Warum eine Frau mit sonst eher lockeren Moralvorstellungen gemischte Gefühle hat bei dem Gedanken an die gutbezahlte Arbeit, die sie geleistet hat.
In den späten Abendstunden desselben Tages saß die Frau, deren Bekanntschaft wir im letzten Kapitel gemacht haben, in einer der gepflegten Wohnstraßen unweit der Richmond Road in ihrer kleinen Apartmentwohnung, die sich im oberen Stockwerk eines zweigeschossigen Hauses befand. Sie war erst vor einer halben Stunde nach Hause gekommen und fühlte sich erschöpft und zerschlagen; der Heimweg war doch recht umständlich: vom Piccadilly Circus mit der U-Bahn bis Earls Court, dort umsteigen und weiter Richtung Süden bis zum Bahnhof East Putney, und dann noch ein Fußweg. Wie oft hatte sie diese Strecke nun schon zurückgelegt! Einfacher wäre es natürlich, sie lebte in Soho, und sie würde dort auch sofort eine Bleibe finden, das war kein Problem. Nein, der Grund, weshalb sie Tag für Tag die lange Fahrt auf sich nahm, war, daß sie froh war, Soho ab und zu entfliehen und gleichsam in eine ganz andere Welt eintauchen zu können. Hier, in dieser gutbürgerlichen Vorstadt konnte sie das Gefühl haben, nichts anderes zu sein als eine normale alleinstehende Frau in mittleren Jahren, die ihrem Beruf in der City nachgeht; hier fand sie Ruhe und Abgeschiedenheit. Sie lebte unauffällig. Ihre Nachbarn hielt sie auf freundliche Distanz, zahlte pünktlich ihre Miete und die anfallenden Rechnungen und genoß es, ihre Wohnung so hübsch wie möglich einzurichten. Einmal in der Woche kam für zwei Stunden eine Putzfrau, sonst hatte sie die Wohnung für sich allein. Sie hatte noch nie einen Besucher gehabt – bis auf den Mann, der vor vier Tagen auf eigene Einladung zu ihr gekommen war.
Wie sie an diesem Abend in ihrem Sessel saß, die Beine übereinandergeschlagen, den Kopf in die Hand gestützt, und auf das reiche Muster des Wilton-Teppichs starrte, ohne es jedoch tatsächlich wahrzunehmen, wirkte sie beunruhigt und sorgenvoll.
Am letzten Montag hatte alles angefangen, ziemlich früh am Morgen. Die Sauna in einer Nebenstraße der Brewer Street hatte gerade erst ihre Tore geöffnet, um die ersten Kunden – ausschließlich Männer – einzulassen. Die Atmosphäre hier war die einer eleganten Privatwohnung. Wer hierherkam, erwartete, daß auch noch seine ausgefallensten Wünsche mit Raffinement und Diskretion befriedigt wurden. Die Stammgäste waren meistens Männer in mittleren Jahren, es gab jedoch auch einige, die man zweifellos als Greise bezeichnen mußte. Allen gemeinsam war, daß sie Geld hatten; dies war die Grundvoraussetzung für einen Besuch hier, denn die Preise waren gesalzen. Eine Sauna in diesem Stil zu betreiben war allerdings in der Tat kostspielig. Allein die Gehälter der vier Hostessen bildeten einen nicht unbeträchtlichen Ausgabeposten, denn sie erhielten weit mehr als sonst in der Branche üblich.
Der Mann war kurz nach halb zehn gekommen. Er wolle in die Sauna, sonst nichts, hatte er gesagt; aber das sagten sie beim erstenmal alle, bis die feuchte Hitze sie so ermüdete, daß sie ihre Hemmungen vergaßen und ihre wahren Wünsche zu äußern wagten. Mit diesem Gast würde es nicht anders sein. Er hatte sie und ihre drei Kolleginnen einer ungewöhnlich genauen, schon fast peinlichen Musterung unterzogen, hatte bei jeder ausführlich Figur und Gesicht betrachtet und sich dann für sie entschieden. Sie hatte ihn zunächst in die Sauna geführt und ihm dann vorgeschlagen, ihn in einen der separaten Massagesalons zu begleiten – das mache allerdings zwanzig Pfund extra. Er hatte sich bereitwillig einverstanden erklärt.
Während sie, mit einem weißen Kittel bekleidet, unter dem sie nur ein durchsichtiges Höschen und einen knappen BH trug, kühl und fast elegant aussah, machte er, die Haut vom Dampfbad noch gerötet und in seinem Bademantel immer noch heftig schwitzend, einen eher aufgelösten Eindruck.
«Wenn Sie sich dann auf die Couch dort legen würden, Sir. Auf den Rücken, wenn ich bitten darf.»
Er hatte nichts gesagt, sondern sich gehorsam hingelegt und die Augen geschlossen.
«Gut so?»
«Herrlich!»
«Entspannen Sie sich!» Sie fuhr mit den Händen unter seinen Bademantel und begann sanft und verführerisch seine Schultern zu massieren. Nach ein paar Minuten ging sie um die Couch herum, beugte sich, den Kittel schon halb geöffnet, über ihn und fragte: «Möchten Sie, daß ich mich ausziehe, bevor ich Sie weiter massiere?»
Was für ein himmlisches Angebot! Kaum ein Mann schaffte es denn auch abzulehnen, obwohl der horrende Preis, den man für diesen Extraservice verlangte, im voraus annonciert wurde.
So war es fast ein Schock für sie, als der doch bisher anscheinend so gefügige Kunde, kaum, daß sie wie üblich ihre Frage gestellt hatte, plötzlich seine Beine von der Couch schwang, mit beiden Händen nach ihrem Kittel langte, um ihn zuzuknöpfen, sich dann selbst den Bademantel fest über der Brust zusammenzog und ein klares und entschiedenes «Nein» von sich gab.
Aber die größte Überraschung kam erst noch.
Sie hatte seine Ablehnung kaum verdaut, da fuhr er bereits fort: «Ich glaube, wir kennen uns; auf jeden Fall kenne ich Ihren Vater. Können wir hier reden, ohne daß wir belauscht werden?»
Ihr Vater … Sie konnte sich noch gut an ihn erinnern, vor allem an die nicht enden wollenden nächtlichen Streitereien zwischen ihm und ihrer Mutter, wenn er spät abends wieder einmal betrunken nach Hause gekommen war. Sie hatte dann zitternd hinter der Tür ihres Zimmers gestanden und angstvoll zugehört, wie sich die beiden gegenseitig beschimpft hatten. Was sie wohl am meisten verstört hatte, war, daß am nächsten Morgen alles vergessen zu sein schien. Alles lief seinen gewohnten Gang, so als habe es die häßlichen Szenen der Nacht nie gegeben. 1939 war er einberufen worden; sie war gerade erst acht gewesen. Drei Jahre später hatten sie die Nachricht erhalten, daß er gefallen war. Sie hatte es kaum begriffen, es war ja auch nicht wichtig gewesen, denn es bedeutete im Grunde nur, daß seine Abwesenheit, an die sie sich längst gewöhnt hatte, sich nun in eine unbestimmte Zukunft hinein verlängerte. Ihre Mutter dagegen hatte sein Tod tief getroffen. In den ersten Wochen und Monaten hatte sie es nicht fassen können und war immer wieder weinend zusammengebrochen, später dann war der heftige Schmerz einer stillen Wehmut gewichen, die sie bis zu ihrem Tod nicht mehr verlor. Wohl aus dem Gefühl heraus, daß ihre Mutter schon mehr als genug erdulden mußte, hatte sie sich in der Schule immer besonders angestrengt, zu Hause geholfen, wo sie nur konnte und, als sie in die Pubertät kam, jedes Anzeichen töchterlicher Rebellion, das sie an sich bemerkte, sogleich im Keim erstickt. Im Laufe der Jahre waren ihr immer mehr Pflichten zugefallen, denn ihre Mutter alterte lange vor der Zeit und starb kaum sechzig Jahre alt; die letzten zehn Jahre hatte sie gelebt wie eine Greisin.
«Können wir hier reden, ohne daß wir belauscht werden?» wiederholte er.
Sie sah ihn unfreundlich an. Die Art und Weise, wie er ohne eine Erklärung einfach ihren Kittel zugeknöpft hatte, war ihr gegen den Strich gegangen. Derlei Übergriffe schätzte sie bei ihren Kunden ganz und gar nicht.
«Hier belauscht uns keiner», sagte sie schließlich kurz angebunden. «Wie denn auch», fügte sie etwas patzig hinzu.
«Also keine versteckten Mikrofone?» fragte er nach.
Sie schüttelte den Kopf. «Sie sagten, Sie hätten meinen Vater gekannt …»
Er nickte. «Ja. Und Sie kenne ich auch. Aber mein Gesicht sagt Ihnen nichts, oder?»
Sie betrachtete ihn genauer. Er mußte um die Sechzig sein, vermutlich etwas darüber, wirkte aber noch durchaus vital. Sein Haar begann sich zu lichten, die Zähne waren leicht gelblich verfärbt – er mußte ein starker Raucher sein. Seine Wangen begannen etwas schlaff zu werden, doch der Mund verriet ungebrochene Willenskraft und Energie. Sie schüttelte langsam den Kopf. Nein, sie konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben.
«Ich bin vor langer Zeit einmal bei Ihnen zu Hause gewesen. Sie waren damals fünfzehn oder sechzehn, auf jeden Fall gingen Sie noch zur Schule, denn ich weiß noch, daß Ihre Mutter Sie in die Küche schickte, damit Sie dort Ihre Hausaufgaben zu Ende machten. Es muß gleich nach ‘45 gewesen sein; Ihr Vater und ich, wir sind zusammen im Krieg gewesen. Ich war dabei, als er starb. Tja …»
«Aber um mir das zu erzählen, sind Sie doch nicht hier, oder?» stellte sie nüchtern fest.
«Nein. Ich möchte, daß Sie etwas für mich tun. Ich werde Sie dafür bezahlen – gut bezahlen.»
«Und was soll das sein?»
Er hob abwehrend die Hände. «Nicht jetzt und hier! Sie wohnen in der Colebourne Road Nr. 23a. Das stimmt doch?»
Sie nickte, schon fast nicht mehr erstaunt, daß er ihre Adresse kannte.
«Dann werde ich bei Ihnen vorbeikommen, wenn Ihnen das recht ist.»
Am nächsten Abend war er tatsächlich erschienen und hatte ihr sein Vorhaben erläutert. Sie hatte sich nach einigem Überlegen bereit erklärt, die Rolle, die er ihr dabei zugedacht hatte, zu übernehmen. Er hatte ihr gleich vorab einen Teil der ausgemachten Summe gegeben. Und heute hatte nun alles wie geplant stattgefunden, sie hatte getan, was ihr gesagt worden war, und anschließend das ihr noch zustehende Geld erhalten. Schnell verdientes Geld, sie wollte sich gar nicht beklagen, aber …
Es war dieses Aber und was damit zusammenhing, das ihr Kopfzerbrechen bereitete. Sie hatte darauf bestanden, gründlich über ihren Part informiert zu werden, aber hätte sie nicht auch Auskunft darüber verlangen sollen, was hinterher, nach ihrem Auftritt, mit jenem Mann geschehen sollte? Andererseits, er würde es doch nicht wagen, ihn zu töten – oder doch?