Einer der Protagonisten dieses makabren Falles sucht sich seiner Last zu entledigen.

Drei Tage nach den im siebenundzwanzigsten Kapitel beschriebenen Ereignissen näherte sich, hin und wieder vorsichtig um sich spähend, ein Mann dem Hinterausgang von Cambridge Way 29. Als er die Tür erreicht hatte, sah er sich ein letztes Mal um, ob er auch wirklich unbeobachtet sei. Doch weit und breit war niemand zu sehen, die Luft schien rein. Man hatte es, ganz wie er gehofft hatte, nicht für nötig gehalten, außer dem uniformierten Constable, der am Vordereingang postiert stand, noch einen zweiten Beamten zur Beobachtung des Hauses abzustellen. Der Mann zog einen Schlüssel aus der Tasche, schloß auf und stahl sich dann die teppichbelegte Treppe hinauf in den ersten Stock. Ein weiterer Schlüssel verschaffte ihm Einlaß in die rechte der beiden Wohnungen. Sobald er in der Diele stand und die Tür hinter sich geschlossen hatte, schob er als erstes den Riegel vor – eine Vorsichtsmaßnahme, die er vor drei Tagen völlig vergessen hatte. Durch eine Drehung des Knopfes regulierte er die Lautstärke seines Hörgerätes, so daß er sofort aufmerksam würde, falls sich jemand der Wohnung nähern sollte. Solchermaßen abgesichert, zog er endlich den neugekauften Schraubenzieher aus der Tasche. Einen Moment lang wog er ihn in der Hand; er war länger und auch schwerer als der, den er Gilbert in den Rücken gestoßen hatte.

Schließlich gab er sich einen Ruck und ging ins Wohnzimmer. Doch bevor er sich dort an die Arbeit machte, warf er noch einen Blick auf die Büste Jacob Burckhardts – der Kopf auf dem Kaminsims war es gewesen, der ihn letzten Dienstag gleich alles hatte ahnen lassen …

Nach nur wenigen Minuten war alles getan, und der Mann verließ die Wohnung so unbemerkt, wie er gekommen war. Auf der Straße winkte er sich ein Taxi herbei. Kaum hatte er im Fond Platz genommen, als sein Hörgerät plötzlich ein leises, aber durchdringendes Pfeifen von sich gab. Er sah, wie der Fahrer einen Blick in den Innenspiegel warf und ihn neugierig betrachtete. Eilig stellte er das Gerät ab. Bloß jetzt nicht auffallen! Während der Wagen sich zügig durch den Londoner Verkehr schlängelte, versuchte er sich zu entspannen, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Bereute er, daß er am Dienstag die Beherrschung verloren hatte …? Nein, eigentlich nicht. Früher oder später hatte es so kommen müssen. Gilbert würde ihn nie mehr aus den Klauen gelassen und von Mal zu Mal mehr gefordert haben. Der Besitz von Geld, immer mehr Geld, schien eine Obsession bei ihm zu sein. Eine so ganz andere Besessenheit als die, die ihn selbst sein ganzes Leben lang umgetrieben hatte, dachte er – Ehrgeiz und die fast schon krankhafte Sucht nach äußerer Anerkennung.

Der Taxifahrer drehte sich nach ihm um. «Wir sind da, Sir.»

Warum hatte er sich zum Bahnhof Paddington fahren lassen? Warum nicht nach Euston oder Victoria Station oder Liverpool Street? Warum überhaupt zu einem Bahnhof? Vielleicht wegen der Anonymität eines solchen Ortes, die ihn hoffen ließ, daß er sich hier der grauenhaften corpora delicti, die er in einer Plastiktüte bei sich trug, unbeobachtet würde entledigen können? Die Tragetasche eng an sich gedrückt, durchschritt er die Schwingtüren des Bahnhofshotels. Drinnen wandte er sich nach rechts und folgte dem Schild mit der Aufschrift (Toiletten). Der weiß gekachelte Raum lag verlassen. Er betrat die hinterste Kabine, hob die Brille hoch und kletterte auf den Rand des Klobeckens. Auf Zehenspitzen stehend entfernte er den Deckel des Wasserkastens. Frustriert erkannte er, daß dort nicht genug Raum war. Plötzlich zuckte er zusammen und verharrte regungslos. Er war nicht mehr allein. Jemand hatte eine der Kabinen weiter vorn betreten. Es wurde Zeit, daß er wegkam; er durfte hier nicht gesehen werden. In verzweifelter Hast zog er ein flaches Päckchen aus der Tragetasche – der Größe nach hätte es zwei Frühstücksbrote enthalten können. Sein Inhalt war dick eingeschlagen in mehrere Seiten der Times und so den Augen eines möglichen Betrachters gnädig entzogen. Der Mann ließ das Päckchen behutsam in den mit Wasser gefüllten Kasten gleiten, wo es sofort auf den Boden sank.

Den Hauptteil seiner Last noch immer mit sich herumschleppend, verließ er mit langsamen Schritten das Hotel. Draußen sah er sich ratlos um. Wohin nun? Über die Gleise hinweg sah er am Ende des Bahnsteigs ein Gerüst, ein paar lose Bretter und eine Zementmischmaschine. Vielleicht, daß es dort eine Möglichkeit gab … Beim Näherkommen entdeckte er erleichtert einen halb mit Bauschutt gefüllten Container. Er sah sich um. In einiger Entfernung fegte ein Mann in einem orangeroten Overall den Bahnsteig. Doch der hatte ihm den Rücken zugekehrt. Mit einem Stoßseufzer hob er die Plastiktasche und ließ sie über den Rand des Containers fallen, dann drehte er sich um und suchte das Weite. Er überlegte, ob er es sich erlauben durfte, im Bahnhofshotel einen Tee und vielleicht einen gebutterten Toast zu sich zu nehmen. Aber er wußte nicht, ob er sich auf sich verlassen konnte, ob ihm seine Nerven nicht doch einen Streich spielen würden. Er spürte, daß er zitterte, der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. Nein, es war wohl doch klüger, in die relative Geborgenheit und Sicherheit seiner Unterkunft zurückzukehren, sich dort hinzulegen und abzuwarten, bis er sich wieder beruhigt hätte. Er hoffte doch sehr, daß dies nicht allzulange dauern würde – schließlich hatte er es heute endlich hinter sich gebracht, wenn auch vielleicht nicht ganz so gut, wie er es sich gewünscht hatte.

Er überquerte die Praed Street, bog ein in die Spring Street und betrat ein kleines Hotel am unteren Ende der Straße. Die Rezeption war nicht besetzt; so ging er hinter den Tresen und holte sich seinen Schlüssel selbst. Er hatte das Zimmer Nummer 16. Vor der Tür zögerte er einen Moment. Obwohl er schon einige Tage hier war, wußte er noch immer nicht genau, wie herum er den Schlüssel ins Schloß stecken mußte. Erst nach mehreren Versuchen gelang es ihm, die Tür zu öffnen. Der Raum dahinter war klein, jedoch sauber. Die sparsame Einrichtung war von guter Qualität. Er zog sich sein Jackett aus und legte es ordentlich zusammengefaltet auf den einzigen Stuhl, holte sich dann aus einem Nebenfach des großen Mahagonischrankes ein frisch gewaschenes Taschentuch und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn. Er war froh, wieder hier zu sein. Das Zimmer war ihm in den wenigen Tagen fast zur zweiten Heimat geworden. Alles um ihn herum war ihm so vertraut, daß er glaubte, es mit geschlossenen Augen zeichnen zu können – das schmale Bett mit dem dunklen Rahmen, den kleinen Nachttisch mit der pflaumenblau eingebundenen Bibel darauf, das an manchen Stellen schon etwas abgestoßene Waschbecken und daneben das Fenster, das er während seiner ganzen Zeit hier nie geschlossen hatte, denn es ging hinaus auf die Feuerleiter. Und wer weiß, vielleicht kam doch noch der Moment, wo er einen Fluchtweg brauchen würde … Er lag schon auf dem Bett, als er feststellte, daß die Tür zu dem kleinen Bad nebenan nur angelehnt war. Das Zimmermädchen mußte vergessen haben, sie wieder zu schließen.

Nach einer Weile stellte sich, wie er gehofft hatte, jenes Gefühl von Euphorie ein, daß er seit seiner Jugend mit einer glücklich überstandenen Gefahr assoziierte. Obwohl er dieses Gefühl im Laufe seines Lebens immer wieder einmal gehabt hatte, war er doch von seiner Intensität jetzt überrascht. Ein so starkes Gefühl von Freude und Triumph hatte er nur einmal schon erlebt, damals, als er mit seiner Pfadfindergruppe den Snowdon erstiegen hatte. Den anderen schien der jäh abfallende, am Rande des Abgrunds verlaufende Weg nichts auszumachen, doch er hatte sich Schritt für Schritt überwinden müssen, überhaupt weiterzugehen. Merkwürdig, jetzt im Alter wieder an dies Gefühl aus der Jugend erinnert zu werden … Er schloß die Augen. Endlich, endlich konnte er nun vergessen …

Er war für einen Moment eingenickt, als ein leises Geräusch ihn hochfahren ließ. Er blickte in das Gesicht eines Mannes, eines Mannes, den er …

«Sie! Das kann doch nicht …»

In seiner Miene mischte sich Überraschung mit Entsetzen und wich schließlich einem Ausdruck von Panik. Er versuchte sich aufzurichten, doch eine energische Hand preßte ihn zurück aufs Kissen, und auf einmal spürte er, wie eine Schnur sich um seinen Hals zusammenzog. Er versuchte zu sprechen, doch es war nur mehr ein gequältes Gurgeln, was er hervorbrachte, dann ein Röcheln – dann war alles still. George Westerby, emeritierter Professor für Kunstgeschichte am Lonsdale College/Oxford, war tot.