Lewis fährt noch einmal nach Thrupp und macht dort eine überraschende Entdeckung.

Gegen halb zwölf war Lewis wieder zurück im Präsidium. Er hatte alle im Rahmen seiner Möglichkeiten liegenden Überlegungen angestellt, die erforderlichen Erkundigungen eingezogen und wußte, daß er sich jetzt eigentlich höheren Ortes hätte melden müssen, um neue Anweisungen entgegenzunehmen. Nun gab es aber Tage, da ging genau das Lewis einfach gegen den Strich. Heute war so ein Tag; und so beschloß er auf eigene Faust und aus keinem anderen Grund, als sich halbwegs sinnvoll zu beschäftigen, hinauszufahren nach Thrupp. Schaden konnte es ja schließlich nichts.

Er trank im Boat Inn von Thrupp ein kleines Bier und ging dann das Ufersträßchen entlang in Richtung Aubrey’s Bridge. Weit und breit war heute kein Angler zu sehen, und so schweifte sein Blick nach links hinüber, an der Reihe schmucker eingeschossiger Häuschen entlang. Ihm fiel auf, daß in fast jedem der Vorgärten eine Verbotstafel stand. Der Text war überall gleichlautend und besagte, daß es fremden Booten nicht gestattet sei, an diesem Uferabschnitt festzumachen. Die Anwohner schienen großen Wert darauf zu legen, ungestört zu bleiben; manche besaßen vermutlich auch selbst ein Boot und mochten es als eine Art ungeschriebenes Recht ansehen, dieses direkt gegenüber ihrem Haus zu vertäuen.

Und plötzlich kam Lewis eine Idee … Da die Leute hier den Uferstreifen auf der anderen Seite der kleinen Straße offenbar quasi als Privateigentum betrachteten, würde er vermutlich unter mehr oder weniger ständiger Beobachtung stehen, und die Straße selbst sicher auch. Wenn also, wie man doch annehmen mußte, der Mörder sein Opfer mit dem Wagen zum Kanal geschafft hatte, dann mußte doch irgend jemand der Anwohner diesen Wagen bemerkt haben! Und doch hatte er bei seinen Nachfragen in diesen Häusern an jenem Mittwoch, als die Leiche aus dem Kanal geborgen worden war, nur negative Antworten erhalten. Allerdings hatte er damals auch nicht überall die Bewohner angetroffen. Die Leute waren, wie ihm die Nachbarn gesagt hatten, mit dem Boot unterwegs oder zum Einkaufen nach Oxford. Und einige der Häuser standen ohnehin während der Woche leer, da ihre Besitzer nur das Wochenende dort verbrachten.

Lewis hatte jetzt die Höhe von Aubrey’s Bridge erreicht und blieb stehen. Minutenlang starrte er auf die Stelle, an der man die Leiche gefunden hatte, ohne daß ihm ein erhellender Gedanke gekommen wäre. Schließlich zuckte er die Achseln und machte sich auf den Rückweg. Wieder musterte er die Häuschen, deren Bewohner in der entscheidenden Stunde alle taub und blind gewesen sein mußten, als er plötzlich vor einem von ihnen ein Schild entdeckte mit der Aufschrift Zum Verkauf. Bis zu seiner Pensionierung war es nicht mehr allzu lange hin, und die Frau sprach schon seit Jahren davon, daß man, wenn er im Ruhestand sei, endlich aufs Land ziehen könne. Ruhestand! Eine plötzliche Eingebung ließ sein Herz schneller schlagen. Er trat einen Schritt vor und klopfte an die Tür. Drinnen blieb jedoch alles still. Beim Nachbarhaus hatte er mehr Glück. Ein sommersprossiger Junge von etwa zwölf Jahren öffnete ihm die Tür.

«Ist dein Vater oder deine Mutter da?»

«Nein.»

«Ich hätte da ein paar Fragen …» Lewis deutete auf das Haus nebenan.

«Der Preis ist zwanzigtausend», sagte der Junge.

«Das ist eine Menge Geld.»

«Das Dach ist undicht, deshalb hat es bisher auch keiner genommen», ließ sich der Junge zu einer etwas ausführlicheren Auskunft herbei.

Lewis nickte und betrachtete ihn aufmerksam. Was er wohl sonst noch alles wissen mochte? «Wohnst du hier?»

Der Junge nickte.

«Dann kanntest du doch sicher die Leute, die da gewohnt haben …»

«Keine Leute…» sagte der Junge.

«Sondern?»

Der Junge blickte ihn mißtrauisch an und schwieg.

«Sieh mal», sagte Lewis in seinem väterlichsten Ton, «ich bin Polizist und …»

«Ich weiß, ich hab Sie gesehen an dem Tag, als sie hier den Toten aus dem Kanal gefischt haben.»

«Und wieso warst du da nicht in der Schule?»

«Weil ich Masern hatte. Darum!» sagte der Junge patzig.

«Hast du vielleicht zufällig etwas Verdächtiges bemerkt – ich meine, vorher?»

Der Junge schüttelte den Kopf.

«Nebenan haben also keine Leute gewohnt …?» bohrte Lewis noch einmal nach.

«Er hat doch nichts gemacht, oder?» Der Junge blickte ihn besorgt an.

«Nein, soviel ich weiß, nicht.»

«Ein Glück!» Der Junge atmete sichtlich auf. «Er ist nämlich schwer in Ordnung. Einmal hat er mich mitgenommen, zum Angeln an den King’s Weir, und wir haben einen Riesenhecht gefangen, ich und – Mr. Westerby.»

Auf dem Rückweg bog Lewis zweimal ab, ohne zu blinken, brauste bei Rot über eine Kreuzung und fuhr überhaupt in einer Weise, die man nicht anders als verkehrsgefährdend bezeichnen konnte. Der Grund dafür lag auf der Hand: er war mit seinen Gedanken noch ganz bei der Entdeckung, die er gerade gemacht hatte. – Westerby besaß ein Häuschen in Thrupp … Da war es kein Wunder, daß niemand einen fremden Wagen bemerkt haben wollte. Der rote Metro Westerbys war schließlich allen vertraut …

Wieder im Büro, ließ Lewis sich in Morse’ Sessel sinken und atmete ein paarmal tief durch in der Hoffnung, damit auch seine sich überstürzenden Gedanken wieder etwas zu ordnen. Aufgeschlagen vor ihm auf dem Schreibtisch lag der grüne Aktenordner, der alles enthielt, was sie bisher zu dem Fall an Informationen zusammengetragen hatten. Lewis zog den Ordner zu sich heran und begann darin zu blättern. Im Grunde, dachte er, hatten sie nur zwei Dinge, mit denen sich etwas anfangen ließ: den Anzug und den durchgerissenen Brief. Er war gerade dabei, die von Morse rekonstruierte vollständige Fassung des Briefes noch einmal zu überfliegen, als er plötzlich stutzte. Die Zeile 7 im Original lautete: College ihr Examen in K… Den Rest hatte Morse hinzugefügt. Zwar gab seine Ergänzung unbestreitbar Sinn, die Frage war nur – ergab sie den richtigen Sinn? Konnte es nicht auch sein, daß …

Lewis hielt mit quietschenden Reifen direkt vor dem Eingang des Akademischen Prüfungsamtes, sprang aus dem Wagen und wäre beinahe über seine eigenen Füße gestolpert. Drinnen schritt er mit suchendem Blick die Reihe der Glaskästen entlang, in denen noch immer die Prüfungsergebnisse ausgehängt waren. Vor dem Kasten mit der Aufschrift Kunstgeschichte blieb er stehen. Er zögerte einen Moment, bevor er sich traute, einen Blick auf den Bogen mit den Absolventen zu werfen, die eine Eins erzielt hatten. – Er hatte soviel Hoffnung investiert, daß er sich gegen eine mögliche Enttäuschung erst etwas wappnen wollte. Doch gleich der erste Name ließ ihn innerlich frohlocken: Jennifer Bennet. Er hatte sie also gefunden – die Studentin mit großartigen Leistungen, deren Vorname mit dem Buchstaben ‹J›, deren Fach mit dem Buchstaben ‹K› begann. Und das College war Lonsdale! Doch das war noch nicht alles. Als Lewis, nachdem er zuvor die Namen aller anderen Prüflinge sorgfältig studiert hatte, ans Ende der Liste kam, entdeckte er zu seiner Verblüffung, daß einer der Professoren, die mit ihrer Unterschrift die Richtigkeit der Liste bestätigt hatten, ein gewisser G. Westerby war.

Auf der Rückfahrt nach Kidlington wich Lewis’ anfängliche Euphorie jedoch einem ständig wachsenden Unbehagen, als ihm, je mehr er darüber nachdachte, um so deutlicher wurde, daß sie eine Möglichkeit bei ihren Überlegungen völlig außer acht gelassen hatten: daß nämlich der Brief in der Tasche des Toten nicht an Browne-Smith, sondern Westerby gerichtet war, was bedeuten würde … Doch hier gab Lewis auf. Für derlei Komplikationen war Morse zuständig; und er hoffte nur, daß der bald wieder zurück war.

Im Büro setzte sich Lewis sogleich an die Schreibmaschine, um seinen Bericht zu tippen. Als er fertig war, las er ihn noch einmal durch und war mit sich zufrieden. Besonders die Beschreibung Westerbys war ihm gut gelungen, fand er.

In London geboren und aufgewachsen. Mittelgroß, achtet sehr auf sein Äußeres. Plustert sich, was seine Arbeit angeht, häufig etwas auf, bewahrt dagegen über sein Privatleben strengstes Stillschweigen. W. ist schwerhörig und neigt zum Blinzeln, letzteres kann damit zusammenhängen, daß er ständig eine Zigarette im Mundwinkel hat.