Die auf Hochtouren laufenden Ermittlungen produzieren widersprüchliche Ergebnisse, was Morse allerdings nicht anficht.

Mag es auch vielleicht dem Leser vorkommen, als ob der Chief Inspector sich bei den im letzten Kapitel beschriebenen Vorgängen nicht gerade mit Ruhm bekleckert habe – diesen selbst schien das kaum zu belasten. Nach einem späten Lunch im Pub kreuzte er gutgelaunt im Präsidium auf, den Kopf voller neuer Hypothesen, die er in Ruhe überdenken wollte.

Dazu kam es jedoch nicht. Kaum hatte er das Büro betreten, klingelte das Telefon. Es war der Pathologe.

«Ich informiere dich schon mal vorab über das Wichtigste. Die medizinischen Details lasse ich weg, die kannst du, wenn du willst, in meinem Bericht nachlesen; jetzt am Telefon würdest du sie doch nicht begreifen. Also, zu unserer Leiche: erwachsen, männlich, weiß, Alter etwa sechzig oder etwas darüber, Gewicht knapp über normal, kein Anzeichen irgendwelcher körperlichen Defekte, Gesundheitszustand gut, bis auf die Lunge, die ist etwas angegriffen; die Veränderungen sind jedoch nicht bösartiger Natur, also kein Tumor oder so etwas – nur zu deiner Information: wir pflegen schon seit längerem nur noch von Tumoren zu sprechen, das Wort Krebs ist tunlichst zu vermeiden. Da wir gerade beim Thema Lunge sind … Bist du meiner Empfehlung eigentlich gefolgt und hast endlich das Rauchen aufgegeben?»

«Zur Sache, bitte!»

«Wie du meinst. Also: Tod vor Eintritt ins Wasser …»

«Na so eine Überraschung!»

«Es gibt Anzeichen, daß die Leiche sich einige Zeit in gleichsam embryonaler Stellung befunden hat …»

«Du meinst, während des Transports?» fragte Morse interessiert.

Der Gerichtsmediziner schwieg.

«Vielleicht im Kofferraum eines Wagens; wäre das möglich?»

«Woher, zum Teufel, soll ich das wissen!» polterte der Pathologe gereizt. «Das herauszufinden ist schließlich deine Sache.»

Morse seufzte. «Sonst noch etwas?»

«Die Verstümmelungen wurden nicht am lebenden Körper, sondern erst an der Leiche vorgenommen.»

«Wie du sowas immer herausbekommst!» sagte Morse, und es war nicht ganz klar, ob es ironisch oder bewundernd gemeint war.

«So. Das wäre im großen und ganzen alles.»

Morse fand die Auskünfte außerordentlich hilfreich, heuchelte jedoch aus taktischen Gründen Enttäuschung. «Ich hoffe doch sehr, du sagst mir jetzt noch, wie er gestorben ist. Dafür wirst du schließlich bezahlt, oder?»

«Schwierige Frage», sagte der Pathologe kühl. «Der Torso weist keine augenfälligen Verletzungen auf. Er weist überhaupt keine Verletzungen auf, um genau zu sein. Vielleicht hat der Mann eins über den Kopf gekriegt, so was soll vorkommen, wie du weißt. Aber da der Kopf – du erinnerst dich hoffentlich – uns für eine Untersuchung nicht zur Verfügung steht …»

«Vergiftet worden ist er nicht?»

«Nein, ich glaube, das kann ich ausschließen, obwohl man sich nie so ganz sicher sein kann, wenn das Gekröse über längere Zeit im Wasser eingeweicht worden ist.»

«Was hast du denn im Magen gefunden?»

«Scotch – aber das wird dir nicht viel weiterhelfen, du findest ja heute kaum noch einen Magen ohne Scotch. Da fällt mir übrigens ein, ich wollte mich schon seit längerem mal bei dir erkundigen, was aus deinem Vorsatz geworden ist, das Trinken aufzugeben.»

«Es ist mir noch nicht so ganz gelungen», sagte Morse förmlich.

«Ach, beinahe hätte ich es vergessen. Außer dem Scotch habe ich auch noch Bücklingreste gefunden.»

«Meinst du, er hat ihn zum Frühstück gegessen?»

«Ob nun zum Frühstück oder zu welcher anderen Mahlzeit, das kann ich dir wirklich nicht sagen», sagte der Gerichtsmediziner ungeduldig.

«Es wäre also auch denkbar, daß er den Scotch zum Frühstück und den Räucherfisch zum Lunch zu sich genommen hat?»

«Warum denn nicht? Die Eßgewohnheiten werden doch von Jahr zu Jahr unkonventioneller.»

«War das jetzt alles?»

«So gut wie.»

Morse atmete tief durch und machte seine Exocet zum Abschuß bereit: «Vielen Dank für deine Ausführungen, lieber Max, ich weiß ja, daß du persönlich immer sehr gründlich arbeitest, aber ich kann dir doch den Vorwurf nicht ersparen, daß du deine Mitarbeiter nicht genügend an der Kandare hast. Mir scheint, sie haben da doch etwas übersehen. Ich behaupte zwar nicht von mir, daß ich von deinem Fachgebiet sehr viel verstehe, aber selbst ich …»

«Du mußt besser zuhören, Morse», unterbrach ihn der Pathologe. «Ich sagte, so gut wie alles. Ich weiß schon, was du meinst, und ich werde auch gleich darauf zu sprechen kommen, das hatte ich sowieso vor. Ich dachte nur, ich würde dir eine Freude machen, wenn ich es sozusagen bis zum Schluß aufhebe.»

«Bist du sicher, du weißt, was ich meine? Ich meine den verdammten Arm!»

«Ja, ja, das ist mir klar. Du brauchst dich gar nicht aufzuregen, ich komme schon dazu. Glaubst du, mir ist entgangen, wie du neulich den Arm angestarrt hast? – Als ob du wer weiß für eine Entdeckung gemacht hättest. Eine Entdeckung? Daß ich nicht lache! Einen derartigen Bluterguß hätte nicht mal ein halbblinder Teilzeit-Hilfskrankenträger übersehen.»

Morse grummelte verlegen eine Entschuldigung, und der Pathologe fuhr fort: «Na, lassen wir das. Laien sind eben immer froh, wenn sie überhaupt irgend etwas sehen. Und übrigens hast du mit deiner Vermutung prinzipiell tatsächlich recht gehabt, obwohl du dich bei der Ursache des Blutergusses geirrt hast. Er rührt nämlich nicht, wie du dachtest, von einer Spritze her, ist somit auch kein Hinweis darauf, daß der Tote Blutspender gewesen sein könnte. Du hast mich aber auf eine Idee gebracht, und so habe ich mir beide Arme von oben bis unten gründlich angesehen. Dabei habe ich am linken Arm ca. fünfundzwanzig, am rechten ca. zwölf Einstichstellen entdeckt. Er war also tatsächlich Blutspender.»

«Hm.» Morse schwieg nachdenklich. Nach einer Weile sagte er: «Den vollständigen Bericht schickst du mir dann noch?»

«Was da sonst noch drinsteht, wird dir nicht viel nützen.»

«Vielleicht hast du die Güte, die Entscheidung darüber mir zu überlassen.»

«Und die Leiche? Kann die jetzt …?»

«Was fragst du mich? Von mir aus pack sie in euern Gefrierschrank!»

Ein paar Minuten später wählte Morse die Nummer des Lonsdale College und bat, ihn mit der Sekretärin zu verbinden.

«Hier Sekretariat des Rektors, kann ich Ihnen helfen?» Sie hatte eine nette Stimme, aber Morse war nicht in der Laune, sich davon beeindrucken zu lassen.

«Ja, durchaus», sagte er, nicht besonders freundlich. «Ich möchte wissen, ob es am Freitag, dem 11. Juli, bei Ihnen im College zum Frühstück Bückling gab.»

«Oh, das kann ich Ihnen so nicht sagen, da muß ich nachfragen.»

«Dann tun Sie das!» bellte Morse.

«Kann ich Sie zurückrufen?» Ihre Stimme zitterte etwas, doch Morse war unbarmherzig.

«Nein, ich warte.»

Morse hörte, wie sie irgend jemandem hektisch etwas zuflüsterte, da meldete sich eine Männerstimme.

«Hier Andrews. Falls Sie Fragen haben, Chief Inspector, ich stehe Ihnen gerne zur Verfügung.»

Ja, der Inspektor hatte Fragen. Es traf sich gut, daß Andrews mit seiner Familie in Kidlington wohnte, so konnte er, ohne daß es große Mühe für ihn bedeutet hätte, am Nachmittag im Präsidium vorbeikommen.

Lewis kam herein, während Morse noch telefonierte. Er spürte sogleich an dessen Ton, daß ihm eine Laus über die Leber gelaufen sein mußte, und befürchtete, daß er das nächste Opfer seines Unmuts sein würde. Doch wider Erwarten hörte ihm Morse, als er mit dem Gespräch fertig war, zunächst durchaus freundlich und aufmerksam zu.

«Es ist demnach so», zog Lewis aufatmend noch einmal die Bilanz dessen, was er im Prüfungsamt herausgefunden hatte, «daß die endgültige Prüfungsnote erst einen Tag, bevor sie auch veröffentlicht wird, tatsächlich feststeht.»

Morse nickte zustimmend.

Doch Lewis hatte zu früh aufgeatmet. Kaum hatte er begonnen, über das negative Ergebnis seiner Nachforschungen im Churchill Hospital zu berichten, als Morse ihn schroff unterbrach. «Offenbar haben Sie nicht gründlich genug nachgesehen, Lewis, sonst hätten Sie ihn finden müssen.»

«Aber ich habe gründlich nachgesehen, Sir. Sein Name war nicht dabei», sagte Lewis und geriet beinahe ins Stottern. Morse’ ungerechte Vorwürfe trafen ihn, obwohl er inzwischen daran hätte gewöhnt sein müssen, doch immer noch tief. «Die Sekretärin ist auch noch einmal die entsprechenden Karten durchgegangen; sie hat ihn auch nicht entdeckt.»

«Die Idee, daß sie ihn vielleicht unter Smith abgelegt haben könnten, ist Ihnen aber, wie ich Sie kenne, nicht gekommen, was?» grollte Morse.

Lewis hatte sich inzwischen wieder gefaßt. «Ich habe erst unter Brown ohne e, dann unter Browne mit e, danach unter Smith ohne e, und anschließend noch mit e nachgesehen, Sir. Danach bin ich den ganzen Buchstaben B und den ganzen Buchstaben S durchgegangen – für den Fall, daß sie ihn falsch eingeordnet hätten. Alles Fehlanzeige. Meiner Meinung nach gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder sie haben dort im Krankenhaus seine Karte verschlampt, oder aber Sie haben sich geirrt, und Browne-Smith war gar kein Blutspender», sagte er und sah Morse ruhig an.

Morse schien sich geschlagen zu geben, denn er schwieg. Doch dann erschien plötzlich ein triumphierendes Lächeln auf seinem Gesicht. «Haben Sie auch unter dem Buchstaben W nachgesehen?»

«Aber wieso denn unter W?» Lewis blickte ihn an, als zweifle er an seinem Verstand.

«Fiel mir nur gerade so ein. Aber lassen wir das jetzt. Ich habe ein paar Neuigkeiten für Sie.»

Er berichtete dem Sergeant, was er erlebt hatte und schob ihm zum Schluß den Bogen mit den beiden auf Browne-Smiths respektive Westerbys Maschine getippten Sätzen hinüber.

«Fällt Ihnen was auf, Lewis?»

Lewis überflog die beiden Sätze und schüttelte dann langsam den Kopf. «Nein, eigentlich nicht, Sir.»

«Aber Lewis, so sehen Sie doch mal richtig hin! Das springt doch sofort ins Auge! Der zweite Satz ist auf derselben Maschine geschrieben wie der Brief, den wir in der Hosentasche des Toten gefunden haben!»

Lewis stieß einen anerkennenden Pfiff aus. «Donnerwetter! Und Sie sind sich da ganz sicher, Sir?»

«Lewis!» Morse’ Blick, eine Mischung aus Verletztheit und Empörung, veranlaßte Lewis, alle weiteren Einwände herunterzuschlucken. «Aber das ist noch nicht alles», fuhr Morse in kaum gebrochener Begeisterung fort und gab Lewis den Zettel, den ihm der Rektor des Lonsdale College vor ein paar Tagen ausgehändigt hatte – jenen merkwürdigen Zettel, der von unbekannter Hand beim Pedell hinterlegt worden war und auf dem Browne-Smith überraschend mitgeteilt hatte, daß er für einige Zeit abwesend sein werde.

«Na?» fragte er, als Lewis gelesen hatte.

«Wieder dieselbe Maschine, Sir?» fragte Lewis unsicher.

«Ganz genau, Lewis. Jetzt ist es Ihnen also auch aufgefallen. Als nächstes werden Sie also …»

«Eine Frage hätte ich aber schon noch, Sir, wenn Sie erlauben. Wissen Sie noch ganz genau, welchen Satz Sie auf welcher Maschine getippt haben?»

«Aber natürlich, Lewis. Den zweiten Satz habe ich auf der Maschine von Westerby getippt.»

Er sah rundherum glücklich aus – wie ein Kind, das endlich ein lange erwartetes Geschenk erhalten hat.

Während Lewis sich wie befohlen auf den Weg zum Lonsdale College machte, um die Schreibmaschine auf alle Fälle erst einmal sicherzustellen, nahm Morse, dem inzwischen sein Zahn wieder eingefallen war, ein paar Penicillintabletten und überlegte sich dann, welche Fragen er diesem Andrews stellen würde, wenn er käme.