Der Rektor des Lonsdale College verletzt das Gebot der Diskretion und offenbart einem Polizeiinspektor seine Besorgnis bezüglich eines Kollegen.

Fünf Tage nach den im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Ereignissen saß Chief Inspector Morse von der Thames Valley Constabulary in Kidlington/Oxon in seinem Büro und grübelte darüber nach, ob er mit seinem gegenwärtigen Leben nun zufrieden oder doch eher unzufrieden sei. Seine Nachdenklichkeit mochte damit zusammenhängen, daß er beim Aufwachen den Entschluß gefaßt hatte, ab sofort für einige Tage auf Zigaretten und Alkohol zu verzichten, um seiner strapazierten Leber und Lunge die Möglichkeit zu geben, sich zu erholen. Er hatte den Entschluß auch gleich in die Tat umgesetzt, die noch halbvolle Zigarettenschachtel in den Mülleimer geworfen und sein Portemonnaie vorsichtshalber zu Hause liegengelassen. Solchermaßen allen Anfechtungen vorgebeugt war bis halb zwölf auch alles gutgegangen – doch dann kam der Anruf. Es war der Rektor des Lonsdale College; er lud Morse ein, mit ihm zu Mittag zu essen.

«Also um halb eins bei mir. Dann können wir vorher in Ruhe noch ein Gläschen trinken.»

Morse war auch nur ein Mensch. «Das ist eine ausgezeichnete Idee», sagte er, ohne lange zu überlegen.

Auf dem Weg zu den Räumen des Rektors, die vom ersten Hof aus zu erreichen waren, kamen Morse zwei junge Mädchen entgegen, die sich, heftig gestikulierend, lautstark miteinander unterhielten. Sie schnattern wie die Gänse, dachte Morse, der bei Frauen Anmut und Zurückhaltung liebte.

«Aber Rosemary rechnet fest mit einer Eins! Sie hat mir neulich noch gesagt, wie schlimm es für sie wäre, wenn sie …»

«Das muß aber vor der letzten Klausur gewesen sein. Sie meint, die hätte sie völlig verhauen.»

«Ich habe da auch Mist gebaut, glaube ich.»

«Ich auch.»

«Das muß aber dann doch eine furchtbare Enttäuschung für sie gewesen sein, oder?»

Morse hörte die Antwort nicht mehr. Ja, dachte er bitter und fühlte sich auf einmal sehr alt, das Leben ist voller Enttäuschungen, das werdet ihr auch schon noch merken. Er wandte sich um und sah ihnen nach, wie sie am Pförtnerhäuschen vorbei eilig zum Ausgang strebten. Sie bewegten sich so selbstverständlich … Vermutlich studierten sie hier, und das hieß, daß also auch das Lonsdale College seine jahrelange Weigerung, Frauen zum Studium zu akzeptieren, inzwischen aufgegeben haben mußte. Er versuchte sich vorzustellen, wie es wohl gewesen wäre, wenn es am St. John’s College damals, als er dort Student war, Mädchen gegeben hätte, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Die Zeiten hatten sich eben geändert. Doch dann zwang er sich abrupt, an etwas anderes zu denken. Die Erinnerung an jene Jahre war immer noch zu schmerzhaft.

«Was darf ich Ihnen anbieten», fragte der Rektor. «Bier habe ich leider nicht da, aber wir wär’s mit einem Gin Tonic?»

«Ja, danke», sagte Morse und beugte sich über den Tisch, um sich aus der gutgefüllten Zigarettendose zu bedienen.

Der Rektor reichte Morse mit wohlwollend selbstzufriedenem Lächeln sein Glas; man merkte ihm an, daß er es genoß, den Gastgeber zu spielen. Während der zehn Jahre, die Morse ihn kannte, schien er sich so gut wie gar nicht verändert zu haben. Zwar war er ein bißchen fülliger geworden, hielt sich aber als beinahe Sechzigjähriger nicht weniger aufrecht als mit fünfzig. Er war ein Mann, den man nicht so schnell wieder vergaß, wenn man ihn einmal gesehen hatte. Sein wuchtiger Schädel war umrahmt von einem Kranz lockiger grauer Haare, und er war in ganz Oxford bekannt für seine auffälligen Anzüge. Auch heute war er alles andere als dezent gekleidet und trug zu seinem grellfarbigen Anzug überdies noch eine leuchtend grüne Samtweste. Er war selbstbewußt und energisch. Ein erfolgreicher Mann, Herr in seinem Haus.

«Wie ich eben sah, lassen Sie jetzt hier auch Frauen zu», bemerkte Morse, nachdem er wohlig seufzend einen ersten Schluck von seinem Gin genommen hatte.

«Ja, das stimmt. Wir waren mit die letzten, die sich dazu entschlossen haben, und die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen, aber ich denke, alles in allem war es doch richtig, daß wir uns dazu durchgerungen haben. Einige von ihnen sind auch wirklich ganz große Klasse.»

«Sie meinen: attraktiv?»

Der Rektor lächelte amüsiert. «Auch das. Ein paar wenigstens.»

«Und sie schlafen hier im College?»

«Zum Teil, aber das ist ja eigentlich nichts Neues. Es hat auch früher immer schon einige gegeben, die das getan haben.»

Morse nickte. Ganz gegen seinen Willen wanderten seine Gedanken zurück zu jener Zeit unmittelbar nach dem Krieg, als er voller Hoffnungen nach Oxford gekommen war, um dort mit einem Stipendium, das ihm das Gymnasium seiner Heimatstadt ausgesetzt hatte, Klassische Philologie zu studieren.

«Wir haben sogar zwei dabei, die mit Eins abschließen werden», fuhr der Rektor fort. «Ich meine, unter den Studentinnen. Die eine hat Klassische Philologie studiert, die andere Kunstgeschichte. Ihre Leistungen sind wirklich sehr beachtlich. Die Altphilologin, Jane …» Er brach plötzlich ab, beugte sich verlegen lächelnd zu Morse hinüber und sagte, während er, ohne es zu merken, den auffallenden Onyxring am kleinen Finger seiner linken Hand hin und her drehte: «Ich fürchte, meine Begeisterung ist etwas mit mir durchgegangen; eigentlich hätte ich kein Wort von dem, was ich Ihnen eben erzählt habe, sagen dürfen. Die Notenliste wird erst in ungefähr einer Woche veröffentlicht, und deshalb möchte ich Sie dringend bitten …»

Morse hob nur beruhigend die Hand: «Ich habe nichts gehört, Sie können sich auf meine Diskretion verlassen. Ich glaube übrigens zu wissen, was Sie mir sagen wollten.»

«Ach?»

«Ich nehme an, diese Jane ist gleichzeitig Collegebeste und wird in Kürze eine Einladung zu einer mündlichen Prüfung ehrenhalber erhalten.»

Der Rektor nickte. «Ja. Sie ist sehr begabt und dazu noch außerordentlich hübsch. Die hätte Ihnen, wenn sie Ihnen damals über den Weg gelaufen wäre, bestimmt gefallen.»

«Sie würde mir auch jetzt noch gefallen, wenn sie mir über den Weg laufen würde, nehme ich an», bemerkte Morse trocken.

Der Rektor lachte. Morse’ offenherzige Äußerungen machten ihm immer Spaß.

«Aber», fuhr Morse fort, und ein etwas geringschätziges Lächeln spielte um seine Lippen, «Begabung hin, Begabung her, früher oder später wird sie auf einen gutaussehenden, aber hohlköpfigen jungen Mann hereinfallen, nichts Besseres zu tun wissen, als ihn möglichst schnell zu heiraten, und in ein paar Jahren hat sie ein halbes Dutzend Kinder am Hals und sitzt als frustrierte Hausfrau in irgendeiner öden Kleinstadt.»

«Finden Sie nicht, daß Sie ein bißchen sehr schwarzmalen?» wandte der Rektor ein.

«Na ja», gab Morse zu, «ich bin wohl ein bißchen neidisch, dabei gibt es im Leben ja wirklich eine Menge Dinge, die weitaus wichtiger sind als eine Eins in Klassischer Philologie.»

«Als da wären?» Der Rektor sah ihn neugierig an.

Morse überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. «Das kann ich Ihnen jetzt so auch nicht sagen.»

Der Rektor nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. «Sehen Sie? Und was diesen speziellen Fall angeht, da bin ich mir sogar sehr sicher, daß diese Eins für das Leben des Mädchens von großer Wichtigkeit, wenn nicht gar von entscheidender Bedeutung sein wird. Wir haben nämlich vor, ihr eine Dozentur bei uns anzubieten.»

«Und das haben Sie ihr, wie ich Sie kenne, natürlich auch schon mitgeteilt», stellte Morse fest.

«Aber das bleibt unter uns, Morse! Ich hoffe, ich kann mich da auf Sie verlassen. Ich hätte das Thema (Prüfungen) gar nicht anschneiden sollen. Jetzt habe ich mehr gesagt, als ich eigentlich wollte.»

«Das muß an dem Drink liegen», sagte Morse und blickte dabei unverwandt auf sein leeres Glas.

Der Rektor sprang auf. «Oh, Sie sitzen ja auf dem trockenen. Noch mal dasselbe? War das Verhältnis Gin – Tonic richtig so?»

«Ein bißchen mehr Gin vielleicht.» Morse nahm sich, während der Rektor ihm das Glas füllte, noch eine Zigarette. «Diese Jane hat doch vermutlich unter ihren Kommilitonen die freie Auswahl, oder?»

«Und unter den Professoren!»

Morse sah den Rektor nachdenklich an. «Sie haben es vorgezogen, unverheiratet zu bleiben.»

«Genau wie Sie.»

Einige Minuten saßen sie sich stumm gegenüber und nippten nur ab und zu an ihren Drinks. Dann fragte Morse: «Lebt ihre Mutter noch?»

«Sie meinen, die Mutter von Jane Summers?»

«Summers heißt sie also; ihren Nachnamen hatten Sie vorhin nicht erwähnt.»

«Sie stellen manchmal wirklich merkwürdige Fragen, Morse. Keine Ahnung; ich nehme an, ja. Das Mädchen ist erst Anfang zwanzig, die Mutter ist also wahrscheinlich noch nicht sehr alt. Aber warum interessiert Sie das überhaupt?»

Doch Morse hörte ihn kaum. Eben im Hof war es ihm verhältnismäßig leicht gelungen, den Gedanken an seine Studentenzeit schnell wieder beiseite zu schieben; aber jetzt, während der Unterhaltung, hatte ihn die Vergangenheit ganz unmerklich plötzlich eingeholt, und er wurde der Erinnerungen nicht mehr Herr. Ihm war zum Weinen zumute.

Wie von weither drang die Stimme des Rektors an sein Ohr.

«Hören Sie mir überhaupt zu?»

«Wie? Oh, Verzeihung!»

«Ich glaube, Sie haben gar nicht mitbekommen, was ich eben gesagt habe.»

«Entschuldigen Sie, das muß an den Drinks liegen.» Sein Glas war wieder leer, und der Rektor war auch schon aufgestanden, um es nachzufüllen.

«Ich habe vor, am Wochenende ein paar Tage wegzufahren. Wenn Sie während dieser Zeit für mich ein Auge auf die Dinge haben könnten …»

«Ich furchte, ich war wirklich etwas unaufmerksam eben – auf was für Dinge?»

«Na, diese Angelegenheit mit Browne-Smith.» Der Rektor wurde allmählich etwas ungeduldig. «Ein solches Verhalten sieht ihm so gar nicht ähnlich. Er ist sonst in allem, was er tut, hyperkorrekt und absolut zuverlässig. Die ganze Sache ist einfach – nun, einfach merkwürdig. Und es scheint, daß er außer diesem nichtssagenden Brief keine Nachrichten hinterlassen noch sonst irgendwelche Vorkehrungen getroffen hat. Ein paar seiner Studenten hätten noch Tutorien bei ihm gehabt; er hat sie einfach versetzt.»

Morse hatte sich inzwischen gefangen und war wieder in die Gegenwart zurückgekehrt. «Haben Sie diesen Brief zufällig da?»

Der Rektor nickte, zog einen zusammengefalteten Bogen Papier aus seiner Jackettasche und reichte ihn Morse. Der Brief war getippt und bestand aus nur wenigen Zeilen.

Ich habe unerwarteterweise eine Einladung erhalten, der zu wiederstehen ich mich nicht imstande sah und werde deshalb für einige Tage verreist sein. Bitte sagen Sie dem Hausburschen, er soll nach meinen Räumen sehen, sich um die Wäsche kümmern und meine Mahlzeiten bis auf weiteres abbestellen.

B-S

Morse spürte ein wohlvertrautes Kribbeln entlang der Wirbelsäule, enthielt sich aber jeden Kommentars.

«Ich kann einfach nicht glauben, daß dieser Brief von ihm stammt», sagte der Rektor irritiert.

«Nein?»

«Nein.»

«Wann kam der Brief an?»

«Vor zwei Tagen – am Montag morgen.»

«Und wann ist er zuletzt gesehen worden?»

«Am Freitag morgen gegen acht. Einer unserer Professoren hat zufällig beobachtet, wie er in den Zug nach London gestiegen ist.»

«Kam der Brief mit der Post?»

«Nein, der Pedell sagt, er sei ihm, während er nur kurz abwesend war, auf den Tisch gelegt worden.»

«Was ich immer noch nicht ganz verstehe», sagte Morse, «ist, was Sie eigentlich darauf gebracht hat, daß dieser Brief nicht von Browne-Smith sein kann.»

Der Rektor seufzte genervt. «Weil es ein Unding ist. Er würde einen solchen Brief nie schreiben, geschweige denn ihn abschicken oder abgeben oder was auch immer. Seit ich vor nunmehr über dreißig Jahren nach Oxford kam, habe ich niemanden getroffen, der mit derartig fanatischem Eifer jeden noch so kleinen Verstoß gegen die Regeln der englischen Sprache aufzuspüren und zu eliminieren sucht wie er. Eine solche Besessenheit für sprachliche Reinheit und Richtigkeit ist mir sonst nur noch von dem Lyriker E. A. Housman bekannt. Zu Browne-Smiths Aufgaben hier am College gehört es unter anderem, bei den Konferenzen Protokoll zu fuhren. Sie müßten ihn mal hören, wie er tobt, wenn unsere Sekretärin beim Abtippen seiner Mitschrift auch nur ein Komma falsch setzt. Und wenn er selbst etwas mitzuteilen hat, sei es auch nur, daß er am schwarzen Brett neue Anfangszeiten für seine Vorlesungen bekanntgibt, so fertigt er vorher erst einen Entwurf an – und zwar maschinegeschrieben.»

Morse nahm den Brief und las ihn noch einmal durch. «Sie meinen, er hätte im zweiten Satz für die indirekte Rede den Konjunktiv verwandt?»

«Ja, unbedingt.»

«Hm.»

«Mein Argument scheint Sie nicht zu überzeugen.»

«Doch, doch. Ich denke, Sie könnten recht haben.»

«Das freut mich zu hören.» Der Rektor schien erleichtert.

«Glauben Sie, daß er irgendwo eine Tussi sitzen hat, mit der er sich jetzt vergnügt?»

«Eine, wie Sie es genannt haben, ‹Tussi› hat es in seinem Leben, soviel ich weiß, nie gegeben.»

«Ist vielleicht Jane Summers auch verreist?»

Der Rektor lachte amüsiert. «Auf was für Ideen Sie kommen! Nein, ich habe sie heute morgen noch gesehen, wenn Sie es unbedingt wissen wollen.»

«Und bei dieser Gelegenheit haben Sie ihr dann gleich gesagt, daß sie als Beste abgeschnitten hat?»

«Nun, ganz so deutlich bin ich nicht geworden. Ich habe ihr lediglich bedeutet, daß sie mit ihrem Abschluß zufrieden sein könne, und daß wir überlegten, ihr eine Dozentur anzubieten – aber das habe ich Ihnen ja schon erzählt.» Er sah auf die Uhr. «Es wird langsam Zeit, daß wir zum Essen hinuntergehen. Ich hoffe, Sie haben Appetit mitgebracht.»

«Darf ich den behalten?» fragte Morse und hielt den Brief in die Höhe. Der Rektor nickte.

«Einerseits freut es mich ja, daß Ihnen mein Argument in bezug auf den Brief einleuchtet, andererseits fange ich allmählich an, mir Sorgen zu machen.»

«Es könnte natürlich sein», überlegte Morse laut, «daß er den Brief diktiert hat und hinterher nicht mehr dazu gekommen ist, ihn durchzulesen. Selbst getippt hat er ihn auf gar keinen Fall, da bin ich ganz Ihrer Meinung.»

«Das klingt ja so entschieden; fast als ob Sie ihn persönlich kennen würden», sagte der Rektor erstaunt.

«Ich kenne ihn auch. Er war einer meiner Tutoren, als ich für den B. A. gepaukt habe. Er war damals schon genau so, wie Sie ihn jetzt schildern. Der kleinste Fehler brachte ihn sofort auf die Palme, als hätte man sich eines schlimmen Fehltritts schuldig gemacht. Das Merkwürdige ist nur, daß ich ihn trotzdem respektiert habe, und mich selber heute zum Teil verhalte wie er. Zum Beispiel lasse ich meiner Sekretärin auch keinen Fehler durchgehen, jedenfalls nicht, wenn ich es verhindern kann.»

«Sie meinen also, daß Browne-Smith aus irgendeinem Grund nicht in der Lage war, es zu verhindern?» Der Rektor sah Morse ernst an.

Morse nickte. «Er wäre lieber gestorben, als einen Brief aus den Händen zu geben, in dem widerstehen mit ‹ie› geschrieben wird.»

«Aber Sie denken doch nicht etwa, daß er … tot ist?» sagte der Rektor, schon an der Tür.

«Aber nein, woher denn», beruhigte ihn Morse, «so wörtlich habe ich es nicht gemeint.»