen herstellte? Aber auf eine Sache war er noch nicht eingegangen.
«Ist die Handschrift denn auch gefälscht?»
«Keine Ahnung», sagte Morse unbekümmert. «Wenn Sie Lust haben, können Sie ja versuchen, es herauszukriegen. Aber Sie brauchen jetzt nicht gleich loszustürzen. Mein Gespräch mit dem Superintendent wird sicherlich seine Zeit brauchen.»
«Setzen Sie sich», knurrte Strange ungnädig, nachdem er Morse mit kaum mehr als einem Kopfnicken begrüßt hatte. «Ich hatte gestern, und übrigens auch gerade eben erst wieder, einen Anruf vom Commissioner der Metropolitan Police. Wie es scheint, hat einer meiner Untergebenen in einer Londoner Wohnung einen Toten entdeckt – offenbar ermordet. Unter Verletzung der polizeilichen Vorschriften hat er dem einzigen weiteren Zeugen, wohl in der irrigen Annahme, daß es ausreichend sei, wenn dieser seine Adresse hinterlasse, erlaubt, sich vom Tatort zu entfernen. Und auch er selbst war, kaum daß die Kollegen von der Met eingetroffen waren, mehr oder weniger ohne eine Erklärung gegeben zu haben, plötzlich einfach verschwunden. Was den anderen Zeugen angeht, so war die Adresse, die er angegeben hatte, übrigens falsch. Aber das nur nebenbei. Kaum eine Stunde später taucht dieser selbe Untergebene bei einer gewissen Mrs. Emily Gilbert auf, um ihr mitzuteilen, daß sie soeben Witwe geworden sei – eine Eröffnung, die sich inzwischen als falsch herausgestellt hat. Albert Gilbert lebt nämlich. Der Untergebene – Sie, Morse! – hatte es offenbar nicht für nötig gehalten, sich von der tatsächlichen Identität des Toten zu überzeugen, bevor er der armen Frau die schreckliche Nachricht überbrachte.»
Morse nickte und schwieg.
«Ihnen ist hoffentlich klar», fuhr Strange fort, «daß das Ganze eine überaus schwerwiegende Angelegenheit ist, zu deren genauer Untersuchung es nötig sein wird, eine Kommission einzusetzen.»
«Ja, ich weiß», sagte Morse ruhig, «und ich gebe Ihnen völlig recht – es ist tatsächlich eine äußerst schwerwiegende Sache, ich fürchte allerdings, daß Ihnen noch gar nicht klar ist, wie schwerwiegend.»
Strange kannte Morse seit vielen Jahren und hatte es inzwischen fast aufgegeben, sich über die Ansichten und Methoden dieses merkwürdigen Mannes zu wundem. Etwas in Morse’ Ton ließ es ihm jetzt geraten erscheinen, seinen Zorn etwas zu mäßigen. Und vielleicht war es ja auch das beste, er hörte erst einmal, was Morse selbst zu sagen hatte.
Erst nach mehr als zwei Stunden öffnete sich die Tür von Stranges Zimmer, und der Superintendent und Morse traten heraus. Beide blickten ungewöhnlich ernst; der Super machte den Eindruck, als ob er das, was ihm eben von Morse eröffnet worden war, noch gar nicht ganz verarbeitet hatte. Die Sekretärin, die von Strange angewiesen worden war, jede Störung von ihm fernzuhalten, und in etwa wußte, um was es ging, beugte sich tiefer über ihre Schreibmaschine. Sie hatte das deutliche Gefühl, daß jeder Anschein von Interesse jetzt taktlos erscheinen mußte. Strange verabschiedete Morse mit einem Händedruck und einem gemurmelten «Danke», und ging dann wortlos in sein Zimmer zurück. Doch kurz bevor die Tür sich wieder hinter ihm schloß, entrang sich ihm ein Stöhnen. Es klang wie «Mein Gott!»
Ende der zweiten Meile